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Ein Gespräch mit Jeff Halper: „Sie töten, sie töten, sie töten uns, und die Welt lässt es zu.“

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Ein Gespräch mit Jeff Halper „Sie töten, sie töten, sie töten uns, und die Welt lässt es zu.“

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Politik

Interview mit Jeff Halper zum Abschluss seiner Deutschland-Tour mit Auftakt Oslo und Zürich über eine politische Perspektive "nach Gaza".

Flüchtlingsstrom im zerstörten Gaza-Streifen, 29. Januar 2025.
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Flüchtlingsstrom im zerstörten Gaza-Streifen, 29. Januar 2025. Foto: Jaber Jehad Badwan (CC-BY-SA 4.0 cropped)

Datum 9. Juni 2025
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Jeff ist Mit-Initiator des Israelischen Komitees gegen Häuserzerstörungen (ICAHD)[1] und der palästinensisch geführten Kampagne für einen gemeinsamen demokratischen Staat für Palästinenser*innen und israelische Jüd*innen (ODSC)[2] im gesamten historischen Palästina. Kürzlich bereiste er Oslo, Zürich und mehrere deutsche Städte.[3]

Wir sitzen vor einem Café in Berlin-Neukölln. Immer wieder kommen Menschen vorbei, die um Geld bitten. Als sich erneut eine dürre Gestalt an uns wendet, erkenne ich meinen Nachbarn zunächst nicht – so sehr ist er in den vergangenen Monaten vor Gram abgemagert.

„Sie töten, sie töten, sie töten uns, und die Welt lässt es zu…“. Und dann: „Aber unseren Kampf können sie nicht töten.“

Ich übersetze für Jeff, und der antwortet ihm traurig (auf Arabisch): „Ja, mein Lieber, so ist es.“
Später beim Interview mit Jeff greife ich Mohameds Beschwörung des Kampfes der Palästinenser*innen auf, den „sie nicht töten“ können.

Sophia Deeg: Dieser Kampf, was ist das inzwischen genau? Es klingt oft nur noch verzweifelt, nicht wie etwas mit Perspektive. Was meinst du?

Jeff Halper: Es ist nicht nur verständlich, sondern auch absolut richtig, wenn Palästinenser*innen und wir alle, die Millionen, die weltweit den Genozid verurteilen, den Blick nicht abwenden. Und unablässig fordern, dass das Ungeheuerliche ein Ende haben muss. Ohne Aufschub. Ich denke aber, dass es zugleich unerlässlich ist – und kein Entweder/Oder – darüber nachzudenken, worum es in dem Kampf, von dem dein Freund sprach, gehen kann oder sollte – und wie er erfolgversprechend geführt werden könnte und mit welcher Perspektive über die Beendigung des Unerträglichen in Gaza hinaus, das seit Oktober 2023 immer neue, ungeahnte Formen annimmt.

Stop the Genocide – und dann? Auch die staatlichen Akteur*innen drängen darauf, dass die mörderische Kampagne Israels gegen die Palästinenser*innen bald zu einem Abschluss kommt – nicht aus Menschlichkeit, sondern damit business as usual auf der Grundlage der Befriedung zu den Konditionen Israels und denen seiner Verbündeten wieder aufgenommen werden kann. Auch die arabischen Nachbarstaaten sind ja bereits seit einiger Zeit begierig darauf, Teil eines befriedeten Westasien mit normalisierten Beziehungen zu Israel zu werden. In diesem Sinne das Treffen Trumps mit den dortigen Herrschern.

Genau da setzt nun die ODSC, die Kampagne für einen gemeinsamen Staat seiner Bürger*innen im historischen Palästina an: Diese Befriedung, diese Normalisierung des von Israel über Jahrzehnte mit brutaler Gewalt Durchgesetzten nehmen wir nicht hin.

Sophia Deeg: Mir fällt dazu Edward Said ein, der von Anbeginn an den Oslo-Prozess und den Handschlag zwischen Arafat und Rabin im Sinne der Beendigung „des Konflikts“ und von „Frieden“ im Rahmen einer „Zwei-Staaten-Lösung“ unter freundlicher Ägide von Clinton ablehnte. Auch Said setzte dem die Idee eines gemeinsamen Staates mit gleichen Rechten für alle, Palästinenser*innen und jüdische Israelis, entgegen.
Soweit ich weiss, befürwortet nach wie vor eine Mehrheit der Palästinenser*innen dieses Modell, und auch ausser dir einige Israelis wie Ilan Pappé oder Eitan Bronstein. Doch derzeit, da Palästinenser*innen in der Westbank und erst recht in Gaza, wo sie um das Überleben von einem Tag zum anderen ringen, und diejenigen in der Diaspora ebenfalls mit Blick auf die Katastrophe überwältigt sind – wie sollen sie da „in Ruhe“ über irgendein politisches Projekt nachdenken und in einer auf die Zukunft gerichteten Kampagne dafür mobilisieren?

Jeff Halper: Meine palästinensischen comrades fragen mich in diesen Monaten der Vertreibungen, des Aushungerns, der ethnischen Säuberungen, des Genozids natürlich auch, wie ich mir das vorstelle. Und es kommt ein weiterer Einwand gegen eine solche Mobilisierung hinzu: Ein deutlich überwiegender Teil der israelischen Gesellschaft, der politischen Führung allemal, spricht den Palästinenser*innen das Menschsein ab, die menschliche Würde.

Ist da nicht die Idee von einem gemeinsamen Staat, einer Gesellschaft von Gleichen zusammen mit diesen Leuten, schlicht Träumerei? Sie werden doch nichts dergleichen zulassen. – In meinem Buch, Decolonizing Israel, Liberating Palestine[4] gehe ich darauf ein. Südafrika kann in gewisser Weise als Illustration dafür gelten, wie eine siedlerkoloniale Klasse, die alle Macht im Lande hat und absolut nicht bereit ist, auf ihre Vorherrschaft zu verzichten, es unter Umständen doch tun muss – wenn dies auch längst nicht das Ende des Kampfes um vollständige Überwindung der Ungleichheit bedeutet.

In meinen Augen ist die ODSC gerade jetzt keineswegs Träumerei, sondern ein pragmatischer, realistischer Vorschlag. Schliesslich ist es im 21. Jahrhundert das Normalste der Welt, gleiche Rechte für alle Bürger*innen eines Staatsgebietes zu fordern, einschliesslich von aus diesem Gebiet Vertriebenen. Und wenn von Israel im gesamten unter seiner Kontrolle stehenden Gebiet die Ungleichheit seiner Bewohner*innen nur mit immer mehr Gewalt aufrechterhalten werden kann, dann ist das für diesen Staat und seine jüdischen Bürger*innen selber bedrohlich.

Wenn wir für eine bedingungslose Beendigung dessen eintreten, was wir gerade in Gaza und der Westbank ohnmächtig mitansehen, sollte das mit einem politischen Vorschlag seitens eines palästinensischen politischen Subjekts für das Danach verbunden sein. Falls nicht, wird die Normalisierung (von Apartheid, Vertreibung, definitiver Entrechtung) unwidersprochen durchgesetzt werden.

Die Hamas ist zuletzt vor bald 20 Jahren von den Palästinenser*innen der Westbank und Gazas gefragt worden, ob diese mit ihrer Politik einverstanden sind. Dasselbe gilt für die irgendwann gewählten Vertreter*innen der Autonomiebehörde, die im Übrigen ihre Herrschaft von Anbeginn an darauf gestützt hat, ein willfähriges Ausführungsorgan Israels zu sein.

Beide höchst fragwürdigen „Repräsentanten des palästinensischen Volkes“ beanspruchen nicht einmal, die Interessen der palästinensischen Bürger*innen Israels oder der Millionen in der Diaspora zu vertreten, von denen wiederum der grösste Teil seit mehreren Generationen rechtlos und ohne Existenzgrundlage wartet. Worauf? Auf das Selbstverständlichste: Dass ihr Recht auf Rückkehr, wie 1948 in der UN-Resolution 194 festgehalten, endlich umgesetzt wird.

Sophia Deeg: Wo also ist das palästinensische politische Subjekt, nachdem es auch die PLO schon lange nicht mehr ist? Hat sich ein solches mit der BDS-Kampagne 2005 beispielhaft konstituiert, die von einem breiten Bündnis aller Segmente der palästinensischen Bevölkerung in- und ausserhalb des historischen Palästina beschlossen wurde?

Jeff Halper: Richtig. Und die damals von einer so breiten Basis beschlossene Kampagne war und ist insofern erfolgreich, als sie Menschen in vielen Teilen der Welt überzeugt hat, kontinuierlich immer neu auf internationale und israelische Unternehmen und Institutionen öffentlichen Druck auszuüben, deren Beteiligung an Menschen- und Völkerrechtsverletzungen durch Israel die Kampagne genau nachweist und bekannt macht. Also: ein palästinensisches politisches Subjekt, das sich selbst konstituiert, schlägt „der Welt“, „allen Menschen guten Willens“, wie es im BDS-Kampagnenaufruf heisst, vor, wie sie die Palästinenser*innen darin unterstützen können, zu ihren Rechten zu kommen.

Nur, das, was die Kampagne als Minimalforderungen stellt, reicht nicht und stellt kein politisches Programm dar. So fordert BDS ein Ende der Besatzung. Doch das, was für kurze Zeit tatsächlich militärische Besatzung nach einer kriegerischen Auseinandersetzung war, ist nun schon seit Jahrzehnten etwas Anderes: ein massives siedlerkoloniales Projekt der Landnahme, Vertreibung, Entrechtung der indigenen Bevölkerung, einer Bevölkerung, die auch unter Besatzung laut Internationalem Recht z.B. auf Versorgung durch den Besatzer Anspruch hätte; deren Gebiet nicht durch massive, auf Dauer angelegte Eingriffe – z.B. die Errichtung ganzer Städte der Besatzer – tiefgreifend verändert werden dürfte. Etc.

Ich denke, gerade Deutschen könnte der Vergleich mit der Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Siegermächte die Augen öffnen. Es war, trotz des ungeheuren Unrechts, das – in dem Fall - die Besetzten (ganz anders als die Palästinenser*innen) zu verantworten hatten, eine Besatzung, die auf eine relativ kurze Zeitdauer angelegt war und die Internationalem Recht im Wesentlichen entsprach. Niemand kam auf die Idee, in dem besetzten Gebiet Städte, Infrastruktur, landwirtschaftliche Produktion etc. für die Besatzungsmächte fest zu installieren.

Wenn die BDS-Kampagne gleiche Rechte für die Palästinenser*innen Israels fordert, so ist das ein erster Schritt, um vielen Menschen die Fragwürdigkeit der israelischen Ethnocracy zu verdeutlichen. Es stellt allerdings den von Israel geschaffenen Status Quo nicht wirklich in Frage. Dieser unterteilt die Palästinenser*innen auf dem Gebiet des gesamten historischen Palästina und die Diaspora in Gruppen mit unterschiedlichen Interessen und Abstufungen der Rechtlosigkeit – wozu sie Israel nach dem kolonialherrlichen Prinzip des Teile-und-Herrsche gemacht hat.

Die BDS-Kampagne fordert, genau wie die für Einen Demokratischen Staat, die Umsetzung des Rechts auf Rückkehr für all jene, die 1948 vertrieben wurden, einschliesslich ihrer Nachkommen. In ihrem politischen Programm, entworfen von Palästinenser*innen (95%) und einigen Israelis (5%), lässt die ODSC keinen Zweifel, wohin die durch die weiterhin andauernde Nakba Vertriebenen zurückkehren werden: selbstverständlich in das ganze historische Palästina, vom Jordan bis zum Mittelmeer – weil das ihr Recht ist.

Sophia Deeg