Begeisterung für neue Medien und politische Propaganda Carlo Mierendorff: Publizist, Sozialwissenschaftler und Politiker (SPD) aus Südhessen

Politik

M. war Schüler des humanistischen Ludwig-Georgs-Gymnasiums in Darmstadt. Er hatte hessisch-thüringisch-sächsischen Vorfahren (Schnapsbrenner, Gastwirte, Ärzte, Pfarrer).

Carlo Mierendorff (eigentlich Carl; * 24. März 1897 in Grossenhain; † 4. Dezember 1943 in Leipzig) deutscher Politiker (S).
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Carlo Mierendorff (eigentlich Carl; * 24. März 1897 in Grossenhain; † 4. Dezember 1943 in Leipzig) deutscher Politiker (S). Foto: unbekannt (PD)

29. November 2019
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M. erhielt sein Abitur als 17-jähriger und wurde im August 1914 Kriegsfreiwilliger. lm Feld Artillerist, zuletzt Vizefeldwebel: Tapferkeitsauszeichnungen, Verwundungen, Lazarett. Dauerhafte Hörschädigungen (auf einem Ohr taub).

Expressionistische Erzählungen, die seit 1917 in kleinen Auflagen in der Schillerzeitschrift DIE DACHSTUBE (1916-1918) erscheinen. Mit Kriegsende und Zusammenbruch des Kaiserreichs - die Generäle blieben - Student der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und politischer Publizist. Herausgeber der spätexpressionistischen Zeitschrift "Das Tribunal": M. will die Welt "aushebeln" und fordert "FREUNDE, GREIFT EIN!"

Nach Eintritt in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands 1920 studentenpolitisches Engagement. Auseinandersetzungen mit dem rechtsextremen Physik-Professor Philipp Lenard nach der Ermordung des vernunft-republikanischen Verständigungspolitikers Walther Rathenau 1922. Nach sechs Studiensemestern in München (u.a. bei Max Weber) und Heidelberg (u.a. bei Emil Lederer) Abschluss in Heidelberg als Dr. phil. mit einer Studie zur KPD-Wirtschaftspolitik. Ab 1923 'Rekrut' der deutschen Arbeiterbewegung als gewerkschaftlicher Referent. Redakteur einer SPD-Tageszeitung in der südhessischen Provinz seiner Heimatstadt Darmstadt. Sekretär der SPD-Reichstagsfraktion. Pressesprecher Wilhelm Leuschners im lnnenministerium des Volksstaates Hessen.

lm Sommer 1930 veröffentlicht M. seine bahnbrechende politik- und wahlsoziologische Studie zur Dynamik des Nationalsozialismus als faschistischer Massenbewegung. In der ,Erdrutschwahl' am 14. September 1930, aus der die NSDAP mit 107 Abgeordneten als stärkste Faktion im Deutschen Reichstag hervorgeht, wird M. 33-jährig - in den Deutschen Reichstag gewählt (MdR). Dort versucht M. als "Weltkriegsteilnehmer" im Februar 1931 in einer historischen Parlamentsrede, seinen ehemaligen Heidelberger Kommilitonen, NS-Reichspropagandaleiter MdR Joseph Goebbels, als "Vaterlandsverräter" im Ersten Weltkrieg zu stellen.

Den Abwehrkampf gegen den zur Staatsmacht drängenden faschistischen Nationalsozialismus der Hitler-Bewegung führt M., gemeinsam mit dem exilrussischen Professor Sergej Tschachotin, offensiv und militant: Jugend, Frauen und Nichtwähler sollen für Demokratie und Sozialismus gewonnen werden, auch mit Hilfe aktiver Propaganda und dem neuen Symbolkampf der 'Drei Pfeile' gegen Hakenkreuz und Sowjetstern.

Die verhassten Anderen siegen und rächen sich an M., der nicht emigrieren will, sondern im Mai 1933 aus der sicheren Schweiz, in die er vor der ersten 'wilden' Terrorwelle des zur Staatsmacht gekommenen Nationalsozialismus geflohen war, zurückkehrt. Mitte Juni wird der sich im Untergrund bewegende M. in Frankfurt/Main erkannt, festgenommen und erfährt eine fünf Jahre lange politische Gefangenschaft in NS-Konzentrationslagern: Osthofen, Börgermoor, Lichtenburg und Buchenwald kann M. überleben. Im antifaschistischen deutsch(sprachig)en Exil wird 1934/35 eine publizistische Campagne auch zur Freilassung von M. versucht ("Freilassung von Mierendorff, Thälmann und aller politischen Gefangenen"). Parallel dazu soll M.'s KZ-Entlassung durch seine Berufung als Soziologieprofessor an die New School for Social Research in New York erfolgen. Aber auch diese Initiative blieb erfolglos. Schliesslich wird M. Anfang 1938 unerwartet freigelassen.

Ab Herbst 1938 soll M. unter geheimpolizeilicher Beobachtung durch die Gestapo als freier Schriftsteller eine 'bürgerliche' Existenz begründen und sich im NS-Staat einrichten. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs erfolgt M.s Anstellung in der Rüstungswirtschaft als Sozialreferent der BRABAG AG. Nun erscheint die geheimpolizeiliche Kontrolle geringer, werden die politischen Handlungsmöglichkeiten im Untergrund grösser: M. trifft alte SPD-Genossen und lernt neue Gefährten im "Kreisauer Kreis", der sogenannten 'Grafengruppe' von NS-Gegnern, kennen und eine Doppelexistenz leben: lm Untergrund Verbindungen knüpfen, den Sturz der verhassten Nazis vorbereiten und eine politische Perspektive fürs Danach entwerfen.

Der Programmaufruf zur "Sozialistischen Aktion" aus dem Sommer 1943 gilt als M.'s politisches Vermächtnis. Nun drängt M. immer stärker aufs politische Attentat gegen die NS-Viererbande der Hitler, Göring, Himmler und Goebbels. Anfang 1943 wird M. Opfer eines US-amerikanischen Luftangriffs auf Leipzig: "Eine Todesanzeige, aus der hervorgeht, das Dr. Carl Mierendorff während des grossen Luftangriffs auf Leipzig im letzten Monat getötet wurde, ist in der 'Deutschen Allgemeinen Zeitung' erschienen. Sie ist von zwei seiner engsten Freunde unterzeichnet. Es tut mir leid, dass wir Mierendorff — anstatt ihn zu befreien - töten mussten." (Kingsley Martin: The New Statesman & Nation [London], January 15, 1944). Und in einem in der Schweiz erschienenen Nachruf hiess es: "Dem deutschen Volk wird dieser Mann fehlen. Er wäre berufen gewesen, führend am Aufbau einer freiheitlichen Demokratie mitzuwirken. Denn er verkörperte den Gedanken der sozialistischen Gerechtigkeit und der menschlichen Würde." (Josef Halperin: Volksrecht [Zürich], 14. Februar 1944).

M. engagierte sich, gemeinsam mit seinen Freunden Theodor Haubach und Carl Zuckmayer, seit 1919 für eine Versöhnung mit dem historischen "Erbfeind" Frankreich, übersetzte zeitgenössische Autoren aus dem Französischen für seine Zeitschrift “Das Tribunal" und unterstützte Kurt Hillers Initiative eines "Rats Geistiger Arbeiter". M. interessierte sich für neue Medien und politische Propaganda und galt als mitreissender öffentlicher und Debattenredner, der auch bereit und in der Lage war, in Versammlungen des politischen Gegners aufzutreten.

Dabei scheute sich M. auch nicht vor Losungen, die die politischen Führer des Nationalsozialismus persönlich treffen und verächtlich machen sollten ("Schlagt Hitler den Gendarmen / Und Hauptmann Röhm den Warmen"). Innerhalb der 'Weimarer' SPD galt M. als "junger Rechter" und einer der wenigen Intellektuellen, der als Sozialwissenschaftler politische Prozesse selbständig und folgerichtig analysieren konnte. Als SPD-Politiker wollte M. nicht nur die 'Weimarer Republik' erhalten, sondern diese, in Anlehnung an politikwissenschaftliche Vorstellungen seines akademischen Lehrers und politischen Förderers Emil Lederer, zur 'sozialen' Demokratie weiterentwickeln: "Nur in der Demokratie kann sich die Massenkraft der organisierten Arbeiterschaft wirtschaftlich und politisch frei entfalten und dadurch den Kapitalismus [...] überwinden. Die Arbeiterklasse hat daher ein Lebensinteresse [...] am planmässigen Ausbau des deutschen Staates zu einer sozialen, demokratischen Republik" (1922).

Carl Zuckmayer hat in seiner Rückschau (1966) selbstkritisch bekannt, auch er hatte, im Gegensatz zu seinem Freund M., die Bedeutung der NS-Bedrohung für Menschenrechte, Demokratie und Frieden "zu spät" erkannt und "zu wenig" dagegen unternommen. In Berlin, der Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland, gibt es im Stadtteil Charlottenburg den zentral gelegenen Mierendorffplatz (auch U-Bahnstation) wie ebendort eine Carlo-Mierendorff-Strasse. Darüber hinaus gibt es nach M. benannte Strassen u.a. in Bensheim, Bielefeld, Darmstadt, Erbach (im Odenwald), Frankfurt am Main, Giessen, Griesheim, Gross-Umstadt, Hildesheim, Leipzig, Leverkusen, Lübeck, Münster, Nauheim, Osthofen, Treburg, Weinheim und Worms. Schliesslich sind, mit regionalem Schwerpunkt im Südwesten, in Deutschland nach M. auch Schulen benannt. M.'s Politikansatz ist in der (alten) Bundesrepublik Deutschland vom Begründer der 'Marburger Schule' der wissenschaftlichen Politik, Wolfgang Abendroth, rezipiert und systematisiert worden (vgl. Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie. Aufsätze zur politischen Soziologie, 1966).

Richard Albrecht

Kurze Nachschrift des Autors

Diese Kurzerinnerung an Carlo Mff. erschien gedruckt im BioBibliographischen Kirchenlexikon (BBKL), herausgegeben von Traugott Bautz, XXXI Jg. 2010: 894-898; ein längeres, zahlreich gedrucktes und im öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Alt-BRD gesendetes Porträt dieses ´militanten Sozialdemokraten´ steht zur kostenlosen Lektüre hier im Netz -> https://www.grin.com/document/80628 und Carlo Mff. gilt in der ganzdeutschen Nochpartei, der SPD, nicht als politikgeschichtlich relevante Person -> https://www.spd.de/partei/personen/groessen-der-sozialdemokratie/ - was vielleicht auch nur gut so ist.

Werke

Die Erlösung (1916); Der Gnom (1917; Neudruck 1980); Pioppis Sonntagnachmittag (1918);
Lothringer Herbst (1918), Das Tribunal (1919/21, Hrsg.; Nachdruck 1969); Hatte ich das Kinoll (1920);
Arisches Kaisertum oder Juden-Republik (1922; Neuedition in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 3/2004);
Die Wirtschaftspolitik der Kommunistischen Partei Deutschlands (Phil. Diss. 1922); [et.al.] Das Dawes-Gutachten (1924);
Gesicht und Charakter der nationalsozialistischen Bewegung (in: Die Gesellschaft 6/1930); Kampf dem Hakenkreuz (1930 [Pseudonym Adolf Schlucks]); [mit Sergei Tschachotin] Grundlagen und Formen der politischen Propaganda (1932); Carl Michael Bellman, Bacchanal im Grünen. Ein Lustgartlein für Liebende und Zecher (1941, Hrsg. [Pseudonym Dr. Carl Willmer]).
Lit.: In memoriam Carlo Mierendorff (1947; Neudruck 1980); - Carl Zuckmayer, Carlo Mierendorff. Porträt eines deutschen Sozialisten (1947);
Als war's ein Stück von mir. Horen der Freundschaft (1966); - Gervan Roon, Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung (1967); - ders., Widerstand im Dritten Reich. Ein Überblick (4. Auflage 1987);
Richard Albrecht, Konzept für ein neues Deutschland: Carlo Mierendorffs Programmentwurf 1943, in: Tribüne, 91/1984; - ders., Persönliche Freundschaft und politisches Engagement: Carl Zuckmayer und Erich Maria Remarque; in: Blätter der Carl-Zuckmayer-Gesellschaft 2/1984; ders., Der "Fall" Lenard-Mierendorff 1922/23; in: Ruperto Carola 74/1986; - ders., 'Symbolkrieg' in Deutschland 1932 (1986);
ders., Der Rhetor Carlo Mierendorff; in: Diskussion Deutsch, 96/1987; Neuauflage 2007: http://www.hausarbeiten.de/faecher/vorschau/80628.html; - ders., Das geschenkte Leben des Carlo Mierendorff: Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Krieg, Deutschlandfunk Köln 20.7.1987; - ders., Der militante Sozialdemokrat. Carlo Mierendorff 1897 bis 1943 (1987; Verfilmung 1997 durch Alfred Jungraithmayr: Deckname Dr. Friedrich: Carlo Mierendorff - ein Leben auf Zeit); "Freunde - greift ein!"
Carlo Mierendorff (1897-1943); in: Zeitgeschichte, 1-2/1992; Neuauflage 2007: http://www.hausarbeiten.de/faecher/vorschau/80628.html
Die Deutsche Nationalbibliothek (dnb) verzeichnet ausser der von M. herausgegebenen Zeitschrift "Das Tribunal" (1919/21; Nachdruck 1969) sieben selbständige Veröffentlichungen von Carlo Mierendorff: http://d-nb.info/gnd/118582283.