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Israel-Gaza-Krieg: Anmerkungen zur Frage der Gewalt (Teil 1)

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Der Israel-Gazakrieg - heute Israel-Gaza-Krieg: Anmerkungen zur Frage der Gewalt (Teil 1)

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Politik

Am 7. Oktober, dem 50. Jahrestag des Jom-Kippur-Krieges, startete die "islamische Widerstandsbewegung" (Hamas) unter dem Titel "Operation Al Aqsa-Flut" vom Gazastreifen aus einen in mehrfacher Hinsicht spektakulären und überraschenden Angriff auf israelisches Territorium.

Iron Dome Radar.
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Iron Dome Radar. Foto: משתמש (GNU Free Documentation License Version 1.2)

Datum 29. November 2023
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"We've decided to say enough is enough.This is the day tof the gratest batttle to end the last occupation and the last apartheid regime on earth." (Mohammed Deif, 7.10.2023)1

Es gelingt der Islamischen Widerstandsbewegung Hamas, mit ihren Raketen den berühmten isaelischen Raketenabwehrschirm "Iron Dome" zu überfordern, den Grenzzaun zwischen dem Gazastreifen und Israel zu überwinden, auf israelisches Territorium vorzudringen, etwa 1.200 israelische Staatsbürger zu töten, 4000 Menschen zu verletzen; und darüber hinaus über 200 Menschen als Geiseln gleich welchen Alters, Geschlechts oder Nationalität gefangen zu nehmen und in den Gazastreifen zu verschleppen. Im Zuge dieses Angriffs veranstaltete die islamische Widerstandsbewegung Hamas ein Blutbad, ein Massaker unter unbewaffneten und wehrlosen Zivilisten.

Einen Grund für diese kriegerische Gewaltaktion hat die Islamische Widerstandsbewegung Hamas noch am selben Tag der Region vor Ort und der Weltöffentlichkeit mitgeteilt: Der letzten Besatzungsmacht und dem letzten Apartheitsregime auf dieser Welt soll ein Ende bereitet werden (Mohammed Deif).

Diese kriegerische Gewaltaktion hat zum Einen mit dem angestellten Massaker und der Geiselnahme für die politische Führung Israels und für die westliche Wertegemeinschaft einen ungeahnten, einen vorteilhaften Nutzen entfaltet, mit dem die Hamas so nicht gerechnet hat: Unter Fingerzeig auf das angerichtetes Massaker und die Geiselnahme entfacht und entfesselt die westliche Wertegemeinschaft die Proklamation und den Einsatz des Bildes eines beispiellosen, eines gleichsam biblisch-schicksalhaften Kampfes des absolut Guten gegen das absolut Böse:

"This will be a victory of good over evil, of light over darkness, of life over death...Israel is fighting not only its war, but a war for all of humanity – the war of humanity against barbarism." (Netanyahu, 28.10.2023)2

Diesem dramatischen Bild nach, ist die islamische Widerstandsbewegung Hamas nichts als eine reine "Terror"-Organisation und die in der Operation "Al Aqsa-Flut" angewendete Gewalttat blanke "terroristische" Gewalt. Terroristische Gewalt nicht als eine spezifische Form der Gewaltanwendung gedacht, sondern als Emanation eines durch und durch bösen Geistes, eines luziferischen Willens, dem es in seiner Vernichtungswut und Vernichtungslust um nichts, als eben um die Vernichtung geht. Hier um die Vernichtung Israels. Den Beweis dafür habe die Hamas mit ihrem Angriff damit erbracht. Weshalb sie in der westlichen Wertegemeinschaft dem proklamierten, moralischen Verachtungs- und Verdammungsurteil anheim fällt.

Verlangt ist eine bedingungslose Verurteilung dieser kriegerischen Gewaltanwendung ohne Wenn und Aber. Ineins damit erübrigt sich jede nähere, um Neutralität und Objektivität bemühte Beurteilung und nähere Befassung mit dem Phänomen der islamischen Widerstandsbewegung Hamas. Auch erübrigt sich jede Frage nach dem Grund oder den Gründen ihrer kriegerischen Gewaltaktion vom 7. Oktober. Eine "Kritik der Gewalt" (W.Benjamin)3 hat im Fall der Hamas-Gewalt identisch zu sein mit ihrer moralischen Verurteilung, ist also alles andere als eine Kritik der Gewalt.

Moralisch-ethisch vollkommen inakzeptabel, so gut wie undenkbar, unvorstellbar, ist in der Sichtweise der westlichen Wertegemeinschaft der Versuch des israelischen Journalisten und Mitherausgebers der israelischen Tageszeitung "Haaretz" Gideon Levy, eine Kritik der Hamas-Gewalt zu leisten, die gar beinhaltet:

"...sollten wir für einen Moment innehalten und der Hamas zuhören. Es möge uns für einen Moment erlaubt sein, sich in sie hineinzuversetzen, ja vielleicht sogar den Wagemut und die Widerstandskraft zu würdigen von diesem, unserem bittersten Feind." (Gideon Levy, was will die Hamas wirklich?, 15.1.2019)4

Zum anderen hat die Operation Al Aqsa-Flut seitens der politischen Führung Israels eine prompte und unmissverständliche praktische Gegenreaktion hervorgerufen: In der Form eines mehrfach abgegebenen Versprechens an sich selbst, an die Hamas, an die Palästinenser, auch an die in der Region verstreuten Palästinenser, an die israelische Bevölkerung, an die arabisch-muslimische Nachbarschaft und Welt und an die Weltöffentlichkeit:

"All of the places which Hamas is deployed, hiding and operating in, that wicked city, we will turn them into rubble" (Netanyahu, 8.10.2023)5

Versprochen ist also, ganz Gaza, "...diese böse Stadt in Schutt und Asche zu legen", " in eine Ruine zu verwandeln". Mit anderen Worten:

Ihr habt gesehen, gegen was wir kämpfen. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere. Das ist der IS [der Islamische Staat] von Gaza...Gaza wird nie mehr das sein, was es einmal war. Wir werden alles zerstören." (Yoav Gallant, israelischer Verteidigungsminister, 10.10.2023)6

Eine angekündigte Gewaltaktion, die als Ringen des Lichts gegen die Finsternis, als endzeitlicher Kampf des absolut Guten gegen das absolut Böse, gleichsam von Natur mit dem Signum der sittlich gerechten Gewalt geadelt ist. Alle Gewalthandlungen dieser Gewalt sind von Anbeginn an um der Humanität und Menschlichkeit gegen die Barbarei willen mit höheren Weihen gesegnet. Anders gesagt:

Gegenwärtig scheint das eine besonders aussichtsreiche Art der Rechtfertigung von Kriegen zu sein. Der Krieg spielt sich dann in der Form des jeweils „endgültig letzten Krieges der Menschheit" ab. Solche Kriege sind notwendigerweise besonders intensive und unmenschliche Kriege, weil sie, über das Politische hinausgehend, den Feind gleichzeitig in moralischen und anderen Kategorien herabsetzen und zum unmenschlichen Scheusal machen müssen, das nicht nur abgewehrt, sondern definitiv vernichtet werden muss, also nicht mehr nur ein in seine Grenzen zurückzuweisender Feind ist. (C.Schmitt, 1932)7

Auf diese Weise mit höheren Werten versehen ergeht an die israelische Armee und Soldaten ein unter dem Titel "Swords on Iron" erteilter militärisch-operativer Dienstauftrag mit dem Inhalt, "...to eradicating this evil from the world...". (Netanyahu, 28.10.2023).8 Israel macht die Welt bekannt mit dem Vorhaben, den Gazastreifens in einen wahrhaften "Trauma-Ozean"9 zu verwandeln.

Demgemäss hat die politische Führung Israels noch am 7. Oktober mit der Operation "Swords on Iron" eine sehr spezifische Gewaltaktion ins Werk gesetzt: Und zwar eine, die nach allen Regeln der Kriegskunst und Kriegsführung zu exekutieren ist, die solch ein Unternehmen nun einmal erfordern, soll der unmenschlich scheusalhafte Feind definitiv vernichtet werden. Zugleich will diese Gewaltaktion den Palästinensern in der gesamten Region und der regionalen Nachbarschaft eine anschauliche Lehre erteilen. Eine Lehre, die sie so schnell nicht mehr vergessen werde.

Die westliche Wertegemeinschaft ergreift Partei

Die Reaktion der politischen Führer der westlichen Wertegemeinschaft auf diesen vor aller Augen verkündeten "Ausrottungskrieg" (Kant,1795)10 durch die israelische Armee lässt auch nicht auf sich warten: Sie reisen nach Israel und bekunden ihre "unverbrüchliche Unterstützung" (O.Scholz, 8.10.2023),11 ihr unverrückbares Einverständnis mit dem angekündigten Ausrottungskrieg gegen die islamische Widerstandsbewegung Hamas - einschliesslich des israelischen Versprechens, ganz Gaza, "diese böse Stadt", in Schutt und Asche zu legen, in eine Ruine, in einen Trauma-Ozean zu verwandeln.

Eine schier bedingungslose Parteinahme für einen Ausrottungskrieg gegen die Hamas als eben ein "Kampf gegen menschliche Tiere" (Yoav Gallant). Die transatlantische Parteinahme für den Ausrottungskrieg gegen die menschlichen Tiere ist gesichert: "So, in this moment, we must be crystal clear: We stand with Israel. We stand with Israel." (Biden, October 10, 2023)12 Die deutsche Parteinahme versteht sich ohnehin wie von selbst: "In diesem Moment gibt es für Deutschland nur einen Platz: den Platz an der Seite Israels." (O.Scholz, Regierungserklärung, 12.10.2023)13

Als für die arabisch-muslimische Region in erster und letzter Instanz allein zuständige Aufsichts- und Ordnungsmacht sieht sich die westliche Wertegemeinschaft, allen voran die USA, herausgefordert, Israel konkrete, militärische Unterstützung anzubieten, damit auch Israel wie die Ukraine alles bekommt, was es für seinen Ausrottungskrieg gegen die menschlichen Tiere benötigt.

So hat auch Deutschland im Zuge der gegenwärtigen Ausgestaltung des Kriegsbündnisses mit Israel zur materiellen Waffenbrüderschaft "erheblich mehr Rüstungsexporte für Israel genehmigt." (Süddeutsche Zeitung, 8.11.2023)14 Nämlich seine

Rüstungsexporte nach Israel fast verzehnfacht. Deutschland hat bis Anfang November dieses Jahres deutlich mehr Rüstungsexporte nach Israel genehmigt als im Vorjahr. Der Wert der Waren stieg von 32 auf 303 Millionen Euro. Der Grossteil wurde seit Kriegsbeginn bewilligt. (tagesschau, 8.11.2023)15

Schliesslich, auch darin erweist sich etwa Deutschlands glaubwürdige "Kriegstüchtigkeit" (B.Pistorius, Bundeswehrtagung 10.11.2023)16:

"Eine verantwortungsvolle Rüstungspolitik...unterstützt auch unsere bewährten Partner ausserhalb der EU und NATO, die unmittelbaren Bedrohungen ausgesetzt sind." (Pistorius) - wie Israel in seinem gegenwärtigen Ausrottungskrieg gegen die islamische Widerstandsbewegung Hamas und in seinem Lehrunterricht für die Palästinenser. Denn, zur "Grundlage für eine weltweite Handlungs- und Reaktionsfähigkeit" (Verteidigungspolitische Richtlinien 2023)17 gehören "Stabilisieren und resiliente Partner aufbauen als Beitrag zum Internationalen Krisenmanagement." (Ebd.: 19)

So ist die westliche Wertegemeinschaft als faktische Kriegspartei im Ausrottungskrieg gegen die Hamas mitbeteiligt. Angemeldet ist mit dieser praktischen Kriegsteilnahme der Anspruch, den israelisch geführten Ausrottungskrieg als Anlass und Gelegenheit zu nehmen, sich bei der Neugestaltung des Nahen und Mittleren Osten als massgebliche und nicht zu übergehende Ordnungs- und Gestaltungsmacht ins Spiel zu bringen: Von Deutschland und Europa aus einerseits gegenüber und in Konkurrenz zu den USA; andererseits mit den USA als gemeinsame Frontstellung und Zurückweisung jeglichen Versuchs einer Einflussnahme seitens Chinas und Russlands, bei der Neuordung der Region mittels strategischer Partnerschaften vor Ort. Chinas und Russlands Machenschaften etwa als BRICS bzw. als BRICS-Plus unter Einschluss von Saudi-Arabien und dem Iran, verdienen mit Blick auf den Nahen und Mittleren Osten eine besondere Aufmerksamkeit.18

Die politische Führung Israels hat zwar nicht darauf gewartet, nimmt die ausdrücklichen Solidaritätsbekundungen und die konkreten militärischen Unterstützungsleistungen ihrer westlichen Werte- und NATO-Partner als genau das, was sie sagen wollen und was sie auch sind: als einen vom Westen abgesegneten Freibrief für den von Israel ohnehin beschlossenen Ausrottungskrieg. Den nimmt Israel allerdings als ein Unternehmen mit weiterreichenden Ambitionen, als nur die Hamas auszurotten und überhaupt jeglichen sonstigen oder noch kommenden palästinensischen Widerstand von vorneherein unmöglich zu machen. Die selbst gestellte Aufgabe lautet: die Endlösung der leidigen Palästinenser-Frage zu ihrem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Das erfordert einige Klarstellungen seitens Israels gegenüber den regionalen Konkurrenten vor Ort, auch an die bei seinem Ausrottungskrieg mitbeteiligten westlichen Kriegspartner.

Manfred Henle

Fussnoten:

1 Mohammed Deif, leader of Hamas's Izz al-Din al-Qassam Brigades. Erklärung zur Operation "Al Aqsa-flood", unter: https://www.aljazeera.com/news/2023/10/7/sirens-warn-of-rockets-launched-towards-israel-from-gaza-news-reports

2 Unter: https://www.gov.il/en/departments/news/statement-by-pm-netanyahu-28-oct-2023

3 Vgl. dazu: W.Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt/Main, 1965: 29-65.

4 Unter: https://www.fr.de/meinung/will-hamas-wirklich-11237807.html

5 Unter: https://twitter.com/netanyahu/status/1710828720041119818 ; in der Pressekonferenz zu dieser Ankündigung heisst es: "Any place Hamas deploys, in this evil city, all the places Hamas is hiding, operating — we will turn it into a ruin", unter: https://www.timesofisrael.com/promising-merciless-war-on-hamas-netanyahu-says-israel-will-avenge-this-black-day/

6 In einer Ansprache an die israelischen Soldaten, unter: https://www.youtube.com/shorts/vtjHcnNB0E8 ; in deutscher Übersetzung unter: https://player.odycdn.com/api/v3/streams/free/-Wir-werden-alles-zerst%C3%B6ren--%E2%80%93-Israels-Verteidigungsminister-zieht-Vergleich-zum-Islamischen-Staat/64418f5761404859d7d19f30e7cc1d04667c1543/df932f.mp4

7 C.Schmitt, der Begriff des Politischen, München, 1932: 24.

8 Unter: https://www.gov.il/en/departments/news/statement-by-pm-netanyahu-28-oct-2023

9 Diesen Begriff verwendet die an E.Levinas' Sozialphilosophie und Clausewitz orientierte, sehr überzeugende Studie von Buse Bahcelibas über das Verhältnis von Krieg, Kriegsgewalt und Traumaerzeugung als bewusst eingesetzte Kriegswaffe; vgl.: B.Bahcelibas, "Trauma-Ozean - sozialphilosophische Reflexionen", in: M.Jäckle,/B.Wuttig,/Chr.Fuchs (Hrsg.), Handbuch Trauma - Pädagogik -Schule, Bielefeld, 2017: 233-256.

10 I. Kant, Zum ewigen Frieden [1795], 1984, Stuttgart: 8.

11 Unter: https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/pressestatement-von-bundeskanzler-scholz-zur-lage-in-israel-am-8-oktober-2023-in-berlin-2228218

12 Unter: https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2023/10/10/remarks-by-president-biden-on-the-terrorist-attacks-in-israel-2/

13 Unter: https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/regierungserklaerung-von-bundeskanzler-olaf-scholz-2230150

14 Unter: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/ruestungsindustrie-erheblich-mehr-ruestungsexporte-fuer-israel-genehmigt-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-231108-99-867297

15 Unter: https://www.tagesschau.de/inland/israel-deutschland-ruestungsexporte-100.html

16 Unter: https://www.bmvg.de/de/mediathek/verteidigungsminister-wir-muessen-kriegstuechtig-werden-5701664

17 Verteidigungspolitische Richtlinien 2023. Bonn November 2023: 18 , unter: https://www.bmvg.de/resource/blob/5701724/eacb54dfc428b6808c9088402de91836/verteidigungspolitische-richtlinien-2023-data.pdf

18 Vgl. dazu KAS, BRICS-Erweiterung Geopolitische Machtverschiebung oder transaktionale Allianz?, unter: https://www.kas.de/de/brics-plus