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Der Psychologe Stanley Milgram: Experiment zu Anweisungen einer anerkannten Autorität

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Anweisungen einer anerkannten Autorität Warum fällt mir ausgerechnet jetzt das Milgram-Experiment ein?

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Politik

Jetzt, da sich endlich auch deutsche Politiker*innen, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Medienschaffende (relativ) plötzlich unumwunden zur humanitären Katastrophe in Gaza äussern, diese als solche bezeichnen, es vereinzelt sogar wagen, in diesem Zusammenhang das verpönte G-Wort in den Mund zu nehmen?

Der Psychologe Stanley Milgram.
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Der Psychologe Stanley Milgram. Foto: harvard Department of Psychology (CC-BY-SA 4.0 cropped)

Datum 16. August 2025
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Ja, sie stellen sogar Forderungen an „unsere (wahlweise noch intimer: „meine“) israelischen Freunde“, nicht ohne sie immer neu ihrer, „unserer-als-Deutsche-wegen-unserer besonderen-Verantwortung-etc“ unverbrüchlichen Solidarität zu versichern. Aber neuerdings haben sie bei diesem habituellen, über Jahre eingeübten Ritual sowas wie Schluckauf.

Denn Staatsraison hin oder her (so selbst unser oberster Antisemitismus-Beauftragter zu einem seiner Lieblingsbegriffe): Das geht jetzt einfach zu weit, dass man die Leute da unten, einfach verhungern lässt, sie beim Versuch, Essbares zu ergattern, erschiesst „undsoweiter“. Was soll das bringen, das „unverhältnismässige Leid der Zivilbevölkerung“, wie der amtierende Kanzler seine Ratlosigkeit so schön auf den Punkt bringt (und dankenswerterweise auf das bei anderen unvermeidliche Jammern über das Schicksal unschuldiger Frauen und Kinder verzichtet), er verstehe „offen gestanden nicht mehr“, was Israel da im Gaza-Streifen mache, „mit welchem Ziel“?

In seiner Ratlosigkeit freut sich der Kanzler über eine Initiative einiger europäischer Partner und Jordaniens, der er sich anschliessen kann, um wenigstens das „unverhältnismässige Leid“ ein wenig zu lindern (ohne die Verursacher des Leids in die Verantwortung nehmen zu müssen). Genial! Man lässt in einer gemeinsamen humanitären Mission Paletten mit Lebensmittelpaketen an Fallschirmen hinabgleiten in das vom Hunger heimgesuchte Territorium (die jederzeit zu behebenden Ursachen der „Heimsuchung“ geflissentlich beiseite lassend). Das ist zwar verdammt kostspielig und ineffizient, aber nichts ist den Missionären zu teuer, wenn es nur den Armen da unten hilft. Und nebenbei oder vor allem: unserem Image.

Und dann, wiederum ein paar Tage bei aller Liebe geäusserter Verständnislosigkeit weiter – da hat derselbe Merz sich doch glatt zu einer der Hauptforderungen der antisemitischen Internationale von Millionen rund um den Globus hinreissen lassen: Die Waffenlieferungen an Israel müssen ausgesetzt werden, soweit sie in Gaza in der jetzigen Auseinandersetzung zum Einsatz kommen können.
Das scheint eine gewagt harsche Kritik an Israel und Kumpel Netanjahu zu sein. Die hört der gar nicht gern, ebenso, wie nicht anders zu erwarten, die breite Front der deutschen Israel-Fans. Aber die können alle beruhigt sein: Faktisch ändert das Angedrohte nichts. Die zum unmittelbar bevorstehenden finalen Streich erforderlichen Waffen sind schon längst angekommen, im Einsatz, während dies geschrieben wird und werden für das, was in Gaza ansteht, sicher ausreichen. Herr Merz hat also bis vor kurzem noch verstanden, wozu das, was Israel der Zivilbevölkerung in Gaza seit bald zwei Jahren antut, gut ist. Leider sein muss. Für die Sicherheit Israels, somit unsere Staatsraison.

Ab der Zahl von wie vielen toten Zivilist*innen schien ihm das keinen rechten Sinn mehr zu machen?

Oder war's von dem Zeitpunkt an, als zeitweise gar keine Hilfsgüter mehr in den Gaza-Streifen gelangten? Bis dahin schon?

Es waren auch all die Monate zuvor schon viel zu wenig Lebensmittel, Wasser, medizinische, Hygiene- und andere essentielle Artikel gewesen, woran extremer Mangel herrschte. Und all die Jahre davor, Herr Merz hat davon vermutlich keine Kenntnis genommen (hätte sie aber nehmen können), auch schon bevor die Hamas die Macht übernommen hatte, ja, auch während der Jahre des glorreichen Friedensprozesses, war all das bewusst dosiert, tröpfchenweise, unzuverlässig, grundsätzlich in zu geringem Masse, quasi launisch, von Israels Gnaden in den illegal abgeriegelten Gaza-Streifen hineingelassen worden oder eben nicht. Und alle paar Jahre war die Infrastruktur, die der medizinischen Versorgung, der Bildung, der Kultur, der Agrikultur, der Fischerei – waren alle Voraussetzungen eines selbstbestimmten Lebens immer wieder zerstört – und von den Menschen in Gaza beharrlich wieder aufgebaut worden, so wie es unter diesen Bedingungen eben ging.

Aber das war so weit o.k. Lief ja ganz ordentlich.

Ab wann (nach dem 7. Oktober 2023) und inwiefern ist neuerdings das Leid, das der Zivilbevölkerung Gazas zugefügt wird, „unverhältnismässig“? Bis wann und inwiefern war es zuvor zwar bedauerlich, aber „verhältnismässig“ und notwendig in den Augen von Merz und anderen?
Ich gestehe, die unaufgeregte, schlicht pragmatisch daherkommende Merz'sche Art ist erholsam nach den selbstgefälligen Baerbock'schen Auftritten in Talkshows und Pressekonferenzen, wo sie „als Mutter zweier Kinder“ weinerlich ihr Mitgefühl mit israelischen und palästinensischen Müttern „gleichermassen“ zur Schau stellte, während die mit deutscher Schuld Beladene zugleich beinhart das israelische Vorgehen im Gazastreifen verteidigte. Fiel mir da zum ersten Mal seit Jahren Milgram wieder ein?

Oder: als der dann doch irgendwann ratlose Kanzler alle Welt nebenbei wissen liess, dass er seinem Freund Bibi, bei einem seiner Besuche nach dem 7. Oktober 2023, noch vor seiner Kanzlerschaft, „hinter verschlossenen Türen“ bedeutet habe, „übertreibt's nicht“ – war das mein Milgram-Moment?

Nach dem 7. Oktober 2023 war für die deutsche Politik, mehr noch als je zuvor klar: Man stellt selbstverständlich die Legitimität des Vorgehens dieses besonderen Verbündeten, Israel, nicht in Frage. Es sei schliesslich unsere Verantwortung, so Baerbock in einem Interview mit der DW im November 2023, alles daran zu setzen, dass es nie wieder zu einem Völkermord komme… Und sie erläuterte, wie dafür seit dem Zweiten Weltkrieg, nachdem man, insbesondere als Deutsche seine Lehren gezogen habe, gesorgt worden sei: Indem man den Jüdinnen und Juden, die Deutschland auszulöschen versucht habe, ein sicheres Land gebe.

Wer hatte damals ein solches Land zu vergeben, in dem niemand zu Hause war? Niemand Ihre und seine Kultur lebte, die Olivenhaine pflegte, die uralten Städte und Dörfer bewohnte? Sie liebte oder es vorzog, sie zu verlassen? Sich erinnerte? Geschichten erzählte, über Geschichten lachte? weinte? einschlief? Sich erbittert stritt? Versöhnte? Aufbegehrte? Tanzte? Betete? Um Himmels willen! nie betete? Über das sanfte Mittelmeer glitt, mit dem gefülltem Netz auf den Strand von يافا (Yafa) zurück? Und nahe dieser Stadt die berühmten Orangen erntete? Wer hatte dieses Land zu vergeben?

Die damalige Aussenministerin spinnt ihren Argumentationsfaden weiter, indem sie den Artikel 1 GG ins Spiel bringt: Die Würde des Menschen werde verletzt, wenn Israels Sicherheit, die Sicherheit des Landes, das man den Jüdinnen und Juden gegeben hatte, in Gefahr sei – wie insbesondere seit dem 7. Oktober 2023. Nicht zufällig verhaspelt sie sich, als sie dann auf das schändliche Verbrennen israelischer Fahnen zu sprechen kommt und von jüdischen Fahnen spricht.

Ihr Versprecher bringt es auf den Punkt: der Ausnahmestaat, „unser Israel“ wird umstandslos mit einer Ethnie oder einheitlich imaginierten Bevölkerung, „unseren Juden“, gleichgesetzt. (Die tatsächlich existierenden – auf die eine oder andere Art – jüdischen Menschen sind zwar kein bisschen einheitlich und leben im Übrigen in ihrer Mehrheit nicht in diesem Staat, kehren ihm in letzter Zeit zunehmend den Rücken – aber Fakten tun bekanntlich einer national-identitären Phantasmagorie keinen Abbruch.)

In all ihren Äusserungen ist Baerbock keineswegs originell oder besonders verworren. Sie bringt nur auf ihre Art zum Ausdruck, was Verworrenes in ungezählten akademischen Elaboraten, Politikeräusserungen, Erklärungen von Antisemitismus-Beauftragten, Publikationen der Zentrale für politische Bildung etc. reproduziert wird, zumeist staatlich gefördert.

Ein Diskurs, der in Deutschland allgemein anerkannt ist, Autorität besitzt. Schulen erhalten Weisungen, ihn zu lehren. Kultur-Institutionen sind aufgefordert, sich ihm zu verpflichten bzw. alles zu unterlassen, was ihm zuwiderläuft. Vereine, Parteien bekennen sich ausdrücklich zur Einhaltung dieser ideologischen Vorgaben. Parlamente verabschieden entsprechende Resolutionen. Alles ohne Not.
Der Psychologe Stanley Milgram führte bekanntlich (1961) ein Experiment durch, um die Bereitschaft durchschnittlicher Personen zu testen, den Anweisungen einer anerkannten Autorität auch dann Folge zu leisten, wenn sie im Widerspruch zu ihrem Gewissen stehen.[1]

Die Versuchsanordnung: Ein „Lehrer“, die eigentliche Versuchsperson, versetzte einem „Schüler“ (einem Schauspieler) Stromschläge, wenn dieser Fehler machte. Es ging in dem wissenschaftlichen Experiment um das Kurzzeitgedächtnis des „Schülers“, das getestet wurde. Durch die Bestrafung mittels immer höherer Stromschläge, wurde – so die zu prüfende Hypothese – dessen Lernfähigkeit oder –Bereitschaft angeblich verbessert. Die – tatsächlich nicht ausgeführten – Stromschläge fielen mit jeder Fehlleistung des „Schülers“ immer höher aus, was der „Lehrer“ auch mitbekam, denn der „Schüler“ schrie zunehmend gequält auf, flehte um Abbruch, schien schliesslich fast leblos.

Zwei Drittel der „Lehrer“ trieben es bis zu den höchsten Frequenzen und begründeten dies anschliessend, sie hätten keinen Grund gesehen, die Autorität der Institution Universität und ihrer Vertreter anzuzweifeln, wenn ihnen der Gepeinigte allmählich auch leid tat.

Wenige Proband*innen weigerten sich von Anbeginn an, Stromschläge zu verabreichen. Die meisten äusserten zwischendurch Zweifel angesichts der Reaktionen des „Schülers“, machten dann aber doch weiter, nachdem man sie bestimmt darauf hingewiesen hatte, in welchem allgemein anerkannten Zusammenhang, dem einer Universität, sie sich befanden.

Die sich bedingungslos der israelischen verschreibende deutsche Politik basiert auf der oben am Beispiel von Frau Baerbock nachgezeichneten Argumentation, so windig diese auch ist. Aber, so wie die Dinge stehen, besitzt sie in Deutschland Autorität und wird mit grossem nationalem Pathos eins ums andere Mal evoziert und zelebriert.

Im Januar 2024 war Frau Baerbock dann so weit wie die Milgram-Proband*innen, denen angesichts der Schreie ihrer Opfer Bedenken kamen und die zwar nicht ausstiegen, aber doch gelegentlich nachfragten, ob es wirklich o.k. sei, die vergesslichen Schüler so hart dranzunehmen.

So auch Frau Baerbock, die ihre israelischen Freunde ermahnte, als die Menschen innerhalb des Gaza-Streifens eins ums andere Mal vertrieben wurden, um der nächsten mörderischen israelischen Offensive auszuweichen: sie, die Fliehenden könnten „sich schliesslich nicht in Luft auflösen“.

Das ist eine Aussage der flapsigen Art wie die schulterklopfende Aufforderung an Gleichgesinnte, „es“ nicht allzu wild zu treiben.

„Es“, das grundsätzlich nicht zur Debatte steht. Der ungezügelte Krieg einer Armee gegen eine Bevölkerung.

Der Genozid. Gewollt, Zugelassen. Mit-ermöglicht. Trotz massiven Aufbegehrens von Millionen rund um den Globus zugelassen, wenn nicht befeuert von allen Mächten, die ihm jederzeit Einhalt gebieten könnten.

Das steht nicht zur Debatte, kann, darf nicht zur Dabatte stehen.

Dann stünde zur Debatte, dass damals kein leeres Land zu vergeben war. Dass damals seine Bewohner*innen vertrieben, entrechtet, irgendwo zwischengelagert wurden, damit für einige Überlebende der europäischen Verbrechen eine Siedlerkolonie errichtet werden konnte, der Kern eines Staates, dem es eingeschrieben ist, dieses Projekt – mit möglichst salonfähigen, am Ende aber mit allen Mitteln – voranzutreiben, „erfolgreich“ abzuschliessen bis hin zu dem, was wir jetzt sehen und demnächst noch sehen werden.

Sophia Deeg

Fussnoten:

[1] Stanley Milgrams Motivation, sich mit dem Gehorsam gegenüber Autorität zu befassen: Das Phänomen zu verstehen, das in einer, wie ihm schien, zivilisierten Nation wie Deutschland eine Regierung all diejenigen finden konnte, die erforderlich waren, um Millionen Menschen auszulöschen. Sein Experiment, nach Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem ausgeführt, kommt zu ähnlichen Schlüssen wie Arendt.