Ich las, bis die Nacht sich öffnete,
im mütterlichen Licht der Lampe.
Es flogen Falken auf. Von den Bergen
stiegen Ziegen herab und Krieger,
bärtig sie alle und mit eng stehenden Augen,
in denen die Schachteln der Pupillen
grausame Geheimnisse bargen und kindliche Zärtlichkeit.
Ich las, bis die Nacht sich öffnete.
Eine Bahn pfiff. Die Steppe ein sepiafarbenes Spielzeugland,
darüber sich im mütterlichen Licht der Sonne
der Rauch der Lokomotive sich vermählte
mit den Staubfahnen der Pferde
und mit dem schwächlichen Atem-Dunst
der Braunkohleöfen von Leipzig, anno 1975.
Ich las, bis die Nacht sich öffnete
wie das Kleid der Freundin des Freundes
im mütterlichen Licht des Mondes
und eines geschwindelten Trostes
sich aufschlug: ein Zelt, in das ich kroch
und schuldig wurde am Tod einer Liebe.
Ich las, bis die Nacht sich öffnete
weithin den lautlosen Flugzeugen, denen erlaubt war,
die Kontinente geistlos zu wechseln, ohne Reue,
ohne Scham. Mit ihren einziehbaren Wurzeln.
Und über dem hohen Mais schwebte ein Kopf auf mich zu.
Und hinter den Wolken verzog sich ein grinsendes Gesicht.
Und aus dem Ozean winkten zwei Hände.
Im mütterlichen Licht des Todes.
Ich las, bis die Nacht sich schloss.
Und das Licht fiel durch das Fenster
und leuchtete die Ecken aus auf der Suche
nach den Fledermäusen der Phantasie:
die schliefen knarrend.
Eckhard Mieder Ich las in der Nacht
Lyrik


Ich las in der Nacht. Foto: Luc Viatour (CC BY-SA 3.0 unported)
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