Das ist eine Passage aus dem Vorwort zu dem Buch „Corona und die Demokratie. Eine linke Kritik“ die Clemens Heni, Gerald Grueneklee und ich im Mai 2020 veröffentlichten. Man beachte das Datum. Diese Sätze wurden verfasst, als das öffentliche Leben in Deutschland stillstand, als Menschen vertrieben wurden, wenn sie im Park sassen, als Demonstrationen und Veranstaltungen nur unter strengster staatlicher Überwachung erlaubt, in der Regel aber verboten waren. Es war die Zeit, in der der der Notstand in Deutschland praktisch durchgesetzt war.
Gesundheit im Spätkapitalismus
Offiziell ging es um den Schutz vor einem Virus, dessen Gefährlichkeit niemand von uns bestritten hat. Doch wir hinterfragten, warum in einer spätkapitalistischen Gesellschaft, deren vornehmstes Ziel die Durchsetzung des kapitalistischen Gesamtinteresses ist, plötzlich den Eindruck erweckt wird, die Gesundheit der Bevölkerung wäre ihre oberste Maxime und selbst Linke widersprechen dem nicht. Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass ich mit dem verwendeten Begriff der kapitalistischen Verhältnisse keinen Haupt- und Nebenwiderspruchsdenken das Wort rede. In meinem Begriff der kapitalistischen Verhältnisse ist die rassistische und patriarchale Unterdrückung mit der kapitalistischen Ausbeutung verwoben.Gesundheit und Wohlbefinden der Menschen haben dort keine Priorität. Schliesslich leben wir in einer Gesellschaft, in der Autobahnen und -strassen noch immer im Wortsinne Vorfahrt haben, obwohl die gesundheitlichen Schäden durch den Autoverkehr wissenschaftlich bestens belegt sind. Wir konnten erfahren, dass, wenn es den Profitinteressen dient, gesundheitsgefährdende Chemikalie auf Äcker versprüht (Glyphosat etc.) oder verbaut (Asbest etc.) werden. Und nicht zu vergessen, die tägliche gesundheitsgefährdende Plackerei in den verschiedenen Lohnarbeitsverhältnissen, in denen die Menschen im Kapitalismus gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen.
Während wir heute im globalen Norden die Berg- und Hüttenwerke, die unzählige Opfer kostete, (wer nicht verschüttet wurde, starb früh an Staublunge), oft nur noch in den Museumsparks betrachten können, krepieren im globalen Süden viele Menschen weiterhin durch erbärmliche Arbeitsbedingungen, unter denen Waren hergestellt, die auch in den globalen Norden exportiert werden. Doch auch hier sind die Arbeitsbedingungen heute keineswegs weniger toxisch geworden. Der Mentor der Arbeiter*innengesundheitsbewegung Wolfgang Hien hat in mehreren Büchern darauf hingewiesen, dass heute im globalen Norden Menschen kaum mehr an Staublunge sterben, doch die Zahl der Menschen wächst, die an den Folgen des gesundheitsschädlichen Feinstaubs krank werden, auch eine Folge der Automobilgesellschaft. Zudem sind Burnout, Depressionen, Herz-Kreis-Erkrankungen, Diabetes etc. die Folge der modernen kapitalistischen Arbeitsbedingungen.
Die Reklame von der ach so schönen gesunden digitalen Arbeitswelt ist für die überwiegende Mehrheit der Beschäftigten nur Propaganda. Das sind nur einige Überlegungen zum Stichwort Gesundheit im Spätkapitalismus, die von der gesellschaftlichen Linken in die Diskussion gebracht werden hätte müssen. Dann hätte sich schnell die Frage gestellt, warum ab März 2020 im Namen der Gesundheit von den ideologischen und repressiven Staatsapparaten ein gesellschaftlicher Notstand auf allen Ebenen durchgesetzt wurde, wo wir doch wissen, dass genau diese Staatsapparate für die Aufrechterhaltung der auf allen Ebenen krankmachenden kapitalistischen Verhältnisse verantwortlich ist.
Eigentlich dürfte man erwarten können, dass die gesellschaftliche Linke mit diesem historischen Wissen, die staatliche Corona-Politik kritisch hinterfragt und die benannten Widersprüche politisiert. Doch diese Erwartung wurde schnell enttäuscht. Die kritisch Fragenden blieben in der Minderheit. Die gesellschaftliche Linke hat sie in der grossen Mehrheit nicht nur nicht unterstützt. Sie haben die kritisch Fragenden oft sogar bekämpft und selber in die rechte Ecke gestellt wurden.
Wenn die Linke staatstreu wird, gewinnt die Rechte
So trat das ein, was wir im Mai 2020 mit unseren Warnungen verhindern wollten. Die extreme Rechte bekam enormen Zulauf. Das zeigte sich schon bei den ersten Protesten gegen den Corona-Notstand. Als Ende März 2020 einige Menschen aus dem Kulturmilieu zu Spaziergängen mit Zollstock und Grundgesetz vor dem Theater Volksbühne auf dem Rosa Luxemburg Platz in Berlin aufgerufen haben, war die Situation noch offen. Wenn die gesellschaftliche Linke mit staats- und kapitalismuskritischen Inhalten den Raum gefüllt hätte, wäre das womöglich ein Beitrag zu einer Rekonstruktion der gesellschaftlichen Linken gewesen.Das Adjektiv zeigt, dass es dabei nicht um eine Partei geht. Doch diese gesellschaftliche Linke war zunächst in Schockstarre verfallen. Als dann 2021 einige unter Antifa-Fahnen mit der Parole „Wir impfen Euch alle“ auf die Strasse gingen, wurden sie zum Sargnagel für eine gesellschaftliche Linke. Damit soll ausdrücklich nicht gesagt werden, „die Antifa“ hätte diese übergriffige Parole gerufen. Nein, „die Antifa“ gibt es nicht und es gab damals viele Antifa-Gruppen, die sich von dieser Parole distanziert haben. Aber darüber wurde wenig berichtet.
Linke Positionen gegen Staatsautoritarismus vergessen
Überhaupt ist heute weitgehend vergessen, dass es in Teilen der gesellschaftlichen Linken zumindest Ansätze einer kritischen Position zum Staatsautoritarismus gab. Ich erinnere nur exemplarisch an eine Demonstration in Berlin im Sommer 2021, auf der dagegen protestiert wurde, dass Parks im Corona-Notstand nicht betreten werden durften, während die Menschen weiterhin ihrer Lohnarbeit nachgehen mussten. Zudem gab es vor allen in den ersten Wochen des Corona-Notstands einen Aufschwung an nachbarschaftlichen Solidaritätsnetzwerken, die unter der Parole „Lasst niemand allein zurück“ ausdrücklich alle Menschen einschloss, unabhängig vom Pass und von der Herkunft.Für kurze Zeit standen Menschen im Mittelpunkt, die wenig Geld, die obdach- oder wohnungslos waren. Es war richtig zu fragen, was in Zeiten, in denen Stay at Home die Devise war, die Menschen machen sollten, deren zu Hause die Strasse ist, weil sie keine Wohnung haben. Zu dem Band „Corona und die Demokratie. Eine linke Kritik“ hatte Matthias Coers ein Foto beigesteuert, auf der die Parole „Stay at Home“ als leuchtendes Laufband auf einem Luxusneubau am Berliner Spreeufer zu sehen ist. Ein Grossteil der Etagen stehen leer. Da wäre es auch die naheliegende Frage, warum sollen nicht die Wohnungslosen, die unter einer nahegelegenen Brücke nächtigen mussten, dort einziehen. Diese Frage bleibt auch heute weiterhin aktuell. Denn die Armen, die Obdach- und Wohnungslosen sind längst wieder vergessen. Statt mit Solidarität sind sie mit Ausgrenzung und Stigmatisierung konfrontiert. Dabei hätte genau hier der Ansatzpunkt für eine Praxis gelegen, die die gesellschaftliche Linke auch über die Zeiten der Pandemie hinaus gestärkt hätte.
Stattdessen wurde die gesellschaftliche Linke in jener Zeit oft als eine Stimme wahrgenommen, die die Staatsapparate noch an Rigorismus übertraf, was die Durchsetzung der autoritären Massnahmen betraf. Ihre sozialen Forderungen wurden dann oft gar nicht mehr registriert. So fiel die gesellschaftliche Linke als Kraft der Opposition weitgehend aus. Aber auch die Bereitschaft, andere Positionen überhaupt nur zu diskutieren, war bei grossen Teilen der gesellschaftlichen Linken kaum vorhanden. Etiketten wie Coronaleugner*innen wurden freigiebig vergeben. Auch linke Kritiker*innen der Corona-Massnahmen waren davon nicht ausgenommen.
Kafka in Hamburg
Selbst Medien wie die Monatszeitung Konkret, die sich seit Ende der 1989er Jahre mit ihren Texten gegen die deutschen Zustände Verdienste erworben hat, fiel in Zeiten des Corona-Notstands als kritische Stimme weitgehend aus. Autor*innen, die die autoritäre Staatspolitik in Zeiten der Pandemie in den historischen Kontext von Notstandsgesetzen und Selbstgleichschaltung linker Opposition stellten, erhielten in der Konkret keine Möglichkeit, ihre Positionen zu veröffentlichen und zur Diskussion zu stellen. Davon war auch der Autor dieses Textes betroffen, der seit Mitte der 1990er Jahre in unregelmässigen Abständen in der Konkret Texte zu unterschiedlichen Themen veröffentlicht hatte.Der letzte Beitrag ist in der Märzausgabe 2020 unter der Überschrift „Kafka in Leipzig“ über das Verbot der linken Internatsplattform Indymedia erschienen. Was dann folgte, könnte man auch als Kafka in Hamburg auf einen Begriff bringen. Textangebote wurden nicht mehr beantwortet. Als ich mich dann telefonisch nach den Gründen erkundigte, erklärte der Konkret-Sitzredakteur Kai Sokolowsky barsch, man werde nichts mehr von mir abdrucken und müsse mir auch keine Gründe dafür nennen. Eine bezeichnende Episode über Corona und die linke Kritik(un)fähigkeit, bei einem Magazin, das eigentlich für die Kritik der deutschen Zustände bekannt war. Dass Sokolowsky einem Kollegen die fast 20-jährige Zusammenarbeit auf diese Weise aufkündigte, ohne auch nur einen Grund zu nennen, war ihm selber peinlich.
Das zumindest war ihm noch zu entlocken, bevor er auflegte. Dass scheint durchaus glaubwürdig, wenn man seine Texte kennt, die die deutschen Zustände immer wieder gekonnt angreifen und dazu gehört natürlich auch die Kritik an einer deutschen Linken, die oft Teil des Problems ist. Umso peinlicher für die Konkret-Redaktion, dass sie in der Corona-Frage eben nicht kritikfähig und damit selber eil des Problems war. Dabei wäre gerade in Zeiten, wo die deutschen Verhältnisse ins offen Autoritäre gekippt sind und fast alle mitgemacht haben, ein Forum notwendig gewesen, dass sich auch dem Mitmachen zumindest auf publizistischer Ebene verweigert.
Das kann man von den Sozialdemokrat*innen aller Couleur ebenso wenig erwarten, wie von den Olivgrünen, den Bürokrat*innen in den Gewerkschaften und NGOs, die sich ihren Platz in den deutschen Verhältnissen warmhalten wollen. Von einem Magazin wie Konkret, das gegen diese Zustände angeschrieben hat, hätte man aber erwarten können, dass sie diese linke Kritik emöglicht. Das war auch die Erwartung nicht weniger Leser*innen, wie sich an den abgedruckten Briefen zeigte. Damit waren Möglichkeiten der linken Kritik und der Diskussion für Menschen versperrt, die auch unter Corona die deutschen Zustände angreifen wollten. Das hatte die Folgen, vor denen die Autoren des Buches schon im Mai 2020 gewarnt hatten.
Irrationalismus statt linke Kritik
Statt mit linken kapitalismus- und nationskritischen Themen wurden ab Frühjahr 2020 die Plätze mit irrationalistischen und zunehmend offen rechten und antisemitischen Inhalten geflutet. Davon profitierten nicht nur die ausserparlamentarischen sondern auch die parteipolitischen Rechten. Die AFD bekam dadurch ihren Auftrieb und zeitweise auch das BSW, eine rechte migrationsfeindliche Abspaltung der LINKEN, deren Namensgeberin sich kritisch zu den Impfungen äusserte. Das zeigt, dass die Etikettierung aller Kritiker*innen des Coronanotstand als Coronaleugner*innen ein grosser Sargnagel für die gesellschaftliche Linke war, der parlamentarischen wie der ausserparlamentarischen.Kapitalismus ist das Problem
Wenn wir über die deutschen Grenzen sehen, können wir feststellen, dass nicht überall die gesellschaftliche Linke diese Fehler gemacht hat. In Italien und Frankreich gab es in den Jahren 2020-2022 Kämpfe und Streiks gegen die Versuche, die Impfpflicht einzuführen. Auch dabei ging es nie darum, die Gefährlichkeit des Virus zu leugnen. Es wäre natürlich absurd, eine Krankheit leugnen zu wollen. Gerade Arbeiter*innen wissen sehr gut, dass sie um ihre Gesundheit gegen die Profitinteressen des Kapitals kämpfen müssen. Dazu hat der schon erwähnte Wolfgang Hien in seinen Rückblick auf die Arbeiter*innengesundheitsbewegung wichtiges historisches Wissen geliefert.Eine linke Positionierung aber wäre es gewesen, Krankheit und Gesundheit im Kapitalismus in den Fokus zu rücken. Dazu hätte natürlich auch gehört, schlechte Arbeitsbedingungen, Stress am Arbeitsplatz als wichtige Ursache von Krankheiten klar zu benennen. Dann wäre deutlich geworden, Leben und Überleben im Kapitalismus macht immer krank und es ist dieser Normalzustand, der zu bekämpfen ist. Dazu hätte auch eine dialektische Positionierung zu Impfungen gehört. Natürlich gibt es viele Beispiele in der Geschichte, wo Impfkampagnen dazu beigetragen haben, dass die Menschen nicht mehr an gefährlichen Krankheiten sterben müssen. Diese Impfkampagnen waren oft mit gesellschaftlichen Aufbrüchen in den jeweiligen Ländern begleitet und kombiniert mit grundlegenden Sozialreformen. Das geschah in der frühen Sowjetunion oder nach der Revolution in Kuba und Nicaragua, um nur einige Beispiele zu nennen.
Diese Impfkampagnen wurden von einer grossen Mehrheit der armen Bevölkerung aktiv unterstützt und von Rechten und Klerikalen bekämpft. Daher wäre es in der Tat reaktionär, generell gegen Impfungen zu sein. Doch die Impfskepsis grosser Teile der Bevölkerung im Corona-Notstand rührte auch daher, weil die Impfungen eben nicht ein Teil eines gesellschaftlichen Aufbruchs sondern Teil autoritärer Staatspolitik waren. Darum ist auch die Impfung gegen Corona nicht generell abzulehnen. Abzulehnen ist aber die autoritäre Politik ihrer Durchsetzung. Der bekannte Soziologe Joachim Hirsch hat es auf den Punkt gebracht: Die Linke hatte ihre eigenen Instrumente vergessen und das sind Staats- und Kapitalismuskritik, aber auch dialektisches Denken. Damit wurde nicht nur der Rechten das Feld überlassen.