Der Zusammenhang zwischen ihrer Existenz, dem türkischen Staatsapparat und den bevorstehenden Wahlen sollte sich an diesem Freitagstreffen erneut zeigen.
Es ist heiss, die Nachmittagssonne brennt und überall hängen kleine Fähnchen, die bunt an Häusern und Lampenmasten über den Köpfen der Passanten im Wind flattern. Sie repräsentieren verschiedene Parteien. In Amed dominiert die HDP. Durch das Urfa Tor führt eine gerade Strasse aus der Altstadt bis zum İstasyon Meydanı, dem Bahnhofplatz. Es herrscht eine fröhliche Stimmung. Unterwegs sind Gruppen von Jugendlichen und viele Familien mit Kindern. Die ganze Stadt scheint sich auf den Weg gemacht zu haben, Junge, Alte, Kurd_innen, Alevit_innen, Türk_innen, Lesben, Schwule und Transmenschen – zehntausende feiern gemeinsam die HDP, die Partei der „Völker“. Um zur Bühne zu gelangen, ist eine Durchsuchung nötig, die von Sicherheitskräften vor den Eingängen entlang der Kategorien der Zweigeschlechtlichkeit durchgeführt wird.
Ein flüchtiger Blick in die Taschen – die Sicherheitsmassnahmen sind eher lasch. Einige Meter weiter erfolgt eine zweite Sicherheitskontrolle, diesmal durch selbstorganisierte Kräfte, die eine genaueren Blick in die Taschen werfen und abtasten. Danach sieht man nur noch die, die sich versammelt haben, um gemeinsam die Partei zu feiern. Auffällig ist die sichtbare Abwesenheit der Polizei vor Ort. Die Massenveranstaltung wird nicht durch ein breites Polizeiaufgebot kontrolliert, lediglich an den Eingängen stehen einige Uniformierte. Um so augenfälliger ist die Präsenz einiger Wasserwerfer und kleiner, mit Gewehren und aktiven Kameras ausgestatteten, Panzerfahrzeugen in Tarnfarben. Die Sorge der Polizei scheint zuerst ihrer eigenen Sicherheit zu gelten.
Die Wahl steht kurz bevor, es ist die letzte grosse Kundgebung der Partei, die 2012 aus dem HDK, dem Demokratischen Kongress der Völker, als ein Zusammenschluss von Armenier_innen, Assyrer_innen, Alevit_innen, linken Parteien, der kurdischen BDP, Umweltaktivist_innen, Teilen der Gezi-Bewegung und LGBTQI-Organisationen u. a. hervorgegangen ist. In der gesamten Türkei fand die Partei nicht zuletzt deswegen grossen Zulauf, da eine Diktatur Erdoğan über den Einzug der Partei ins Parlament verhindert werden kann.
Bei den Parlamentswahlen 2015 trat die HDP erstmals als Partei an, die 2011 ins Parlament eingezogenen Abgeordneten waren als unabhängige Kandidat_innen gewählt worden. Dies war ein riskantes Unterfangen, denn mit 10% war die Sperrklausel ausserordentlich hoch. Die HDP nahm letztlich die Hürde und verhinderte so den Umbau der Türkei in ein autoritäres Präsidialsystem. Nicht weniger wichtig für den türkeiweiten Erfolg war jedoch, dass die HDP einen antikapitalistischen Kurs und radikale demokratische Strukturen verspricht. Über kommunale Volksräte strebt die Partei eine Demokratie von unten an. Die (zwei)geschlechterparitäre Besetzung von Führungspositionen sowie Quoten für Frauen und ethnische Minderheiten sollen für innerparteiliche Gleichberechtigung sorgen. Diese Strukturen sind im Zusammenhang mit der parteilichen Tradition der – in der Türkei, Europa und den USA verbotenen – Arbeiterpartei Kurdistans PKK zu sehen, die sich seit ihrer Gründung im Jahr 1978 an Geschlechterfragen und der politischen Organisation der Gesellschaft abarbeitet. Auch die revolutionären Entwicklungen in Rojava schliessen an diese Genese an.
Übergriffe im Wahlkampf
Die Verbindungen zur PKK sind es, die durch die AKP-Regierung und Erdoğan zur Diffamierung der HDP instrumentalisiert werden und die Partei bei vielen türkischen Wähler_innen auf Ablehnung stossen lässt. Doch auch im Südosten der Türkei hat die Bewegung mit reaktionären Kräften wie mit der islamistischen Partei Hüda Par und der nationalistischen MHP (die „Grauen Wölfe“) zu kämpfen. Immer wieder wurde die Partei während des Wahlkampfes angegriffen. Am 18. Mai kam es in Adana und in Mersin zu zwei Bombenanschlägen auf Parteibüros der HDP, insgesamt wurden sechs Menschen verletzt.Noch in derselben Woche wurden am 23. Mai in Amed zwei HDP-Mitglieder von Anhängern der Hüda Par mit Messerstichen attackiert. Am 3. Juni wurde in der Provinz Bingöl ein Wahlkampfwagen der HDP angegriffen, der Fahrer, Hamdullah Öğe, wurde gefoltert und ermordet. In der Provinz Erzurum wurde am 4. Juni im Rahmen einer Wahlkampfveranstaltung ein mit HDP-Fahnen versehener Minibus von türkischen Nationalist_innen angegriffen und angezündet. Die Polizei sah zu wie die Faschist_innen versuchten den Fahrer bei lebendigem Leibe zu verbrennen, er erlitt schwere Verbrennungen. Zwischen dem 23. März und dem 5. Juni zählt die türkische Menschenrechtsorganisation İHD 176 Angriffe auf die HDP.
Auch die Feier am 5. Juni wurde zum Ort der reaktionären Gewalt. Als wir gerade ins Gespräch mit einer ca. zwanzigköpfigen, mit Regenbogenfahnen deutlich sichtbaren, LGBTQI-Gruppe gekommen sind, vernehmen wir laute Knalle und Rauch am Rande des Bahnhofplatzes İstasyon Meydanı. Zunächst befürchten wir nichts Schlimmeres, die Menschen sind unruhig aber nicht panisch. Doch als die Menge eine Gasse entlang der İstasyon Caddesi bildet und Verletzte auf Händen abtransportiert werden, wird das Ausmass der Gewalt deutlich. Wie wir später erfahren, detonierten zwei Bomben, vier Menschen kamen ums Leben und hunderte wurden verletzt. Es ist die Fortsetzung einer Serie von Gewalttaten, deren Aufklärung der türkische Staat bislang kaum nachgegangen ist. Und auch bei der Kundgebung am 5. Juni in Amed stellen sich Polizei und Militär, zwei Institutionen, die auch in der Türkei fast nicht auseinanderzuhalten sind, gegen die Bevölkerung.
Noch vor der Rede ihres männlichen, im Wahlkampf im Vordergrund stehenden Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş – kurz vor dessen Auftritt erfolgte der Anschlag – wird die Kundgebung abgebrochen. Unmittelbar danach setzt die Polizei Tränengas ein, um die Versammlung, aufzulösen. Der Einsatz von Tränengas ist völlig unangebracht, die meisten Menschen befinden sich ohnehin auf dem Weg zum Ausgang, wo sie sich in Sicherheit bringen wollen. Angeblich sei die Polizei gegen Steinewerfer vorgegangen. Doch sind um die Explosionsstelle, zumindest was die İstasyon Caddesi angeht, keine Ausschreitungen zu beobachten. Und vor allem ist niemand zu sehen, gegen den sich diese Ausschreitungen hätten richten können, weit und breit niemand der dieses staatlichen „Schutzes“ bedürfte. Ohne Frage jedoch hätte der Tränengaseinsatz zu einer Massenpanik und zum Niedertrampeln von Versammelten führen können.
Bezeichnend ist die Ruhe, die Erfahrung, mit der die Menschen dieser Provokation der Staatsgewalt begegnen und somit weitere Opfer verhindern. Eine Stunde nach dem Anschlag ist der Platz deutlich leerer geworden. Polizeibeamte sind weiterhin nicht zu sehen, sie verstecken sich in gepanzerten Fahrzeugen, in denen sie durch die Strassen rasen. Den verbliebenen Demonstrant_innen begegnet die Polizei mit Wasserwerfern – aus den Opfern von gerade Täter_innen machend. Ganz nebenbei vernichtet die Polizei auch Beweise und provisorische, mit HDP-Fähnchenketten gezogene, Absicherungen des Tatorts, als sie die Stätte des Attentats mit Wasserkanonen spült.
Der İstasyon Meydanı ist jetzt nahezu leer. Doch trotz des Bombenanschlags und der Polizeigewalt wurde die Kundgebung nicht unterbunden. Spontan wird sie einige Kilometer weiter, vor dem Sitz der HDP, fortgeführt. Hier spricht schliesslich der Co-Vorsitzende Demirtaş vom Dach eines Busses aus. Er appelliert an die Menge, die Wahl nicht durch gewaltvolle Aktionen zu gefährden. Nach der Kundgebung ist die Lage angespannt, doch bleibt die Stadt verhältnismässig ruhig. Aus Protest haben Cafés und Läden geschlossen. Auf den Strassen äussern sich die Menschen. Von vielen wird der türkische Präsident Erdoğan für das Attentat verantwortlich gemacht. Von den Balkonen ertönt rhythmischer, mit Geschirr erzeugter Lärm und visuell kommt der Widerstand durch das An- und Ausschalten des Lichts zum Ausdruck. Ein lauter aber friedlicher Protest.
Wahlkampfautos der HDP fahren durch die Stadt und fordern dazu auf, Ruhe zu bewahren – schliesslich sind es nur noch zwei Tage bis zur Wahl. Die Bombenanschläge werden wie andere während des Wahlkampfs verübte Anschläge als Provokation verstanden, sie sollen den demokratischen Einzug der HDP ins Parlament verhindern, beispielsweise über die Kriminalisierung der Partei oder über einen breit angelegten Militäreinsatz, und somit einen wichtige Schritte in Richtung eines friedlichen Zusammenlebens zu Nichte machen.
Die HDP – eine queere Partei?
Die LGBTQI-Gruppe haben wir im Durcheinander des 5. Juni aus den Augen verloren. Angetan von der Kraft und Vielfältigkeit der Widerstandsbewegung suchen wir den Kontakt zu Hebûn, einer ortsansässigen LGBTQI-Organisation. Welche Rolle spielt der kurdische Widerstand für die LGBTQIs von Amed? Wie gehen LGBTQI-Communities mit der politischen Situation in Kurdistan um? Und in welchen Beziehungen stehen sie zur HDP? Sind von der Heteronormativität abweichende Sexualitäten wirklich in die Partei eingebunden wie das Wahlprogramm der HDP und die Aufstellung queerer Kandidat_innen glauben machen?Noch in Deutschland sprang uns auf Veranstaltungen der HDP und auf dem Wahlflyer der Aufruf der Partei zum Kampf um die Rechte der LGBTQI-Community ins Auge. In anschliessenden Publikumsgesprächen fiel uns allerdings auf, dass dieses Thema nie richtig diskutiert wurde. Wir fragten uns, für wen es so wichtig war LGBTQI-Gemeinschaften zur Wahlkampfsache zu machen und warum? Standen Parteimitglieder oder ein breiteres gesellschaftliches Interesse hinter dieser Entscheidung? Oder handelte es sich eher um leere Rhetorik oder gar eine Art Homonationalismus, der seine Nation erst noch schafft? Ein eher „konservativer“ Anhänger der HDP und Hotelbetreiber aus Amed war sich sicher, dass die Partei durch diesen Programmpunkt eher Stimmen verlieren als gewinnen würde. Einen Gegengedanken äusserten unsere Gesprächpartner_innen bei Hebûn, die die Überzeugung vertraten, dass die Partei mit diesem Anspruch gerade bei Jüngeren Stimmen gewinnen würde.
Doch ist dieses Vorgehen nicht alleine auf Taktik und Kalkül zurückführbar. Laut Barış Sulu, einer der LGBTQI-Kandidat_innen der HDP, waren LGBTQIs von Anfang an in die Partei involviert.(1) Eine politisch aktive Person aus der kurdischen Bewegung erklärt uns, dieses Interesse der Partei sei einfach selbstverständlich und ergebe sich aus der Überzeugung von der Gleichheit und Freiheit der Menschen. Von daher sieht sie nichts Ungewöhnliches in den Parolen, sie gehören einfach dazu – wer Öcalan gelesen habe, könne nicht anders denken, unterstreicht sie. Wichtig sei es jetzt die konservativeren Teile der Bevölkerung, auch die konservativen HDP Anhänger_innen, davon zu überzeugen und diese Gedanken zu leben.
Was die Ereignisse in Kurdistan und auch Bewegungen in der gesamten Türkei auszeichnet, ist die Heterogenität des Widerstands. Auch die Istanbuler Gezi-Proteste von 2013 wurden von einer beeindruckenden Vielheit getragen. Unter anderen beteiligten sich LGBTQIs, Umweltaktivist_innen und Fussballanhänger_innen, an dieser Stelle ist insbesondere der Fanclub Çarşı zu nennen. Die „Demokratische Partei der Völker“ reterritorialisiert den Begriff des Volks, sie umspannt nicht nur Armenier_innen, Kurd_innen, Jesid_innen und Alevit_innen sondern auch LGBTQIs, Tierrechtler_innen und Umweltaktivist_innen.
In Amed/Diyarbakır ist die Organisation Hebûn aktiv. Genauso wie die in Ankara ansässige Organisation Kaos GL wirkt Hebûn am Demokratischen Kongress der Völker (Halkların Demokratik Kongresi, HDK) mit, und ähnlich wie Kaos GL entschied der Verein, sich nicht durch die parteilichen Strukturen der HDP einschränken zu lassen, nicht Teil der Partei zu werden.(2) Dennoch unterstützen beide Vereine die HDP ausdrücklich. Am Tag nach der Wahl – die HDP hat mit 13,11 Prozent der Stimmen die Hürde überwunden – erfahren wir im Gespräch mit Hebûn von der Bedeutung des kurdischen Kampfes und der HDP für kurdische LGBTQIs. Fern von neoliberaler Vereinnahmung ist die Bewegung entschieden politisiert, gemeinsam mit Armenier_innen, Tierschützer_innen und ökologischen Bewegungen u. a. kämpft die Gruppe gegen Unterdrückung entlang der Kategorien Geschlecht, Ethnizität, Spezies und Klasse.
Offen von der Heteronormativität abweichendes Begehren zu leben, ist sowohl in Kurdistan als auch in der Türkei mit erheblicher Diskriminierung verbunden. Immer wieder hört man von gewalttätigen Angriffen, von Vergewaltigungen und sogar Morden, die gegen Schwule, Lesben oder Transmenschen verübt werden. Eine Vertreter_in von Hebûn erläutert uns weitere Gründe, die die Existenz von Menschen, die sich offen zu ihren nichtheterosexuellen Begehren bekennen, so schwierig macht. Neben der überwiegenden Ablehnung in der Gesellschaft bestünde die Gefahr der Isolation und Bedrohung innerhalb der eigenen Verwandtschaft und das Finden eines Arbeitsplatzes sei kaum möglich, weshalb viele LGBTQIs als Sexarbeiter_innen tätig seien. Homosexuelles Verhalten auf der Strasse zur Schau zu stellen oder sich zu „outen“, so versichert uns die Hebûn Community, sei ein lebensgefährliches Unterfangen.
Nicht weniger heikel ist die organisatorische und finanzielle Situation von Hebûn. Weil die Gruppe oft regierungskritische Veranstaltungen plane, erfahre sie von Seiten des türkischen Staats keine finanzielle Unterstützung. Nach Angaben von Hebûn ist es einfacher Unterstützung aus dem Ausland, aus Westeuropa oder aus den USA, zu erhalten. Jene wenigen Förderungen, die der Organisation durch den türkischen Staat zukommen, hätten zur Bedingung die LGBTQI-Community gar nicht zu erwähnen. Hebûn habe enorme Probleme einen festen Standort zu unterhalten. Alleine im letzten Jahr mussten sie den Sitz sechs Mal wechseln. Während auf der Strasse der Wahlerfolg gefeiert wird, unterhalten wir uns in einem unscheinbaren Büro. Weder Schilder noch Symbole verweisen auf die Existenz der Organisation.
Beim Betreten der Wohnung sind die Monitore des von ihrer Seite angelegten Überwachungssystems mit vier Kameras nicht zu übersehen. Auf die Frage, ob derartige Sicherheitsmassnahmen üblich seien, antworten sie, eigentlich nicht, für sich selbst betrachten sie sie allerdings als (über)lebensnotwendig. Umso mehr verwundert deshalb die sichtbare Präsenz der LGBTQI-Communities auf organisierten Veranstaltungen in den Städten der Südost-Türkei und auch auf der Kundgebung der HDP vom 5. Juni. Mit Regenbogenfahnen ausgestattete und sich öffentlich küssende Queers waren an diesem Tag vielleicht nicht die zahlenmässig am stärksten vertretene Gruppe, aber inmitten der Veranstaltung waren sie sichtbar und laut. Hebûn verdeutlicht uns, dass gerade die HDP eine institutionelle Rückendeckung für diese Menschen ist, dass gerade sie bedeutend dazu beiträgt, dass sie sich sicherer fühlen können, auch deswegen, da die HDP mit ihrer politischen Agenda eine Art Bildungsarbeit leistet.
Die Bedeutung der Philosophie Abdullah Öcalans
Von Gewicht ist auch hier, bei Hebûn, „Apo“, Abdullah Öcalan. Der Zuspruch, den dieser Mann, stets auch von Kritik begleitet, erfährt, gibt uns zu denken. Seine Schriften werden immer dann zitiert, wenn über Fragen des Geschlechts und der politische Organisation der Gesellschaft reflektiert wird. Öcalan ging nicht von einer Ursituation der Geschlechtergleichheit aus, sondern von den Geschlechterverhältnissen des Neolithikum, wird uns bei Hebûn erklärt. Und tatsächlich nimmt Öcalans Analyse „Liberating Life: Woman's Revolution” ihren Ausgang von angenommenen egalitären Geschlechterverhältnissen matriarchaler Gesellschaften des Neolithikum.(3)Die Historisierung dieser Geschlechterrollen steht ihrer Natürlichkeit entgegen. Was andererseits im weiteren Verlauf von Öcalans Ausführungen auf natürliche weibliche und männliche Eigenschaft verweist, ist die Rede von emotionaler und analytischer Intelligenz. Erstere, dem Weiblichen zugeschriebene Form berge das Potential eines egalitären Zusammenlebens.(4) Diese beiden Formen der Intelligenz sind dabei nicht ausschliesslich an einen biologischen Geschlechtskörper gebunden, vielmehr kommen sie gemeinsam bei beiden vor.(5)
Sicherlich können diese geschlechtlichen Rollenzuschreibungen als essentialistisch kritisiert werden. Diese Kritik würde allerdings zugleich Gefahr laufen die historische Eingebettetheit dieser spezifischen Form des Feminismus aus einer elitären, weissen, akademischen Perspektive zu verkennen. Und an dieser Stelle muss betont werden, dass diese Jineolojî („Wissenschaft der Frau“), wie Öcalan es nennt, von mehreren unserer Gesprächspartner_innen nicht alleine Öcalan zugeschrieben wird, sondern als Resultat des Zusammenwirkens des Autors mit einer starken Frauenbewegung verstanden wird. Zudem geht es Öcalan nicht einfach um die Befreiung der Frau, er fordert auch den „Tod“ des (modernen) Mannes, man könnte vielleicht auch sagen ein allgemeines Frau-Werden. Dieser Tod bedeute zugleich auch die Befreiung des Mannes, den die Ausbeutung, an deren Anfang nach Öcalan die Versklavung der Frau steht, im Spätkapitalismus genauso betrifft.(6)
Der Tod des Mannes hat ferner Auswirkungen auf sämtliche durch ihn geschaffenen Errungenschaften der Moderne – zum Beispiel auf die modernen Wissenschaften. Die Jineolojî, die emotionale Intelligenz zur Quelle von Erkenntnis macht, bietet somit auch einen alternativen epistemologischen Zugang. Was unserer Ansicht nach im Vordergrund der Auseinandersetzung mit der Jineolojî stehen sollte, ist ihr emanzipatorisches, gesellschaftskritisches Potential, das, sofern es gelingt ihre Kategorisierungen flexibel zu halten, von enormer Kraft sein kann und eine breite gesellschaftliche Wirkung entfalten kann – was akademische, westeuropäischen feministische Bewegungen oft verfehlen. Denn praktisch hat die kurdische Frauenbewegung bereits sehr viel erreicht.
Die Dichotomisierung in männlich und weiblich kann in diesem Zusammenhang als Instrument zur Schaffung einer egalitäreren Ordnung gesehen werden. Abgelöst von Öcalan, vor dem Hintergrund der Einbeziehung queerer Sexualtiäten z. B. durch die HDP, gewinnt diese Zweigeschlechtlichkeit eine strategische Natur. Zudem kommt in der Partizipation von LGBTQI-Gruppen und ökologischen Bewegungen die von Öcalan geförderte Zerstörung des (modernen) Mannes zum Ausdruck.
Im Kontext der türkischen Parlamentswahlen sind ausserdem seine Ausführungen zum Staat und zum gesellschaftlichen Zusammenleben zu beachten. Sowohl die Organisation und die Programmatik der HDP und des HDK als auch die revolutionären Ereignisse in Rojava auf der anderen Seite der türkisch-syrischen Grenze tragen die Züge von Öcalans Konzept des „demokratischen Konföderalismus“.(7) Seit seiner Inhaftierung ist in Öcalans theoretischem Werk eine entschiedene Abkehr vom modernen Konzept des Nationalstaats, hin zu demokratischen, multiethnischen, sämtliche Minoritäten umfassenden Rätestrukturen feststellbar. Auch vor dem Hintergrund des Vorwurfs, die aktuellen Entwicklungen werden von „Serok Apo“ und der PKK dominiert, versprechen die propagierten Modelle ein Aufbrechen gesellschaftlicher Hierarchien und revolutionäre Veränderungen.
Seit der Gründung der PKK im Jahr 1978 sind mit ihrem Widerstand verknüpfte emanzipatorische Einflüsse nicht zu verkennen und entschieden hervorgehoben werden muss die parteiinterne Selbstkritik und -veränderung. Gerade die Genese aus der PKK sorgt für eine massenergreifende politische Kraft, die westeuropäischen linken Bewegungen derzeit abgeht. (8)
Auch die politischen Entwicklungen in Kurdistan werden durch männliche Authorität getragen. So stand im HDP-Wahlkampf trotz der paritären Orientierung der Co-Vorsitzende Demirtaş im Vordergrund und überall übt in kurdischen Gesellschaften Öcalan seinen Einfluss aus. Paradoxerweise ist es jedoch gerade diese männliche Authorität, die die Geschlechterverhältnisse in Kurdistan, das Patriarchat, Vorstellungen von Familie, Identität und Volk und nicht zuletzt das Konstrukt des Nationalstaats radikal verändert. Sicherlich ist es nicht so, dass diese Entwicklungen alleine dem Geiste Öcalans zuzuschreiben sind. Eher sind Öcalans Texte und Aussagen als Verknotung aktiver emanzipatorische Bewegungen, allen voran der kurdische Frauenbewegungen, und theoretischer Reflexion, die über die politische Person verstärkt werden und auf die Gesellschaft rückwirken, zu verstehen.
Was in Kurdistan entsteht, sind neue demokratische, antiidentitäre, antikapitalistische, politische Kräfte, die ein enormes gesellschaftsveränderndes Potential bergen. Die Hoffnung, die auch westeuropäische Linke und Anarchist_innen in die revolutionären Umbrüche in Kurdistan setzen, ergibt sich nicht zuletzt aus einer Kultur der Selbstreflexion. Bleibt diese den aktuellen Entwicklungen verhaftet, könnten sich diese radikalen Gesellschaftsentwürfe fruchtbar ausbreiten. Doch hat die Bewegung mächtige, sich geschickt verschleiernde Feinde.
Wie das Bombenattentat von Amed deutlich macht, ist diese Entwicklung ständig in Gefahr, bedroht von reaktionären Einflüssen, dem türkischen Staat auf der einen, dem Islamischen Staat auf der anderen Seite der Grenze, und nicht zuletzt droht dem kurdischen Kampf, was im irakischen Kurdistan zum Teil bereits eingetroffen ist, eine neoliberale Vereinnahmung. Letztere Tendenz wird beispielsweise in der medialen Stilisierung der Kämpfer_innen der YPJ als, wie Dilar Dirik es ausdrückt, „Badass“ Amazonen (9) oder in der Verzerrung des Co-Vorsitzenden der HDP Demirtaş als „kurdischer Obama“ spürbar.