Sexismuskritik sells Wedding: Das „viertcoolste“ Stadtviertel der Welt

Politik

Vor gut einem halben Jahr, es war die Nacht zum 8. März, zogen wir durch die menschenleeren Strassen im Wedding, um uns zur Feier des Tages einen Teil des öffentlichen Raums anzueignen.

Strassenschild der Lüderitzstrasse in Berlin-Wedding (Afrikanisches Viertel), benannt nach Adolf Lüderitz (1834-1886).
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Strassenschild der Lüderitzstrasse in Berlin-Wedding (Afrikanisches Viertel), benannt nach Adolf Lüderitz (1834-1886). Foto: Chrischerf (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

1. November 2019
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Wir sind eine Gruppe organisierter Frauen aus dem Wedding, die anlässlich des Frauenstreiks verschiedene Aktionen in ihrem Kiez durchgeführt haben. Eine davon die Umbenennung von Strassennamen.

Es gibt knapp 10.000 Strassen in Berlin. 90 % der nach Personen benannten Strassen tragen männliche Namen. In anderen Städten sieht das Verhältnis genauso aus. Keiner dieser Namen ist zufällig gewählt, die Strassenbenennung ist eine Würdigung und ein unübersehbares Gedenken an diese Person. Gedacht wird allerdings fast ausschliesslich Männern, darunter auch so besondere Schätze wie Axel Holst, ein SS-Sturmführer oder Adolf Lüderitz, ein Kolonialherr. Gleichzeitig werden Frauen in der Geschichte und im öffentlichen Raum systematisch unsichtbar gemacht, obwohl es zahlreiche tatsächlich verdienstvolle Frauen gibt.

Anlässlich des Frauenstreiks in Berlin haben wir mehrere Strassen, die jeweils einen Mann würdigen, umbenannt. Wahlweise in Elise-Hampel-Strasse, Stephanie-Hüllenhagen-Weg oder auch Luise-Kraushaar-Allee. Sie alle waren NS-Widerstandskämpferinnen, die zum Teil auch im Wedding gelebt haben. An jedes Strassenschild befestigten wir ausserdem einen Steckbrief zur Person und der Erklärung, warum diese Strasse nun einen Frauennamen trägt. Die Müllerstrasse, die so etwas wie die Hauptstrasse im Wedding ist, benannten wir ausserdem in „Müllerinnenstrasse“ um.

Mit der einsetzenden Morgendämmerung fielen wir zufrieden in unsere Betten. Die Aktion war geglückt. Das böse Erwachen kam dann einige Monate später in Form eines Grossflächenplakats, prominent platziert auf dem Mittelstreifen der Müllerstrasse. Auf ca. 2×3 Metern war da ein Foto der von uns umbenannten „Müllerinnenstrasse“ zu sehen. Unsere Kritik war plötzlich Teil einer Kampagne der StandortGemeinschaft Müllerstrasse e.V., gefördert vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat sowie der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen. Kannste dir nicht ausdenken.

Nun ist es sicherlich kein neues Phänomen, dass Systemkritik verwertbar und warenförmig gemacht wird. Auffällig ist aber, dass man sich derzeit besonders gern mit feministischen Attitüden schmückt. Sexismuskritik sells. Da werden im Sweathsop produzierte Shirts mit frechen feministischen Sprüchen verkauft, einer der bekanntesten Hersteller für Rasierer ruft zur „Selflove-Challenge“ auf, weil Frauen sich doch so mögen sollen wie sie sind (nur bitte ohne Haare unter den Achseln!) und „Problemkieze“ bekommen mit gegenderten Strassenschildern ein hippes Image, um sie attraktiver für Investor*innen zu machen. Feminismus wird zur erfolgreichen Marketingstrategie.

Im Wedding taucht das Plakat ausserdem zu einem Zeitpunkt auf, an dem der Gentrifizierungsprozess so richtig an Fahrt gewinnt. Das internationale „Time Out Magazine“ erklärte jüngst den Wedding zum „viertcoolsten“ Stadtviertel der Welt und beschreibt den Kiez wie folgt: „This neighbourhood in north-west Berlin feels warm and inviting, with street markets and sprawling public parks frequented by young families and long-time residents alike. Striking Weimar-era architecture contrasts with the harsh lines of former factories – a hangover from Wedding's history as a working-class district in West Berlin“. Dazu ein Titelbild, das ausschliesslich weisse, adrett gekleidete Menschen zeigt, die gemütlich im Nordhafenpark sitzen. Man könnte lachen, wenn es nicht so traurig wäre.

Vor ein paar Tagen hat dann noch das Projekt Mietenwatch seine Studie veröffentlicht, bei der 80.000 Wohnungsangebote in 477 Kiezen in Berlin ausgewertet wurden. Das Ergebnis? Es gibt kaum noch bezahlbaren Wohnraum. Bezahlbar bzw. als „leistbar“ gelten Wohnungen, deren Gesamtmiete 30 % des Netto-Haushaltseinkommens nicht übersteigt. Für Haushalte mit niedrigem Einkommen sind Mieten aber bereits in dieser Höhe mit erheblichen Lebensqualitätseinschränkungen verbunden. Und damit hat Berlin gleich noch einen weiteren Weltlistenplatz belegt: Laut des „Global Residential Cities Index“ sind die Immobilienpreise in Berlin zwischen 2016 und 2017 um 20,5 Prozent gestiegen. Damit liegt die Stadt beim Preisansteig von Immobilien weltweit auf Platz eins. Glückwunsch.

Die Studie von Mietenwatch zeigt ausserdem, dass der Verdrängungsdruck im Wedding am höchsten ist. Ob Humboldthain, Reinickendorfer Strasse, Leopoldplatz oder Soldiner Strasse – für Vermieter*innen ist es hier besonders lukrativ Altmieter*innen loszuwerden und die Wohnung danach teurer weiterzuvermieten. Ja, der Wedding kommt. Was lange Zeit ein Running Gag war, scheint nun bittere Realität zu werden. Die meisten von uns haben das bereits am eigenen Leib zu spüren bekommen und nervenzehrende Auseinandersetzungen mit der eigenen Hausverwaltung hinter sich oder stecken mitten drin.

Doch auch wenn all diese Dinge eine enormes Frustrationspotential bieten, wir werden weder die kapitalistische Ausschlachtung feministischer Kämpfe noch die Verdrängung aus unseren Kiezen akzeptieren. Gemeinsam kämpfen wir gegen den Ausverkauf der Stadt und unserer Kieze. Ob in Berlin oder anderswo: Der Aufbau von Gegenmacht hat gerade erst begonnen.

lcm

# Die Autorin Ella Papaver lebt in Berlin-Wedding und ist organisiert in der Kiezkommune Wedding