Geschrieben zum Theater in der Lokremise, St. Gallen «Ein Volksfeind» Versuch einer Kritik in drei Akten

Kultur

Erwarte ich zu viel vom Schauspiel, vom Theater? «Der Volksfeind» fordert mich als politisches Individuum heraus. Doch soll das Theater das tun?

Theaterfoyer in der Lokremise St. Gallen.
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Theaterfoyer in der Lokremise St. Gallen. Foto: Andreas Praefcke (PD)

13. April 2023
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Korrektur

erster Akt

In der Stadt kursiert ein anonymer Brief.

Erwarte ich zu viel vom Schauspiel, vom Theater? Der Volksfeind fordert mich als politisches Individuum heraus. Doch soll das Theater das tun? Im Stück heisst's, sie können hier Theater spielen, mit Haaren aus Bangladesch und sie singen: «wer fliegt, wird sterben». Sie werden zu einer Terroristengruppe. Warum kann ich nicht bloss die Zeitung lesen, anstatt mir dieses Stück anzuschauen? Reicht es nicht den TV einzustellen, wenn ich Fakten hören möchte? Fakten, Fakten, Fakten. Ist das Theater da, um mir Fakten mitzuteilen? Ist dieses Stück wirklich da, um mir aufzuzeigen, wie schlimm es eigentlich ist? Um mich als politisches Wesen aufzuwecken, mir die Augen zu öffnen? Der Fakt wird überschätzt. Nicht eine Information von Kunst will ich mitgeteilt bekommen. Nicht ein Fakt vermittelt, nicht auf etwas aufmerksam gemacht werden! Verlieren muss ich mich! Ich bin auf der Suche nach Erleuchtung!!

Ja, erzählt mir, wie schlecht es zu und her geht. Was erhofft ihr euch? Wie schade, dass ich nach so vielen Worten noch kein einziges über das Bühnenbild oder das Schauspiel verlor… zu viel Politik auf dieser gottverdammten Bühne. Nie geht es darum, dass ich eine Realität nicht für wahrhaben möchte oder wie es so schön heisst: einer Tatsache nicht ins Auge schaue. Aber was ist eine Tatsache schon wert?

Mir werden über 60min Tatsachen präsentiert und wenn es zwischendrin mal keine sind, stockt mir der Atem vor Zynismus. Wie wichtig ist dieses Thema denn nun? Ich gehe aus diesem Theater als wütende und leicht belustige Person hinaus. Belustigt und wütend über die falschen Dinge!

Wie sie mit ihren Bürostühlen, so völlig lachhaft umherrollen. Wie er sein Badeanstalt-Lied präsentiert oder wie er mit den drei Frauen auf der Bühne umgeht… wo ist die innere Notwendigkeit, dass drei Frauen diesen Charakter verkörpern?

Nichts an Ernsthaftigkeit in diesem Stück! Präsentiere ich schon Tatsachen, zeige ich Fakten, dann will ich sie in aller Düsternis. Mehr Extremität, es muss sich zuspitzen!

Es reicht nicht, dass ihr schreit und wild auf dem Schlagzeug herumhaut. Nimmt dieses Schlagzeug, wirft es an die Wand, zertrümmert es, tritt darauf rum, reisst euch einen gottverdammten Zahn aus!!

Erwarte ich zu viel vom Schauspiel? Dieses Stück bleibt beim Schauspiel, da unten auf der Bühne blieb's… An welches Ideal glaubt ihr? Wofür kämpft ihr? Nichts glaube ich euch. Lächeln, T-Shirt anziehen, aus der Rolle gehen, Publikumsbezug.

Kämpft ihr so um das, was euch alles bedeutet?

Und auch jetzt noch nicht so weit, ästhetisch zu beurteilen… alles getunkt, nass triefend von Politik…

Ich sitze nicht in dieses Theater und versuche zu interpretieren. Ich sitze und lasse auf mich wirken. Es löste in mir eine innere Abneigung gegenüber dem Gebrauch des Theaters aus. Eine Zweckentfremdung der Kunst! Entpolitisierung der Kunst für die wahre Veränderung. Die innere sinnliche Veränderung!!

zweiter Akt

Im Stadtrat wird besprochen.

A: Das kann nicht sein… so ein überhitztes Gemüt darf nie öffentlich zu Wort kommen. Wie konnte das passieren?

B: Du weisst gar nicht welche Ausmasse das haben kann. Wir sind uns nicht bewusst, welche Bedeutung das Wort haben kann. Finde mal das richtige Wort…

C: und finde die Dosis…

A: Übernommene Ideen sind das. Eine polemische Schrift, ein regelrechter Angriff! Und ihr erzählt mir etwas von Bedeutung und Ausmasse des Wortes? Hier ist Relativierung angebracht?

C: Ich entschuldige niemanden. Was ich fordere, ist Toleranz… verstehst du?

A: Toleranz?

B: Ich verstehe, was du meinst. Etwas stehenlassen…

A: Wir sind hier mit jugendlichem Übereifer konfrontiert. Unbegründete Ideale sind gefährlich! Die Worte sind scharf, sie stehen über dem, was sie sagen wollen…

C: Wie meinst du das?

A: Das Wort ist mächtig. Wie du sagtest, es muss eine Dosis gefunden werden…

B: Sprechen wir überhaupt vom selben? Ich habe das Gefühl, dass jeder etwas sagt, etwas, was er in sich im Voraus präpariert hat. Wo findet denn die

Kommunikation genau statt? Wir benutzen Worte, was macht das Aussen damit?

dritter Akt

Im Himmel streiten sich die Geister.

D:
„Nur mässig! mässig!
Nicht ins Verwegne,
Dass Sturz und Unfall
Dir nicht begegne,
Bändige! bändige,
Eltern zuliebe,
Überlebendige,
Heftige Triebe!
Ländlich im stillen
Ziere den Plan,“

E:
„Was sänftigtet ihr dann, wenn in den Ketten
Der ehrnen Zeit die Seele mir entbrennt,
Was nehmt ihr mir, den nur die Kämpfe retten,
Ihr Weichlinge, mein glühend Element?“ 1

Paul Rosenthal

1 Stefan Zweig: Baumeister der Welt, S.222 (Goethe und Hölderlin)