Damit endete im Wesentlichen der Bauernkrieg, die grösste revolutionäre Aktion auf deutschem Boden vor 1848/49 und 1918/19, mit einer Niederlage. Auch die bürgerlich-demokratische Revolution von 1848 und der Versuch einer proletarischen Revolution im November 1918 und den folgenden Monaten endeten mit halben Niederlagen und wurden ihren historischen Herausforderungen nicht gerecht.[1]
Die spezifische historische Form, in der in Deutschland die bürgerliche Gesellschaft den Feudalismus ablöste, widerspiegelt sich in diesen drei Ereignissen und ihrer Verbindung untereinander besonders deutlich. In den folgenden Zeilen soll knapp dargestellt werden, wie der Bauernkrieg verlief, warum er mit einer Niederlage endete, welchen Stellenwert das im Zusammenhang für die Herausbildung bürgerlicher Verhältnisse in der deutschen Geschichte hatte und wie diese Abfolge von Ereignissen von den Klassikern des Marxismus und der historisch-materialistischen Geschichtswissenschaft diskutiert wurde und wird.
Der Übergang vom Feudalismus zur bürgerlichen Gesellschaft und seine besondere Form in den deutschen Territorien
Anders als in Frankreich und England konnten sich in Deutschland und Italien starke politische Zentralmächte erst im 19. Jahrhundert durchsetzen. Während in England und Frankreich Jahrhunderte früher ein Bündnis aufstrebender bürgerlicher Kräfte aus den Städten mit einem König den grossen Adel und damit auch den kirchlichen Feudaladel nach und nach politisch dominieren konnte, gelang das in Deutschland nie. Das hatte Konsequenzen für die Entwicklungsformen des im Schoss der feudalen Gesellschaft entstehenden Kapitalismus, der Klassenbeziehungen und des Verlaufs seiner Durchsetzung.In den sich vielfach überschneidenden, immer komplexeren Herrschafts- und Ausbeutungsbeziehung des europäischen, weltlichen und kirchlichen Feudaladels stellte das Königtum ein „progressives Element“[2] dar – geeignet, im Bündnis mit dem sich in den Städten entwickelnden bürgerlichen Experten des Rechts und der Verwaltung sowie des Handelskapitals die Macht der grösseren und kleineren Feudalen in Schach zu halten und auf der ökonomischen Basis einer sich allmählich überall durchsetzenden Ware-Geld-Beziehung[3] zurückzudrängen[4]. Im Auflösungsprozess der feudalen Herrschaften konnte es so in Frankreich und England zu zentralisierten Nationalstaaten kommen, die einen stabilen Machtrahmen für die Entwicklung des frühen Kapitalismus bildeten, bis dieser sich im 19. Jahrhundert dann voll durchsetzte. Anders im (erst später so genannten) Deutschland, wie schon Friedrich Engels feststellte: „In ganz Europa gab es nur zwei Länder, in denen das Königtum und die ohne es damals unmögliche nationale Einheit gar nicht oder nur auf dem Papier bestanden: Italien und Deutschland.“[5]
Diese Ausnahmestellung Deutschlands in Europa bildet den Kontext, in dem es hier erst sehr spät zu einem bürgerlichen Nationalstaat kam, der 1871 auf den Trümmern der Commune von Paris und „von oben“, im reaktionären, gegen die Arbeiterklasse gerichteten Bündnis von preussischem König, ostelbischen Junkern und Grossbourgeoisie à la Krupp gegründet wurde.
Eine zentrale Rolle für den besonderen deutschen Entwicklungsweg am Ende des Mittelalters und in der frühen Neuzeit bildete eine Serie von unterschiedlichen revolutionären Bewegungen, deren Höhepunkt Reformation und Bauernkrieg waren.
Seit den 1950er Jahren hat sich, inspiriert von der sowjetischen Geschichtsschreibung[6], in der historisch-materialistischen Geschichtswissenschaft für diese Epoche der Begriff der deutschen frühbürgerlichen Revolution eingebürgert, der sich auf Friedrich Engels rückbezog. Der in sich noch einmal vielfältig differenzierte Bauernkrieg von 1525 stellte in seinem linken Flügel den militantesten, radikalsten und am weitesten vorangetriebenen Angriff auf die überkommene Feudalordnung in den deutschen Territorien dar. Sein Scheitern hatte weitreichende Konsequenzen.
Dezentralisierte Zentralisation: Klassenkämpfe in Deutschland um 1500
Um 1500 lebten in den deutschen Territorien etwa 13 Millionen Menschen, von ihnen etwa 90% Bauern und deren Familien. Die sozialökonomische Entwicklung in den deutschen Gebieten des Reichs verlief uneinheitlich und widersprüchlich, aber insgesamt in Richtung auf eine Herausbildung kapitalistischer Verhältnisse. Noch aber war nicht klar, wann, in welchen konkreten Formen, wie, und mit welchem politischen Überbau das geschehen würde.Deutschland im heutigen Sinne existierte noch nicht. Die später deutsch genannten Gebiete, in denen sich seit dem Frühmittelalter der Feudalismus herausgebildet hatte, verfügten über keine gemeinsame Sprache und keinen gemeinsamen Markt. Es fehlt im 15. / frühen 16. Jahrhundert nicht an Forderungen, dies zu ändern, aber an sozialen Trägern, die diese Forderungen hätten durchsetzen können.
Die wirtschaftliche Entwicklung verlief uneinheitlich. In einzelnen Gebieten gewann der Bergbau eine entscheidende Bedeutung (Mansfelder Revier, Erzgebirge, Ostalpen) und legt den Grund für eine Form der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals, in anderen Gebieten konnten Textilerzeugung, Schiffbau, Metallverarbeitung, Buchdruck noch keine ähnliche Rolle spielen, tendierten aber dazu. Auf dem Land herrscht weiterhin einfache Warenproduktion, in den Städten hemmt die Zunftordnung das Entstehen des Kapitalismus. Dennoch: Teile des Bürgertums in den Städten gingen im Rahmen dieser gebremsten Entwicklung zu manufakturkapitalistischen Verhältnissen und der Heimarbeit eines entstehenden Proletariats in Form des Verlagswesens über. Einigen wenigen gelang es, besonders begünstigt durch ihr Eindringen in den Kupfer- und Silberbergbau, rasant zu grossen Kapitalgesellschaften aufzusteigen, die sehr schnell zu mächtigen politischen Akteuren wurden – so die Fugger und Welser, deren ungeheurer Reichtum das Entstehen von ersten Formen des Bankkapitals begünstige.
Aber das ist die Ausnahme und führte eben nicht zu einer allgemeinen kapitalistischen Entwicklung, sondern begünstigt sogar in seiner speziellen „deutschen“ Form die Verhinderung einer solchen Entwicklung durch die enge Kooperation mit dem hohen Feudaladel, der wiederum seine dezentralen Interessen betrieb: „Die Schwäche der frühkapitalistischen Entwicklung in Deutschland bestand darin, dass sich das Handels- Bank- und Wucherkapital in das bestehende Feudalsystem weitgehend einpasste. … Auch bleibt zu beachten, dass die frühkapitalistische Entwicklung auf regionale Zentren, die nicht selten gegeneinander gerichtete Sonderinteressen verfolgten, eingegrenzt blieb…., dh. dieselben Triebkräfte, die in anderen Staaten auf nationale Zentralisation drängten, begünstigten im Fall des heiligen Römischen Rechs infolge der spezifischen politischen Machtverhältnisse die territoriale Aufsplitterung („dezentralisierte Zentralisation“).[7]
Dieser Lage stehen Adel und Klerus gegenüber, die es im Rahmen der bleibenden feudalen Herrschaftsverhältnisse gelingt, über Steuern und Abgaben einen wesentlichen Teil des entstehenden Kapitals in ihr Eigentum umzulenken.
Entscheidende Widersprüche der Zeit sind: einerseits die zwischen neu entstehender Bourgeoisie in den Städten und dem weltlichen wie kirchlichen Feudaladel, andererseits die sich verschärfenden Kämpfe zwischen Feudaladel und den Bauern. Gerade auch leistungsstärkere Bauernwirtschaften, die begannen, ihre Erzeugnisse auf den Markt zu bringen, unterlagen verschärfter Ausbeutung bis hin zu neuen Formen der Leibeigenschaft zu unterwerfen, besonders in Südwestdeutschland („zweite Leibeigenschaft“)[8].
Dies führte bereits im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert immer wieder zu bäuerlichen Aufständen wie dem „Armen Konrad“ (1514), den Bundschuhaufständen mit Joss Fritz als herausragendem Organisator, dem Österreichischen Bauernkrieg von 1515 und anderen. Zu neuen Formen gesellschaftlicher Klassenwidersprüche entwickelten sich die zwischen der beginnenden Bourgeoisie und dem sich entwickelnden Proletariat, insbesondere im Bergbau.
Daneben gab es innerhalb der herrschenden Klasse, den Feudaladligen, interne Auseinandersetzungen zwischen dem hohen und dem niedrigen Adel, zwischen der schwachen Zentralgewalt des Kaisers und den relativ starken Fürsten, die ein Interesse daran zeigten, vom feudalen Personenverbandsstaat zu Territorialstaaten überzugehen, was wiederum die Herausbildung eines gemeinsamen Marktes und Staats bremste und behinderte. Die deutschen Territorien entwickelten sich darum in einer spezifischen Form der „dezentralisierten Zentralisation“.[9]
Diese facettenreiche Entwicklung begünstigte es, dass gerade auch über den kirchlichen Feudaladel erhebliche Teile des gesellschaftlichen Mehrprodukts nicht einer produktiven, nämlich kapitalistischen Entwicklung zur Verfügung standen, sondern für Formen des zT. mit riesigen Summen geführten korrupten Kampfs um Ämter und die mit ihnen gegebenen erweiterten Möglichkeiten von Ausbeutung, aber auch für Luxus- und Repräsentationsausgaben verschleudert wurden. Für letzteres war der Bau des Petersdoms in Rom das bekannteste Beispiel.
Für ersteres spielten später die Vorgänge um die nach kirchlichem Recht illegale Ämterhäufung des Mainzer Erzbischofs Albrecht von Brandenburg (1490 – 1545), ermöglicht durch Bestechung des Papstes, was wiederum durch einen Kredit bei den Fuggern finanziert wurde, dessen Refinanzierung durch den Ablasshandel als einer besonders abstossenden Form geschah, Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Insgesamt spielten diese Episoden, ähnlich wie die Bestechungen um die Wahl des späteren Kaisers Karl V. (1519), für die Auslösung der Reformation und damit der frühbürgerlichen Revolution eine bedeutende propagandistische Rolle.
Luther oder Müntzer: Revolution in der Theologie oder Theologie in der Revolution?
Als Beginn der Reformation wird üblicherweise der 31.[10].1517 gefeiert. An diesem Tag soll der damalige Wittenberger Theologe Martin Luther[10] (1483 – 1546) 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche geheftet haben, mit denen er zu einer öffentlichen Disputation um das Ablasswesen aufrief. Der konkrete Hintergrund dessen machte ein sehr viel allgemeineres Problem deutlich und wirkte deshalb wie ein Brandsatz – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass es der erst vor kurzem entwickelte Buch- und Flugschriftendruck möglich machte, dass die Thesen in kürzester Zeit allgemein bekannt wurden. Im Kern besagten sie: der Ablasshandel ist nichtig. Es sei weder nötig noch möglich, durch Erwerb eines schriftlichen „Ablassbriefs“ in Geldform kirchlichen Sündenstrafen abzuleisten, die man auf sich zu nehmen hatte, wollte man die kirchliche Absolution für vor dem zuständigen Priester gebeichtete Sünden wirksam werden lassen. Konkreter Hintergrund war das oben genannte Interesse des Mainzer Erzbischofs, durch den schwunghaften Handel mit Ablassbriefen in seinem Territorium seinen Kredit bei den Fuggern zu refinanzieren. Sehr zum Ärger des sächsischen Kurfürsten Friedrich sollte dieser Handel auch auf dessen Territorium ausgedehnt werden, das teilweise der geistlichen Jurisdiktion des Mainzer Erzbischofs angehörte.Kurfürst Friedrich hatte, damit seine Untertanen ihr Geld nicht auf unsicheren und weiten Wallfahrten nach Rom, Jerusalem oder Santiago de Compostela, sondern in seinem Territorium ausgaben, eigens eine riesige Sammlung von Reliquien angekauft, die unter anderem einen Teil der Windeln Jesu aus der Krippe im Stall von Bethlehem zu enthalten behauptete[11] - zu solchen Reliquien auf Wallfahrt zu gehen war nicht selten Teil einer kirchlichen Sündenstrafe oder galt als religiöses Verdienst. Die kurfürstliche Reliquiensammlung war mithin ein Versuch, Menschen und Geld im Land zu halten. Darum verbot er den Ablasshändlern des Mainzer Erzbischofs ihren Beutezug auf die Taschen der kurfürstlichen Untertanen in seinem Territorium – und Martin Luther lieferte die theologische Grundlage dafür, in dem er dem Ablasshandel generell die theologische Grundlage entzog.
Die rasch eskalierende theologisch-politische Auseinandersetzung führte zu Luthers zentralen Aussagen, die das gesamte mittelalterliche theologische und kirchenrechtliche Selbstverständnis der Feudalkirche vollständig in Frage stellte und zu Kirchenspaltung führte:
- die Existenz der Kirche dient der Predigt biblischer Aussagen, aber nicht der durch die Kirche irgendwie exklusiv vermittelten Heilsgewissheit
- jeder glaubende Mensch steht gleichsam unmittelbar, ohne kirchliche Vermittlung oder die Fürsprache von „Heiligen“, Gott gegenüber – die Kirche ist als Vermittlungsinstanz dafür letztlich überflüssig
- in Theologie und Kirche gilt nur, was sich aus der Bibel (und nicht nach menschlichen, stets partikular-interessegeleiteten Regeln) ableiten lässt.
Mit diesen und vielen weiteren Aussagen und praktischen Massnahmen zerstörte die reformatorische Theologie, die in der Zeit weniger Monate zur Volksbewegung wurde, das fast 1000 Jahre alte Selbstverständnis der mittelalterlichen Gesellschaft, für das die bisherige Kirche und ihre Ordnungen ideologisch zentral war.
Insbesondere durch seine programmatische Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ von 1520, die auf älteren Forderungen aufbaute und Forderungen der sich entwickelnden humanistischen Wissenschaften aufgriff[12], wurde Luther im Lauf kurzer Zeit zum Sprecher einer Bewegung, die ein klar antifeudales Potential hatte, zugleich aber in ihrer Stossrichtung von Seiten Luthers strikt im Rahmen eines Bündnis mit den weltlichen, territorialstaatlichen Fürsten blieb, und deren bittere Konkurrentin, die Feudalkirche mit ihren zahllosen Territorien und Einnahmequellen, aus dem innerfeudalen Konkurrenzverhältnis ausschloss. Das führte ihn als möglichen Verbündeten auch an die Seite der städtischen Bourgeoisie und des niederen Adels wie etwa der Reichsritterbewegung, die je auf ihre Weise unter der Ausbeutung nicht zuletzt auch kirchlicher Feudaler litten.
Diese in sich höchst widerspruchsvolle Gemengelage konnte sich gleichsam „im Durchschnitt“ noch in den ökonomischen und politischen Forderungen der Reformschrift von 1520 wiederfinden. Das ist das bleibende historische Verdienst Luthers in der deutschen politischen Geschichte, das zB. Marx zu der Bemerkung führte, Luther sei „der älteste deutsche Nationalökonom“[13], eben eines Analysten der ökonomisch politischen Verhältnisse Deutschlands zu Beginn der frühen Neuzeit gewesen, der in prononcierte Form für „Deutschland“ im Rahmen des Heiligen Römischen Reichs die bis dahin ungelöste nationale Frage und – objektiv – auch die Frage nach dem Übergang von Feudalismus zur bürgerlichen Gesellschaft formulierte. Dass er das in einer weitgehend theologischen Sprache tat, entsprach der Funktion der Theologie als der damals noch immer entscheidenden Form gesellschaftlicher Selbstverständigung.
Doch dauerte es nur kurze Zeit, bis sich die Reformation als Bewegung selbst entsprechend der Fraktionen und inneren Klassenwidersprüche auffächerte – bis hin zur direkten Konfrontation ihrer entstehenden unterschiedlichen Flügel miteinander. Bereits 1521 konnte Luther die über ihn verhängte Reichsacht, die ihn zum Vogelfreien machte, nur überstehen, weil er durch Kurfürst Friedrich geschützt, zum Schein auf die Wartburg entführt und dort längere Zeit verborgen gehalten wurde (was Luther zur Arbeit an der Übersetzung der Bibel nutzte, wodurch er einen unüberbietbar grossen Anteil an der Entwicklung einer einheitlichen deutschen Sprache gewann). Radikalere Kräfte der Reformation entstanden vielerorts und forderten – nun in der Regel mit Berufung auf die Bibel – kirchliche, aber auch politische Reformen bis hin zu Forderungen nach radikaler Gleichheit aller in der Gesellschaft, ja sogar der vollständigen Gütergemeinschaft.
Luther widersprach solchen Stimmen früh und mit wachsender Entschiedenheit, beginnend mit seinem Auftreten in den „Wittenberger Unruhen“. Hier war es im Frühjahr 1522, ausgehend von Luthers Positionen kirchenrechtlicher und theologischer Art zu einer gewissen Radikalisierung der Bewegung gekommen, auf die Luther, der immer noch auf der Wartburg sass, von dort keinen Einfluss nehmen konnte. Auf eigene Faust aus der Sicherheit des kurfürstlichen Asylorts abreisend fuhr er nach Wittenberg und griff – durchaus im Interesse des Kurfürsten - mässigend auf die Bewegung gegen Zölibat, Mönchtum, Bilderverehrung, für einen deutschsprachigen Gottesdienst usw. ein.
Dieses lokale Ereignis von Luthers sogenannten „Invocavit-Predigten“ (Predigten während der kirchlichen Fastenzeit vor Ostern) hatte erneut allgemeine Bedeutung. Es markiert Luthers Übergang vom Sprecher der gesamten reformatorischen Bewegung zum Parteigänger auf deren gemässigten Flügel, der auf eine Koalition von Reformation und Territorialfürsten bei - im wesentlichen - Aufrechterhaltung der „weltlichen“ gesellschaftlichen Strukturen, ein Programm der bürgerlich-gemässigten Reformen im nicht infrage gestellten Machtrahmen der Fürsten, orientierte.[14]
Diesem Programm stand in zunehmender Verbreitung das Programm der radikalen Reformation[15] gegenüber. Die Wittenberger Unruhen im März 1522 waren mitausgelöst worden durch die Ankunft der sogenannten „Zwickauer Propheten“ in Wittenberg am 27. Dezember 1521 im Zentrum der Reformation. Bei ihnen handelte es sich um eine seit 1520 Gruppe aktive Gruppe von sogenannten Tuchknappen aus einem der Zentren der sächsischen Textilproduktion, Zwickau, also einem frühproletarischen Milieu stammend.
Dort waren sie auf den Luther-Schüler und -Freund, den reformatorischen Theologen und Pfarrer Thomas Müntzer [16] getroffen und beide Seiten hatten sich gegenseitig beeinflusst. Im scharfen Gegensatz zu Luthers Verständnis der Bibel als einer gleichsam schriftlich-objektiv vorliegenden, immer neu wissenschaftlich und kommunikativ zu interpretierenden Grundlage jeder theologischen Argumentation, machten die Zwickauer Propheten um die Tuchweber Nikolaus Storch, Thomas Drechsel und Markus Thomae und mit ihnen Müntzer das ihnen (und potentiell jedem) gegebene „innere Licht“, eine Art situativ einleuchtende, religionstypologisch mystische Erkenntniskraft zur Grundlage ihres gesellschaftlichen Eingreifens[17]. Von dort kamen sie zu radikalen Konsequenzen, die im Verlauf der weiteren Ereignisse zum Gesellschaftsprogramms der radikalen Reformation beitrugen.
Dieses Programm war keineswegs identisch mit dem aller Bauern während des nun folgenden Bürgerkriegs von 1524 – 1526, sondern stellt auch in dessen Zusammenhang den äussersten linken Flügel dar. Der sowjetische Historiker Smirin hat dieses Programm in seinem Buch von 1947 als das einer „Volksreformation“ gekennzeichnet (vgl. Anm. VI). Zu greifen ist es weniger in einem zusammenfassenden Text als im Verlauf der Tätigkeit Müntzers, seiner auf einzelne Entwicklungen eingehenden Schriften und Briefe.
Seine Bedeutung besteht in der mystisch[18] inspirierten theologischen Radikalität und dem Versuch ihrer praktischen, gesellschaftlichen Verwirklichung, für die es durchaus eine objektive Grundlage gab. „Für die wohlhabenden Schichten wurde die Reformation zum Vorwand, um sich auf Kosten der ärmeren zu bereichern. Auf diese Weise betrog man die Volksmassen um die Früchte ihres Kampfes und um ihre berechtigte Hoffnung auf eine fühlbare Besserung ihrer Lage. Das wurde im Jahr 1524 weithin deutlich, als in zahlreichen Reichsstädten die Reformation im bürgerlich-gemässigten Sinne Luthers legalisiert und damit beendet werden sollte. So blieb nur eine Weiterführung der Reformation durch die Kraft der Volksmassen, der armen und unterdrückten Schichten in Stadt und Land.
Dazu mussten aber zwei Voraussetzungen erfüllt werden: die Ausarbeitung und Verbreitung einer revolutionären Ideologie sowie die Schaffung und Festigung einer revolutionären Organisation. Nur bei Erfüllung dieser Voraussetzungen konnte die Reformation aus der Sackgasse, in die sie durch die bürgerlich-gemässigten Kräfte geraten war, herauskommen, konnte sie zur Volksreformation, das heisst zur Reformation für das Volk und durch das Volk werden. Beide Bedingungen in theoretisch-ideologischer und in organisatorisch-praktischer Hinsicht geschaffen zu haben ist die historische Leistung Thomas Müntzers.“ [19]
An der „Thermidor“-Frage nach der Beendigung der Reformation entwickelte sich ab 1524 der weitere Fortgang ihrer Geschichte zur frühbürgerlichen Revolution. Die Wege Luthers und Müntzers trennten sich allerspätestens jetzt ein für alle Mal. Luther – das blieb die Revolution in der Theologie. Müntzer wurde Sprecher der Theologie in der Revolution.
Kampf und Niederlage der Bauern
Im eben genannten Jahr 1524 lässt Müntzer etliche Male seinem Zorn auf Luther, vor allem aber auch auf die „Herren und Fürsten“ freien Lauf. In „Hochverursachte Schutzrede und Antwort wider das sanftlebende Fleisch zu Wittenberg, welches mit verkehrter Weise durch den Diebstahl der Heiligen Schrift die erbärmliche Christenheit also ganz jämmerlich besudelt hat“ begründet er die unabweisbare Notwendigkeit des „Aufruhrs“ aus der Eigentumsordnung, in der alles, „die Fische im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden“ den Herren gehört die dann auch noch das Gebot Gottes „du sollst nicht stehlen“ gegen die in Anschlag bringen, die sie ansonsten „schinden und schaben“. Wenn sich einer von ihnen aus Not auchnur „das allergeringste“ nehme, dann müsse er hängen, zu welchem Unrecht dann auch noch „Doktor Lügner“, also Luther, „Amen“ sage. Die Herren seien selber schuld am Aufruhr: dessen Ursache wollen sie nicht beseitigen – das könne ja nicht gut gehen. Und wenn er, der das so sage, dann eben auch ein Aufrührer sei – bitte sehr!„Sich zu, die grundtsuppe des wuchers, der dieberey und rauberey sein unser herrn und fürsten, nehmen alle creaturen zum eygentumb. Die visch im wasser, die vögel im lufft, das gewechs auff erden muss alles ihr sein … Darüber lassen sie dann Gottes gepot aussgeen unter die armen und sprechen: Got hat gepoten, du solt nit stelen; es dinet aber ihn nit. So sye nu alle menschen verursachen, den armen ackerman, handwerckman und alles, was da lebet schinden und schaben … so er sich dann vergreifft am allergeringsten, so muss er hencken. Do sagt dann der doctor Lügner: Amen. Die herren machen das selber, dass ihn der arme man feyndt wirdt. Dye ursache des auffrurs wollen sye nit wegthun, wie kann es die lenge gut werden? So ich das sage, muss ich auffrurisch sein. Wol hyn.“[20]
Armut ist das demzufolge Ergebnis der Eigentumsordnung, die aus den einen Herren und Fürsten und den anderen ausgebeutete („geschundene und geschabte“) Bauern, Handwerker, eben Arme werden lässt. Die Klassen sind benannt, die Fronten sind geklärt, die Ursache ist klar, auch die Positionen zwischen Luther und Müntzer: auf der einen wie auf der anderen Seite der Eigentumsordnung, die das entscheidende Problem ist. Dass es so zu einem Aufruhr kommen muss, ist geradezu gesetzmässig. Müntzer bemüht sich in diesen und jedem seiner Texte mit Hunderten von Bibelbelegen zu beweisen, dass das „göttliche Recht“ auf der Seite der Armen ist und nimmt den Fürsten gegenüber wahrhaftig kein Blatt vor den Mund. Wenige Tage vor der Schlacht von Frankenhausen donnert er in zwei Briefen den Graf Ernst von Mansfeld als „Tyrann“, „Pharao“, dessen Blut und Fleisch demnächst die Vögel des Himmels fressen werden, einen „grossen Hansen“, den die „lutherischen Breifresser mit ihrer beschmierten Barmherzigkeit … weich gemacht haben“ an[21].
Diese Klarheit und Entschiedenheit wurden aber nur von einer Minderheit der Bauern und mit ihnen kämpfenden Bürger so an den Tag gelegt. Es gab verschiedene lokale und regionale Aufstände zu unterschiedlichen Zeiten, die zudem in ihrem Ablauf unter anderem durch die Jahreszeit und deren Bedeutung für das Landwirtschaftsjahr bedingt waren. Es gab kein gemeinsames Programm, so sehr sich Müntzer und andere auch darum bemühten. Der überall nachgedruckte und einflussreichste Forderungskatalog, die „12 Artikel aller Bauernschaft und Hintersassen der geistlichen und weltlichen Obrigkeiten, von denen sie sich beschwert vermeinen“[22], zu denen nicht wenige ähnliche Dokumente der Bauern aus dem gleichen Zeitraum parallel argumentieren, stammten aus regional zusammengetragenen Beschwerdebriefen und Versammlungen.
Sie blieben mit ihren Forderungen ausdrücklich im Rahmen der feudalen Ordnung und stellten sie nicht, wie Müntzer, insgesamt in Frage. Allerdings wenden sie sich in scharfer Form gegen die Leibeigenschaft und die Gerichtsherrschaft der Feudalherren, fordern die Freiheit der Jagd, des Fischfangs, der Nutzung der Wälder und des öffentlichen Weidelands und positionieren sich auf der Seite der Reformation, wenn sie das freie Recht jeder Gemeinde verlangen, sich ihren Pfarrer selbst zu wählen – ein Schlag gegen die feudale altgläubige Kirche. Zugleich weisen sie den Verdacht, die Feudalordnung insgesamt ablehnen zu wollen von sich – man sei nicht gegen die Obrigkeit als solche. In der Überlieferungsgeschichte der „12 Artikel“ ist wesentlich, dass ihrem ersten Druck (Regensburg, März 1525) eine radikalisierende Einleitung von Christoph Schappeler vorangestellt worden war, die, ähnlich wie Müntzer wenige Wochen später in der „Hochverursachten Schutzrede“, die Verantwortung für die militärischen Auseinandersetzungen mit den Herren bei diesen selbst sah – was aber nicht durch die Eigentumsordnung, sondern quasi geschichtstheologisch begründet wurde: die Obrigkeit habe ihre Macht von Gott und er könne sie auch, und zwar „in ainer kurtz“ von ihnen nehmen.
Eine ganze Reihe weiterer Texte der aufrührerischen Bauern sind überliefert – im Wesentlichen bleibe sie im Rahmen dessen, was hier nur kurz dargestellt wird. Sehr konkret angesprochen werden die alltäglichen Beschwernisse bäuerlichen Lebens unter den Feudalherren. Ein überregionales Programm für eine gesellschaftliche Ordnung jenseits des Feudalismus gab es – in Ansätzen - nur bei Müntzer (und in einigen Versuchen nach der Niederschlagung des Bauernkrieges von 1525, zB. der „Tiroler Landesordnung“ von 1526 oder dem Königreich der Täufer von Münster 1534/35, die beide ebenfalls scheiterten).
Es blieb Müntzer überlassen, die am weitesten gehende Forderung zu erheben: alle Macht solle dem gemeinen Volk gegeben werden.[23] Was Müntzer damit nicht nur in der Frage der Form politischer Herrschaft und ihrer Träger, sondern auch in der Eigentumsordnung gesagt haben soll, lautet in der Formulierung des Verhörprotokolls vom 16. Mai 1525 Es sei ihr Artikel gewesen und sie hätten es folgendermassen angehen wollen: Omnia sunt communia – es solle einem jeden nach seinem Bedürfnis zugeteilt werden, was er brauche und was möglich sei. Ein Fürst, Graf oder Herr, der das nicht gewährleiste, dem solle man, wenn er sich trotz Ermahnung nicht danach richte, den Kopf abschlagen oder ihn hängen.
„Die entporunge habe er Dorum gemacht, dass die Christenheit sollt alle gleich werden und das die fursten und herrn, dye dem ewangelio nit wollen beystehen, sollten vertrieben und totgeschlagen werden. … Ist ir artikel gewest und habens uff dye wege richten wollen: Omnia sunt communia, und sollen eynem idern nach seyner nothdorft ausgeteylt werden nach gelegenheyt. Welcher furst, graff oder herre das nit hette tun wollen und des erstlich erinnert, den solt man dye koppe abschlahen ader hengen.“[24]
Die militärische Entwicklung des Bauernkrieg verlief in weiten Teilen ebenso dezentral und insulär, wie es für Deutschland im übergeordneten politisch-ökonomischen Entwicklungsgang typisch war. Im Juni 1524 im Schwarzwald begonnen und dann im Oktober – nach Einbringen der Ernte – fortgesetzt zogen erst 800, dann über 3000 Bauern durch das Land. Dem folgte die Bildung des Baltringer, des Seehaufen am Bodensee und des Allgäuer Haufen im Frühjahr 1525, die zusammen bereits ca. 30.000 Bauern aufwiesen. Sie strebten Verhandlungen mit dem Schwäbischen Bund an – und so kam es zur Abfassung der 12 Artikel (s.o.).
Nachdem es im April 1525 bei Weinsberg zur gewaltsamen Eroberung eines Adelssitzes und der Hinrichtung der Adligen gekommen war, verschlechterten sich nicht nur die Aussichten auf einen erfolgreichen Verhandlungsabschluss. Der Schwäbische Bund, ein Zusammenschluss von Adligen, heuerte vielmehr den erfahrenen Truchsess von Waldburg als Militärexperten an – finanziert durch die Fugger in Augsburg. Er verfügte bereits über 9000 kampferfahrene Landsknechte, 1500 gepanzerte Reiter und machte sich nun geduldig und erfahren daran, die kampfunerfahrenen und schlecht bewaffneten Bauernhaufen niederzuwerfen.
Der seit Ende März in Oberschwaben um Leipheim operierende Leipheimer Haufen (5000 Kämpfer) wurden am 4. April besiegt. Am 17. April verhandelt der Truchsess mit dem Allgäuer Haufen bei Weingarten und schloss nach längeren Verhandlungen einen Vertrag – die Bauern, 2:1 überlegen, hätten in dieser Phase die Truppen des Truchsess leicht schlagen können, zumal sie zeitweilig über eigene Landsknechtstruppen verfügten. Hier kam die mangelnde Erfahrung der Bauern nachteilig zum Tragen. Zu Verhandlungen und Kämpfen danach kam es im April / Mai auch im Nördlinger Ries, zur gleichen Zeit im Bereich der Schwäbischen Alb – Kämpfe, die zum Teil trotz zahlenmässiger Übermacht der Bauern verloren gingen.
Anfang April 1525 erhoben sich die Odenwälder Bauern unter Jäcklein Rohrbach und vereinigte sich nach einigen Wochen mit den Neckartalern unter Götz von Berlichingen und den fränkischen Haufen unter Florian Geyer – beide dem niederen Adel angehörig. Hier kam es erstmals zur Eroberung auch grösserer Städte durch die insgesamt 12.000 Bauern. In Thüringen bildete sich der Waldhaufen und eroberten einige kleiner Orte und Städte, wurde verstärkt durch den Schwarzburger Haufen, konnten Arnstadt erobern und lösten sich dann einfach auf, nachdem die regionale Obrigkeit die 12 Artikel anerkannt hatte.
Zeitgleich kam es zu einer massiven fürstlichen Aktion gegen die Truppen unter dem Kommando Thomas Müntzers bei Frankenhausen. Landgraf Philipp von Hessen, der Fürst Georg von Sachsen der Herzog von Braunschweig und andere Angehörige des hohen und mittleren Adels planten, den Thüringer Bauernaufstand durch den Angriff auf dessen radikales Zentrum um Müntzer zu beenden. In der Schlacht von Frankenhausen (15. Mai 1525) metzelten sie in einer konzertierten Aktion unter Einsatz schwerer Kavallerie und Feldartillerie die Bauern und Bürger von Frankenhausen und aus einigen Nachbarorten, insgesamt etwa 6000 Aufständische nieder. Müntzer wurde gefangengenommen und am 27.5. hingerichtet. Wenige Tage später zerschlugen die Truppen Kurfürst Johanns von Sachsen bei Meiningen eine weitere thüringische Gruppe aufständischer Bauern, fast zeitgleich wurde der pfälzische Haufen bei Pfeddersheim vernichtet (24.6.1525).
Damit war dem hohen Adel eine Reihe entscheidender Schläge gelungen. Zwar gab es noch einige Monate später immer wieder ein Aufflackern von Aufständen. Die letzten militärischen Auseinandersetzungen gab es wieder, wie zu Anfang, im Stühlinger Bereich (November / Dezember 1525). Damit war, bis auf die erwähnten Nachhutgefechte in Tirol 1526 und später, um die Täuferbewegung in Münster 1534f, der Versuch einer Durchsetzung radikal-reformatorischer Vorstellungen als Gesellschaftskonzept beendet. Zu Bauernaufständen kam es in Deutschland über dreihundert Jahre lang nicht mehr.[25]
Natürlich stellt sich die Frage: hätten die Bauern siegen können? Man kann wohl davon ausgehen, dass ein Sieg der gemässigten Bauern im Bündnis mit Teilen des niederen Adels und der Bourgeoisie in den Städten auf der Ebene der 12 Artikel durchaus möglich gewesen wäre. Eine Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion, der Beginn selbst der erweiterten Reproduktion in der Nahrungsmittelerzeugung und damit eine Beschleunigung der kapitalistischen Entwicklung in Deutschland mit der flächendeckenden Durchsetzung einer entfeudalisierten Kirche erscheint nicht ausgeschlossen. Dafür wäre auf Seiten des reformatorischen mainstreams um Luther mindestens Offenheit dazu notwendig gewesen.
Das Beharren des gemässigten, auf das Bündnis mit den Territorialfürsten angelegte Vorgehen dieser Fraktion verhinderte das wahrscheinlich. Umgekehrt waren die radikal egalitären und strikt antifeudalen Positionen der radikalen Reformation unter diesen gegebenen Umständen nicht durchsetzbar: dass Luther mit seinen klaren Aufforderungen an die Fürsten, den aufrührerischen Bauern konsequent den Garaus zu machen und sie in seiner Polemik gegen sie klar entmenschlichte, sogar soweit ging, zeitgleich zur Hinrichtung Müntzers seine Hochzeit mit Katharina von Bora zu feiern, zeigt auf der individuellen Ebene, was gesellschaftlich seiner Haltung entsprach. Es muss aber auch gesagt werden, dass die herrschaftskritischen Forderungen der Kräfte um Müntzer den objektiven politischen und ökonomischen Möglichkeiten seiner Zeit um zwei oder mehr Jahrhunderte voraus war. Er hätte nicht siegen können, aber es wäre vielleicht sehr viel mehr an kapitalistischer und bürgerlich-demokratischer Entwicklung in Deutschland möglich gewesen, als der Luther-Flügel es zuliess. Die deutsche Geschichte wäre dann wohl sehr anders verlaufen.
Die Ergebnisse der deutschen frühbürgerliche Revolution und ihre Folgen für den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte
Bereits Friedrich Engels sah, wie oben angesprochen, Reformation und Bauernkrieg als miteinander verbundene revolutionäre Ereignisse an: „Reformation … – Revolution Nr. 1 der Bourgeoisie, worin Bauernkrieg die kritische Episode“ notierte er sich als Konzept für eine von ihm als notwendig erachtete Neubearbeitung seiner aus dem Jahr 1850 stammenden Schrift „Der deutsche Bauernkrieg“[26]. In der kurzen Notiz “Zum Bauernkrieg“ von Ende1884[27] ging er ebenfalls auf die besondere Entwicklungsform des Übergangs von Feudalismus zum Kapitalismus in Deutschland ein.Die oben zitierte Bezeichnung „Nr. 1“ wird verständlich, wenn man Engels' Theorie von den „drei grossen Entscheidungsschlachten der Bourgeoisie gegen den Feudalismus“ voraussetzt: erstens die vor allem lutherische Reformation und der Bauernkrieg in Deutschland, zweitens der Calvinismus und die Herausbildung der britischen konstitutionellen Monarchie unter Einbindung der Bourgeoisie sowie, drittens, die Französische Revolution.[28] In allen diesen Entscheidungsschlachten waren sozusagen Vorläufer des späteren Proletariats an den Kämpfen beteiligt: „so brachen doch bei jeder grossen bürgerlichen Bewegung selbständige Regungen derjenigen Klasse hervor, die die mehr oder weniger entwickelte Vorgängerin des modernen Proletariats war. So in der deutschen Reformations- und Bauernkriegszeit die Thomas Münzer'sche Richtung, in der grossen englischen Revolution die Levellers, in der französischen Revolution Babeuf.“[29]
Die historisch-materialistische Thematisierung des Bauernkriegs sieht ihn also als Teil eines grösseren Zusammenhangs, der frühbürgerlichen deutschen Revolution, die ihrerseits den Anfang einer längeren Phase von sozialen, politischen und ideologischen Umwälzungen war, an deren Ende die mehr als tausendjährige Herrschaft des Feudalismus durch die weltweite Dominanz der bürgerlichen Gesellschaft abgelöst wurde.
Die Niederlage dieser Bewegung in Deutschland hatte weitreichende Folgen für die weitere Geschichte unseres Landes: bleibende Aufteilung, ja Zersplitterung in einander bekämpfende Territorialfürstentümer schwächten das Aufkommen einer einheitlichen deutschen Bourgeoisie, legten ihr Hindernisse vieler Art in den Weg. Friedrich Engels sprach 1893 deshalb von der deutschen Geschichte als „einer einzigen Misère“,[30] und Marx spottete 1844: „… die deutsche Geschichte schmeichelt sich einer Bewegung, welche ihr kein Volk am historischen Himmel weder vorgemacht hat noch nachmachen wird. Wir haben nämlich die Restaurationen der modernen Völker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen. Wir wurden restauriert, erstens, weil andere Völker eine Revolution wagten, und zweitens, weil andere Völker eine Konterrevolution litten, das eine Mal, weil unsere Herren Furcht hatten, und das andere Mal, weil unsere Herren keine Furcht hatten. Wir … befanden uns immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit, am Tag ihrer Beerdigung.“[31]
Es ist tatsächlich eine lange Kette von halben Erfolgen, ganzen Niederlagen und nur wenigen Siegen, die die revolutionäre Linke in der deutschen Geschichte vorzuweisen hat. Die Folge der Niederlage von 1525 waren Jahrhunderte territorialer Zersplitterung und Dreissigjähriger Krieg, die lange Bewahrung konfessionell definierter Grenzen nach der Reformation in der Form der „dezentralisierten Zentralisierung“ der deutschen Territorien, die die nationale Frage auf die lange Bank der Geschichte schob, ein schwerwiegendes Hindernis für die Herausbildung von überregionalen Wirtschaftsbeziehungen, Märkten und damit einer territorial übergreifenden deutschen Bourgeoisie als Klasse „für sich“, die nie wirklich ihre Revolution gewonnen hat, sondern so etwas wie eine bürgerliche Republik erst 1918 durch die Konterrevolution gegen den ersten deutschen Versuch einer proletarischen Revolution erreichte – mit allen weiteren Konsequenzen[32].
Ist die These der frühbürgerlichen deutschen Revolution in der marxistischen Geschichtsschreibung unumstritten, so ist andererseits doch zu beobachten, dass insbesondere in der Geschichtswissenschaft der DDR und ihrer öffentlichen Diskussion im Lauf ihrer Geschichte eine signifikante Nuancierung stattgefunden hat. Während in den 1950er Jahren in Aufnahme der These Smirins von der „Volksreformation des Thomas Münzer“ die von ihm repräsentierte Richtung als entscheidendes Ereignis der frühbürgerlichen Revolution interpretiert wurde, wurde in den folgenden Jahrzehnten die Bedeutung Luthers mehr und mehr in den Vordergrund gerückt. Höhepunkt dieser Entwicklung waren die „Thesen über Martin Luther. Zum 500. Geburtstag“, die von einem breit aufgestellten wissenschaftlichen Kollektiv an Historiker:innen und Gesellschaftswissenschaftler:innen der DDR bereits 1981 veröffentlicht wurden und somit den beiden kommenden Jahren der Vorbereitung vielfältiger Feierlichkeiten zum 500. Jahrestag der Geburt Luthers am 10.11.1983 den politisch-ideologischen Rahmen gab.[33]
Ihre Pointe besteht im Grunde darin, Müntzer als gescheiterten tragischen Helden eines zu früh gekommenen, auf eine egalitäre Gesellschaft abzielenden Revolutionsversuchs ohne Siegchance zu bewerten und weitgehend in den Hintergrund treten zu lassen, während „die Tragik Luthers … [darin bestand], dass er in den Widerspruch geriet zwischen seiner Rolle als Initiator einer breiten, alle oppositionellen Klassen und Schichten einbeziehenden revolutionären Bewegung und seiner eigenen begrenzten Zielstellung, die letztlich in seiner bürgerlich-gemässigten, auf das Landesfürstentum orientierten Klassenposition begründet war.“[34]
Diese von den Anfängen der DDR-Geschichtsschreibung durchaus unterschiedene Haltung kommt am knappsten bei Gerhard Brendler, einem der profiliertesten Historiker und Müntzer-Biographen der DDR, zum Ausdruck, wenn er im Juni 1988 schrieb, er sei „ganz gewiss der Meinung, dass die Leitfigur des 16. Jahrhunderts Martin Luther hiess und nicht Thomas Müntzer“.[35] Ein Satz, dessen historischer Kontext bezeichnend sein dürfte.
Es wäre eine eigene Untersuchung wert, die Rezeptionsentwicklung von Reformation und Bauernkrieg in der Geschichte der DDR näher anzuschauen. Für die eher konservativ-bürgerliche Betrachtung dieses Vorgangs gibt es solche Untersuchungen[36], ebenso wie für ihren fortschrittlicheren, sozialgeschichtlich orientierten Widerpart in der Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik[37], deren Wortführer Peter Blickle für die letzten Jahre der Existenz der DDR eine gewisse Konvergenz in deren historischen Forschungsergebnissen zu Reformation und Bauernkrieg mit denen in der Bundesrepublik konstatierte.
Das wäre ebenso zu überprüfen, wie, falls sich Blickles Einschätzung als richtig erweist, in welchem grösseren ideologischen Kontext sie zu bewerten sind und ob dieser nicht etwa Teil viel weitergehender „realpolitisch“ motivierter ideologischer Annäherungsprozesse waren, zu deren markantestem Ausdruck vielleicht das berühmte, von SED und SPD gemeinsam erarbeitete Dokument „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ von 1987 geworden ist – einem Dokument, das aus heutiger Sicht das Ende der DDR mit-einläutete.
Es bleibt auf jeden Fall das besonders auf die Forschung in der DDR zurückgehende Verdienst, die von Friedrich Engels formulierte historische These von der frühbürgerlichen deutschen Revolution als Beginn der drei „Entscheidungsschlachten“ zwischen Feudalismus und Bourgeoisie weiter ausgearbeitet zu haben.[38]
Die historisch-materialistische Revolutionsgeschichtsforschung kann und soll heute auch an diese Tradition und natürlich in praktischer Absicht für die Kämpfe der Gegenwart und Zukunft anknüpfen. Dem diesjährigen Jubiläum hat sie nichts Wesentliches beizutragen gewusst. Aber der Aufstand der Bauern und des „gemeinen Volks“ von 1525 lebt auch weiter, wenn wir heute das Rot aus der Regenbogenfahne Müntzers und seiner Mitstreiter von 1525 aufgreifen.