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Antifaschistischer Protest in Giessen: Alle zusammen gegen den Faschismus! Aber wie?

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Antifaschistischer Protest in Giessen Alle zusammen gegen den Faschismus! Aber wie?

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Politik

„Wenn man in einen falschen Zug einsteigt, nützt es nichts, wenn man im Gang gegen die Fahrtrichtung läuft.“ (Dietrich Bonhoeffer, Gedanken zum antifaschistischen Protest in Giessen, 29.11.2025 [1])

Demo gegen die AfD in Giessen am 29. November 2025.
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Demo gegen die AfD in Giessen am 29. November 2025. Foto: ‪Black Mosquito

Datum 1. Dezember 2025
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Die Aktionen gegen die Gründung des AfD-Jugendverbands „Generation Deutschland“ sind zuende. Sie waren von einer beispiellos breiten und vielfältigen Mobilisierung und Bandbreite der Aktionsformen gekennzeichnet: von der Protestkundgebung der staatstragenden, bürgerlich-demokratischen Parteien (mit selbst so entschiedener Ausnahme der CDU) auf dem Berliner Platz, kilometerweit vom Ort des Geschehens entfernt, bis hin zu der in dieser Form neuen Kooperation des Aktionsbündnis „widersetzen!“ mit dem DGB, die bis zur absoluten Erschöpfung alles dafür gaben, den Gründungskongress der Jungnazis erfolgreich zu verhindern.

Schon im Vorfeld hatten Staat und Kommune das ihre getan, um sich von jedem effektiven Protest, jeder noch so friedlichen Sitzblockade, jeder Form von effektivem Protest gegen die Gründung der AfD-Jugend zu distanzieren. Der Oberbürgermeister Giessens beteuert mehrmals, leider, leider könne er gegen die Vermietung der „Hessenhallen“ auf dem Giessener Messegelände nichts tun. Der hessische Innenminister versicherte, die Polizei sei im Konflikt mit dem Faschismus „neutral“ (was in sich bereits eine pro-faschistische Äusserung darstellt), während er gleichzeitig eine Armada von hochgerüsteten riot-cops, Drohnen, Hubschraubern, Reiter- und Hundestaffeln, Wasserwerfern und Räumpanzern gegen die bedrohlichen Antifaschist:innen von der Kette liess.

Gegen die angelaufene bundesweite Mobilisierung wurden grossräumige Demonstrationsverbote verhängt und juristisch gegen alle Einsprüche bis zur letzten Instanz der bürgerlichen Justiz durchgesetzt, damit niemand auf den Gedanken kommen sollte, daran zu zweifeln, wo Kommune Giessen, Land Hessen und die Polizei stehen: auf der Seite der Jugendorganisation, deren designierter Vorsitzender Hohm wenige Tage zuvor in social media – Kanälen damit aufgefallen war, die ersten Worte des „SS-Treuelieds“ zu posten - man tut ihm also nicht Unrecht, sondern dürfte, falls er nicht bewusstseinsgespalten ist, auf seine zumindest innere Zustimmung treffen, wenn man ihn als Nazi einstuft.
Die aus fünfzehn Bundesländern zusammengezogene Polizei belohnte diese „Ehre und Treue“ der AfD-Jungnazis, indem sie zunächst die auf den Strassen rund um Giessen blockierenden Antifaschist:innen beiseite boxte, trat, schlug und 26 von ihnen verletzte, die aus der Innenstadt die Lahn zu überschreitenden dohenden Antifas auf den Brücken blockierte, mit Wasserwerfern bedrohte und allenthalben den.

Hierbei forderten die Träger:innen des Gewaltmonopols blechern tönend wieder und wieder, wir sollten uns „friedlich und gewaltfrei“ gegen die zu allem bereiten Nachahmungswilligen der Täter von Buchenwald und Auschwitz verhalten, wobei die Hüter:innen der „öffentlichen Ordnung“ ein martialisches Auftreten zur Schau trug, das wohl sagen sollte: „Glaubt bloss nicht, wir wüssten nicht, auf welcher Seite wir stehen!“ – nämlich mit den Rücken zu den Nazis.

Am Verhalten von Nazis, Staat und Polizei können wir wenig oder nichts ändern. Wir kennen es genauso seit Jahrzehnten. Aber wir können die Gelegenheit nutzen, uns jetzt ernsthaft zu fragen: was können, was müssen wir tun, damit Antifaschismus endlich erfolgreich wird? Denn natürlich, trotz aller Mobilisierungserfolge, trotz des riesigen und höchst anerkennens- und dankenswerten Einsatzes vor allem von „Widersetzen!“ ist dies eine weitere Niederlage und nicht ein Erfolg.

„Wenn man in einen falschen Zug einsteigt …“ wir haben es vor den Wasserwerfern stehend gesungen.

Der Zug, in dem sich (nicht nur) die deutsche Gesellschaft bewegt, braust auf den Abgrund zu, in dem Klimakatastrophe, Weltkrieg und Faschismus schon auf ihn warten. Eigentümer des Zuges ist der Zusammenhang, der diesen Abgrund und die in ihm wartenden Höllengestalten drohen: der Kapitalismus, dessen Ausgeburten sie sind.

Wir können im Zug stehen oder sitzen, toben, schreien, brüllen, gegen die Fahrtrichtung demonstrieren, von innen an die Türen treten, gegen die Fenster hämmern, uns betrinken oder die Situation zu ignorieren versuchen, wir können die Kontrolleure im Zug beleidigen oder in Wahlen beschliessen, dass der Zug künftig von Heidi Reichinnek statt von Friedrich Merz als Lokomotivführer:in gefahren wird – das wird nichts wesentliches ändern. Der Zug wird weiter in Richtung Abgrund brausen. Wir können, so schnell wir wollen, im Richtung Abgrund fahrenden Zug gegen die Fahrtrichtung rennen – es hilft nichts.
Das Einzige was hilft ist: die Notbremse ziehen, aussteigen, den Zug verlassen, das Gleisbett verlassen. Den Kapitalismus verlassen, was sicher nicht „friedlich und gewaltfrei“ möglich sein wird – nicht weil wir Gewalt toll finden, sondern weil die Herren und Damen des bisherigen ancien régime wie schon tausendmal bewiesen alles, buchstäblich alles tun werden, um uns in den Abgrund zu befördern.
Das ist keine Verleumdung: sie tun schliesslich weltweit, in aller Öffentlichkeit und tagtäglich Schritte in Richtung Klimakatastrophe, Krieg und Faschismus, und sie ermorden seit Jahrzehnten, ohne mit der Wimper zu zucken, alle und jeden, der es wagt, von innen an der Tür zu rütteln.

Die bisherige antifaschistische Politik „breiter Bündnisse“ ist gescheitert, weil sie es versäumt, die gesellschaftliche Machtfrage so unauflöslich mit der Frage des Antifaschismus zu verbinden, wie es die Gegenseite seit je tut und damit mal um Mal siegt. Gegen uns, gegen die riesige Mehrheit der Gesellschaft, gegen die Zukunft der menschlichen Zivilisation.

„Alle zusammen gegen den Faschismus“ – das funktioniert, es muss funktionieren: aber nur auf der Basis des Kampfs gegen ihn „und seine gesellschaftlichen Wurzeln“. Alles unterhalb dieser Herausforderung ist verkürzt und lässt uns wie im Hamsterrad das ewig und immer selbe erleben, während der Zug dem Abgrund entgegendonnert.

Was können wir, müssen wir besser machen?

Wir brauchen Bündnisse und eine antifaschistische Einheit, die wirklich von unten aufbauen. Wir sollten eine einzige Vorbedingung für die Mitarbeit in diesen Bündnissen machen: den ehrlichen Willen, Faschismus, Krieg und Klimakatastrophe, soziale Ungleichheit in allen Formen, Nationalismus und Rassismus mit ihrer gemeinsamen gesellschaftlichen Wurzel kompromisslos zu bekämpfen – so, wie es die Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald schworen: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“[2]

Zu meinen, es können Antifaschismus ohne Kampf gegen den Kapitalismus geben – das ist die heutige Form selbst vieler Antifaschist:innen, „im Gang gegen die Fahrtrichtung zu laufen“.

An solchen Bündnissen sollten sich unabhängig von jeglicher Partei-, Gewerkschafts- oder sonstigen Mitgliedschaft alle beteiligen: in Initiativen, Bündnissen, Komitees zu allen speziellen Fragen, um die sie sich gerade kümmern wollen oder müssen. Und nie, ohne die grosse, alles entscheidende Frage aus den Augen zu verlieren: dass wir uns dem Abgrund Tag für Tag nähern. Organisationen sein, die sich – als Organisationen - nicht klar gegen den Faschismus, den Krieg, die Klimakatastrophe „mit ihren gesellschaftlichen Wurzeln“ wenden – die brauchen wir nicht. Denn sie haben seit Jahren und Jahrzehnten bewiesen, dass sie den Zug, in dem wir alle zum Abgrund rasen, entweder nicht stoppen wollen oder es nicht können – und dass sie erwiesenerermassen bereit sind, uns gewaltsam entgegenzutreten, wenn wir den Zug stoppen wollen.

Solche Bündnisse von unten und für ein Leben gegen den Abgrund hätten sicher auch Dietrich Bonhoeffers Beifall und Mitdenken gefunden.
Auch Bertolt Brecht würde zustimmen. In seinem Text „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“ aus der Jahreswende 1934/35 schrieb er:

„Die Wahrheit muss der Folgerungen wegen gesagt werden, die sich aus ihr für das Verhalten ergeben. Als Beispiel für eine Wahrheit, aus der keine Folgerungen oder falsche Folgerungen gezogen werden können, soll uns die weitverbreitete Auffassung dienen, dass in einigen Ländern schlimme Zustände herrschen, die von der Barbarei herrühren. Nach dieser Auffassung ist der Faschismus eine Welle von Barbarei, die mit Naturgewalt über einige Länder hereingebrochen ist.

Nach dieser Auffassung ist der Faschismus eine neue dritte Macht neben (und über) Kapitalismus und Sozialismus; nicht nur die sozialistische Bewegung, sondern auch der Kapitalismus hätte nach ihr ohne den Faschismus weiter bestehen können usw. Das ist natürlich eine faschistische Behauptung, eine Kapitulation vor dem Faschismus. Der Faschismus ist eine historische Phase, in die der Kapitalismus eingetreten ist, insofern etwas neues und zugleich altes. Der Kapitalismus existiert in den faschistischen Ländern nur noch als Faschismus und der Faschismus kann nur bekämpft werden als Kapitalismus, als nacktester, frechster, erdrückendster und betrügerischster Kapitalismus.

Wie will nun jemand die Wahrheit über den Faschismus sagen, gegen den er ist, wenn er nichts gegen den Kapitalismus sagen will, der ihn hervorbringt? Wie soll da seine Wahrheit praktikabel ausfallen?

Die gegen den Faschismus sind, ohne gegen den Kapitalismus zu sein, die über die Barbarei jammern, die von der Barbarei kommt, gleichen Leuten, die ihren Anteil vom Kalb essen wollen, aber das Kalb soll nicht geschlachtet werden. Sie wollen das Kalb essen, aber das Blut nicht sehen. Sie sind zufriedenzustellen, wenn der Metzger die Hände wäscht, bevor er das Fleisch aufträgt. Sie sind nicht gegen die Besitzverhältnisse, welche die Barbarei erzeugen, nur gegen die Barbarei. Sie erheben ihre Stimme gegen die Barbarei und sie tun das in Ländern, in denen die gleichen Besitzverhältnisse herrschen, wo aber die Metzger noch die Hände waschen, bevor sie das Fleisch auftragen.“[3]

Wir sollten aufhören, es uns selbst leichter zu machen, als es ist.

Ja – wir brauchen dringend breitestmögliche antifaschistische Bündnisse – aber es sollten Bündnisse im Sinn von Bonhoeffer und Brecht, Bündnisse gegen den Faschismus „und seine gesellschaftlichen Wurzeln“ sein. Es wird Zeit, dass wir in unseren eigenen Reihen diskutieren, wie wir die bisherigen Pfade der trotz solch grossen Enthusiasmus immer wieder erfolglosen Pfade verlassen, endlich den Zug stoppen, dem Abgrund den Rücken und uns dem Leben zuwenden.

Hans Christoph Stoodt

Fussnoten:

[1] Der zitierte Satz wird immer wieder Dietrich Bonhoeffer zugeschrieben, ohne dass sich das so eindeutig verifizieren liesse wie jener andere des Theologen und kurz vor der Befreiung 1945 vom Staat ermordeten antifaschistischen Widerstandskämpfers. Angesichts des ersten staatlich angeordneten Boykotts jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 forderte Bonhoeffer, man müsse „dem Rad in die Speichen fallen“ anstatt sich nur unter die unter Räder Gekommenen zu kümmern.

[2] Ansprache in französischer, russischer, polnischer, englischer und deutscher Sprache auf der Trauerkundgebung des Lagers Buchenwald am 19. April 1945“, Buchenwaldarchiv Sign. NZ 488, hier ziziert nach: Carlebach, Emil; Schmidet, Willy, Schneider, Ulrich: Buchenwald. Ein Konzentrationslager. Berichte – Bilder – Dokumente, herausgegeben im Auftrag der Lagergemeinschaft Buchenwald-Dora, Köln 2000, Faksimile des Textes der Ansprache auf der inneren hinteren Umschlagseite.

[3] Brecht, Bertolt, Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit (1934/35), Online: http://www.gleichsatz.de/b-u-t/spdk/brecht2.html.