Berlin: Endlich wieder öffentliche Solidaritätskundgebung für Palästina From the river to the sea

Politik
Demobericht und offener Brief an die Berliner Polizei und Staatsanwaltschaft betreffend der Palästina Solidaritätskundgebung am 21. Oktober 2023 in Berlin auf dem Oranienplatz.
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Pro-Palästina Demonstration am 12. November 2023 in Columbus, USA. Foto: Becker1999 (CC-BY 2.0 cropped)

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Zu Beginn sagte unsere verantwortliche Person an, was wir, wie mit der Berliner Polizei vereinbart, durften und was nicht.
Wir durften keine Fahnen schwenken, ausser – grossartig - der palästinensischen, was uns sehr recht war. Wir durften, auch damit waren wir einverstanden: „Free Palestine!“, „Free Gaza!“ rufen und „Stop the Genocide“. Immerhin. Ausserdem: „Hoch die internationale Solidarität!“. Ein bisschen fad war's schon. Nur drei, vier Slogans und kein Raum für Spontaneität. Bei früheren Demos, damals vor über zwei Jahren, hatten wir uns selbst überrascht und die Passant*innen am Strassenrand ebenso mit dem, was uns alles so einfiel, während wir liefen. Und wir hatten jede Menge selbstgebastelter Pappschilder hochgehalten, gemalte Transparente getragen, aber sowas vorzubereiten, dafür fehlte diesmal die Zeit.
Dennoch, wir waren gehobener Stimmung trotz dessen, was uns zur Verzweiflung trieb und treibt. Doch endlich durften wir wieder zusammen durch die Kreuzberger Strassen und bis nach Neukölln laufen: palästinensische Familien, italienische Lesben, Frauen mit Hijab, libanesische Künstler*innen, ukrainische Aktivist*innen, Syrer*innen mit ihrer Erfahrung der syrischen Revolution, Jüdinnen und Juden, tunesische Studierende, israelische Berliner*innen, Sudanes*innen, Ir*innen … Dann passierte es: Irgendjemand wedelte leichtfertig mit einer Regenbogenfahne rum und verletzte damit die Auflage: nur Palästina-Fahnen! Der Demonstrationszug kam zum Stillstand, da vorne gab's einen Pulk von Demonstrant*innen und Polizist*innen, fast ein Gerangel … Und ganz schnell sprach es sich herum: Lasst euch nicht provozieren! Es ist eigentlich nur witzig, sehr witzig, dass die Berliner Polizei ausgerechnet die Regenbogenfahne inkriminiert.
Weiter ging's, unbeirrt. Mit Kopfschütteln, grinsendem Einverständnis. Und wir schwenkten weiter unsere erlaubten Fahnen und riefen unsere erlaubten Slogans. Doch dann – die echte Katastrophe: Jemand liess sich dazu hinreissen zu rufen: „From the river to the sea, Palestine will be free!“ In aller Unschuld, selbstverständich. Denn in der Welt da draussen – ja, die gibt's liebe deutsche Mitmenschen – wird dieser Slogan seit Jahrzehnten gerufen und zumeist nicht als anstössig empfunden; denn wie wir alle wissen, hat er eine ganz andere, geradezu konträre Message zu der, die ihm die Hamas unterlegt.i
Doch die uns begleitende Polizei sah sich gezwungen, unseren Lauti fürs erste aus dem Demoverkehr zu ziehen. Nunmehr konnten also unsere Verantwortlichen nicht mehr dafür sorgen, dass sich alle Welt an die Auflagen hielt. Oder auch, dass sich keine Rechten oder Antisemit*innen womöglich einreihten – aber Letzteres ist bei unseren Demos eh keine Gefahr. Wir sind zu viele Ausländer*innen und bringen auch nicht das zum Ausdruck, was die Rechten gerne hören oder schreien. Schnell sprach sich rum: Macht nichts, wir lassen uns nicht provozieren, wir laufen weiter, rufen weiter, was wir rufen dürfen.
Ich hatte ein DIN-A-4-Blatt in einer Plastikhülle dabei, mit einem Bindfaden um den Hals gehängt. Darauf hatte ich hastig eine Gedicht-Zeile geschrieben, auf der einen Seite auf Deutsch, auf der anderen auf Englisch: „Auch wir lieben das Leben, wann immer wir zu ihm finden.“ Mahmoud Darwish. Eine junge Frau sah den Namen des Dichters und bat mich, ihr die Worte zu übersetzen. Daraufhin fragte ich sie, woher sie komme, während ich das Schild umdrehte. Sie las und brach in Tränen aus.
Wir umarmten uns. Wahrscheinlich werden wir uns nicht wiedersehen, die Libanesin und ich. Aber ich weiss, wir sind seither verbunden.
In den Tagen danach konnten wir der Presse entnehmen, warum Polizei und Staatsanwaltschaft den Slogan „From the river …“ii auf höhere Weisung inkriminiert hatten. Ehrlich gesagt, es ist uns nicht gelungen, die Begründung nachzuvollziehen, und irgendwie tun uns Berliner Polizei und Staatsanwaltschaft auch ein bisschen leid. Sie wirken leicht überfordert. Wir haben uns also mit einem freundlichen Schreiben an sie gewandt:
Liebe Berliner Polizei, liebe Berliner Staatsanwaltschaft,
Sie waren so freundlich, uns aufzuklären, doch wir haben noch nicht alles verstanden, vielleicht weil die meisten von uns noch nicht so lange in dieser Stadt und diesem Land leben, das multikulturelle und weltoffene Berlin aber sehr mögen.
FROM THE RIVER TO THE SEA, PALESTINE WILL BE FREE! Das ist also in Berlin eine verbotene Parole, sie zu rufen ist strafbar, so haben wir erfahren; denn (so Ihre Begründung):
"Angesichts der Terrorangriffe auf Israel" müsse "gegen israelfeindliche Parolen von Palästinensergruppen vorgegangen werden" (mit "Palästinensergruppen" meinen Sie demnach uns alle: die Tausenden Israelis-Palästinenser*innen-Syrer*innen-Italiener*innen-Kashmiris-Iraner*innen-Sudanes*innen-ein paar Deutschen-Ir*innen-Marokkaner*innen-Inder*innen-Französinnen/Franzosen-Tunesier*innen ... also all jene, die die Parole riefen oder sie gerne gerufen hätten - als aufgrund dessen am 21.10. unser Lauti konfisziert wurde. Wir fühlen uns verstanden und geehrt: Wir sind also in ihren Augen alle Palästinenser*innen.)
FROM THE RIVER TO THE SEA, PALESTINE WILL BE FREE, ist verboten, weil, so Ihre Begründung verehrte Polizei und Staatsanwaltschaft, diese Parole besage:
"... es solle ein freies Palästina geben auf einem Gebiet vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer..."
Wir möchten Ihnen ausdrücklich herzlich danken für diese zutreffende Deutung der Parole sowie auch für Ihre Einsicht, die Sie unmittelbar darauf kundtun, nämlich: "...vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer - da wo sich jetzt Israel befindet."
Richtig, sehr verehrte Polizei, hoch geschätzte Staatsanwaltschaft, genau so sehen wir das auch: Das gesamte Gebiet vom Jordan bis zum Mittelmeer ist unter israelischer Kontrolle (einschliesslich der Grenzen zu den Nachbarstaaten), weil zu wesentlichen Teilen von Israel völkerrechtswidrig besetzt, wobei die palästinensische Bevölkerung unter dieser illegalen Besatzung massivem staatlichem Terror, Willkür und militärischer Gewalt ausgesetzt ist.
Nachdem Sie die Verhältnisse derart überzeugend umrissen haben, fällt es uns allerdings schwer, nachzuvollziehen, warum Sie dennoch den Slogan FROM THE RIVER TO THE SEA, PALESTINE WILL BE FREE verbieten. Wir sind zuversichtlich, dass Ihre weiteren Ausführungen diesbezüglich erhellend sind (wobei wir leider durch Ihre Beobachtung kurz abgelenkt werden, die Sie an dieser Stelle anführen, "entsprechende Landkarten" zeigten "bei Demonstrationen das Gebiet ganz in Grün, der Farbe des Islam" – ist uns noch nicht aufgefallen, aber danke für diesen Hinweis. Wir werden in Zukunft bei Demos auf die Vermeidung der Farbe Grün achten, z.B. bei der Wahl unserer Kleidung oder bei der Gestaltung von Demo props), doch nun zurück zum Wesentlichen:)
Sie fahren fort:
FROM THE RIVER TO THE SEA, PALESTINE WILL BE FREE sei "bedrohlich für das Existenzrecht Israels"; denn, "...was gegen 'nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppen zum Hass aufstachelt' (§130, Strafgesetzbuch, Volksverhetzung)" werde bestraft.
Auch da sind wir wiederum unbedingt mit Ihnen einverstanden, nicht nur, weil wir einem Paragraphen Rechnung tragen, sondern weil wir tief überzeugt sind von dem, was im §130 zum Ausdruck kommt.
Leider bleibt eine Frage für uns unbeantwortet: Was hat der §130 mit der Kritik an der Politik eines Staates, in diesem Fall Israels, zu tun? Wir wollen es ja nur verstehen, liebe Polizei und verehrte Staatsanwaltschaft: Israel bezeichnet sich, wie Sie sicher auch wissen, selbst als „die einzige Demokratie im Nahen Osten“. Und da ist ja durchaus was dran: Das israelische Parlament wird frei gewählt; (noch) besteht die Gewaltenteilung; (noch)iii gibt es eine einigermassen unabhängige Gerichtsbarkeit, es herrscht Meinungsfreiheit, die sich übrigens Israelis sehr viel unerschrockener nehmen als Deutsche.
Jedenfalls, Sie werden uns zustimmen, Israel ist konzipiert als Rechtsstaat, Demokratie (zumindest für seine jüdischen Bürger*innen), anerkannt als vollwertiges Mitglied der Staatengemeinschaft. Und ein solcher Staat, "Vorposten gegen die Barbarei" (wie Theodor Herzl, der Vordenker dieses Staates es formulierte), sollte sich in seiner Existenz bedroht fühlen durch die Forderung, sich an Internationales Recht und die Menschenrechte zu halten - from the river to the sea? D.h. selbstverständlich im ganzen unter seiner Kontrolle und Verantwortung stehenden Gebiet?
Vollends verwirrt sind wir angesichts des nächsten - pardon - Hoppsers in Ihrer Argumentation: Da verweisen Sie auf "andere Parolen", die schon lange verboten seien, "z.B. 'Tod den Juden!'" Ja, hoch verehrte Polizei und geschätzte Staatsanwaltschaft, glücklicherweise ist dergleichen verboten! Und ein solcher antisemitischer Dreck käme uns eh nicht über die Lippen, da können sie ganz beruhigt sein.
Nur - was hat diese widerwärtige Parole mit FROM THE RIVER TO THE SEA, PALESTINE WILL BE FREE, zu tun? Unserem Verständnis nach besagt letztere: Alle Menschen, die in diesem Gebiet zu Hause sind, sollten gleiche Rechte haben - somit frei sein, ihr Zusammenleben auf Augenhöhe auszuhandeln, gleichberechtigt miteinander zu gestalten. Was für ein schöner Traum! Eine Utopie, an der wir immer noch festhalten – wie nicht wenige Palästinenser*innen und Israelis.
Dafür gehen wir, Palästinenser*innen, Juden*Jüdinnen, Israelis und viele, viele andere zusammen auf die Strassen und Plätze dieser Welt - da wo Meinungsfreiheit garantiert ist, und rufen:
FROM THE RIVER TO THE SEA, PALESTINE WILL BE FREE
Und, liebe Mitarbeiter*innen von Polizei und Staatsanwaltschaft, wir verstehen durchaus, Sie können nicht immer auf der Höhe sein, was Verhältnisse, Ideen, Entwicklungen überall auf der Welt angeht. Daher folgender Tipp unsererseits: Es gibt schon lange eine Allianz zwischen Palästinenser*innen und Israelis, die eine solche gemeinsame Zukunft "from the river to the sea" anstreben. Hier ein paar Links dazu:
https://onestatecampaign.org/en/
http://www.plutobooks.com/9780745348339/one-state/
https://icahd.org/2023/10/12/your-choice-apartheid-genocide-or-one-democratic-state-for-all
Fussnoten:
i Tatsächlich wird auch z. B. in GB oder Frankreich dieser Slogan neuerdings problematisiert. Man weist darauf hin, dass ihn die Hamas vereinnahmt und im Sinne ihrer Ideologie umgedeutet hat. Das war lange (1980er Jahre), nachdem Martin Buber (bereits in den 20er Jahren) und andere über ein unbedingt anzustrebendes gleichberechtigtes Zusammenleben von Araber*innen und Jüdinnen/Juden zwischen Fluss und Meer nachgedacht hatten, und auch lange, nachdem linke palästinensische Parteien wie etwa die PFLP diese Idee in ihr Programm aufgenommen hatten. Die pervertierte Auslegung des Slogans entstand erst mit der durch Israel geförderten islamistischen Bewegung gegen die eher linke PLO.
ii Zum Beispiel: https://www.merkur.de/deutschland/berlin/the-river-to-the-sea-palaestina-parole-strafbar-from-zr-92575813.html
iii Zweimal „noch“: Bekanntlich haben viele Israelis in den letzten Monaten unermüdlich protestiert, weil sie diese Grundlagen von Rechtsstaat und Demokratie gefährdet sehen (neuerdings auch für die jüdischen Bürger*innen Israels).
i Tatsächlich wird auch z. B. in GB oder Frankreich dieser Slogan neuerdings problematisiert. Man weist darauf hin, dass ihn die Hamas vereinnahmt und im Sinne ihrer Ideologie umgedeutet hat. Das war lange (1980er Jahre), nachdem Martin Buber (bereits in den 20er Jahren) und andere über ein unbedingt anzustrebendes gleichberechtigtes Zusammenleben von Araber*innen und Jüdinnen/Juden zwischen Fluss und Meer nachgedacht hatten, und auch lange, nachdem linke palästinensische Parteien wie etwa die PFLP diese Idee in ihr Programm aufgenommen hatten. Die pervertierte Auslegung des Slogans entstand erst mit der durch Israel geförderten islamistischen Bewegung gegen die eher linke PLO.
ii Zum Beispiel: https://www.merkur.de/deutschland/berlin/the-river-to-the-sea-palaestina-parole-strafbar-from-zr-92575813.html
iii Zweimal „noch“: Bekanntlich haben viele Israelis in den letzten Monaten unermüdlich protestiert, weil sie diese Grundlagen von Rechtsstaat und Demokratie gefährdet sehen (neuerdings auch für die jüdischen Bürger*innen Israels).