Was geschah wirklich mit Baby Jane? „Du wirst dieses Haus nie verlassen”

Kultur

Robert Aldrich verzichtete in seinem Film auf Effekthascherei; die Dramatik ergibt sich ausschliesslich aus dem Spiel der beiden grossartigen Schauspielerinnen.

Bette Davis, hier an der Filmex Tribute 1981, spielt in dem Film „Was geschah wirklich mit Baby Jane?” den ehemaligen Kinderstar Baby Jane.
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Bette Davis, hier an der Filmex Tribute 1981, spielt in dem Film „Was geschah wirklich mit Baby Jane?” den ehemaligen Kinderstar Baby Jane. Foto: Alan Light (CC BY 2.0 unported - cropped)

4. Juli 2019
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Die eine muss leiden, die andere muss leiden.

Die eine, weil sie – wie sie es empfindet und auch sagt und auch danach handelt – von der anderen jahrzehntelang gedemütigt wurde. Die andere hat ihr das Leben zur Hölle gemacht. Die eine war ein Kinderstar, doch die andere hat später verhindert, dass sie auch als Erwachsene ein Star wurde. Die andere hat sie verdrängt, erniedrigt. Jetzt soll die andere dafür büssen, den Rest ihres Lebens soll sie Busse tun.

Die andere stand als Kind im Schatten der einen. Aber sie hatte sich geschworen, die eine, wenn sie einmal älter sein würde, in den Schatten zu stellen, erfolgreich zu sein, dass nachzuholen, was ihr als Kind verwehrt geblieben war. Und sie wurde erfolgreich. Nun ist sie an den Rollstuhl gefesselt, abhängig von der einen, die sie vor Jahren in diese Lage gebracht hatte. Aber sie macht der einen keine Vorwürfe mehr. Sie bedauert die eine, und muss unter ihr leiden, unter ihrem Hass, ihrer Verachtung.

Die Rede ist von den Schwestern Baby Jane (Bette Davis), der einen, und Blanche Hudson (Joan Crawford), der anderen. 1917 war Baby Jane Hudson ein erfolgreicher Kinderstar, gefördert und getrieben von ihrem Vater (Dave Willock), ein Kind, das verwöhnt wurde, dass angesichts des Erfolgs nicht scheu war, seine Forderungen zu stellen. Wir sehen sie nach einem Auftritt mit ihrem Vater, Fans um sich herum, vor dem Bühneneingang.

Baby Jane soll schlafen, um für den abendlichen Auftritt fit zu sein. Aber sie weigert sich, droht, nicht aufzutreten, will Eis, und wenn sie es nicht bekommt, wird sie auch nicht auftreten. Der Vater gibt nach. Denn ihn interessiert nicht das Kind, sondern der Star, den er aus seiner Tochter gemacht hat. Im Hintergrund stehen die Mutter (Anne Barton) und die andere Tochter, Blanche, mit versteinerter Miene steht die Kleine dort. Nein, sie will kein Eis, obwohl Baby Jane es fordert, auch für ihre Schwester. Der Vater reagiert unwirsch. Wenn Baby Jane wolle, dass auch Blanche Eis bekommt, wie kann Blanche das nur abschlagen?

1935. Blanche ist ein Filmstar. Baby Jane ist ein Möchtegern-Filmstar. Kein Produzent will sie in einem seiner Filme sehen. Sie ist unbegabt, hysterisch, sie trinkt, sie führt sich unmöglich auf. Aber Blanche besteht bei Abschluss ihrer Verträge auf eine Klausel, in der Baby Jane eine zumindest kleine Rolle garantiert wird. Eines Nachts fährt ein Auto vor die schöne Villa der Schwestern. Es ist der Wagen von Blanche. Die Fahrerin gibt Gas, man hört einen Schrei. Seit diesem Tag ist Blanche an den Rollstuhl gefesselt.

Ungefähr 25 Jahre später sehen wir die beiden Schwestern im von Blanche gekauften Haus der Eltern. Sie sitzt in ihrem Zimmer im ersten Stock im Rollstuhl. Man kennt sie heute noch, auch ihre Nachbarin Mrs. Bates (Anna Lee) und deren Tochter Liza (Barbara Merrill); die sitzen gespannt vor dem Fernseher und sehen sich einen Film mit der berühmten Nachbarin an. Im Erdgeschoss des Hauses der Hudsons sehen wir Baby Jane. Kein Mensch kennt Baby Jane mehr. Ihre Tage als Kinderstar sind vergessen. Baby Jane ist mürrisch, verbittert, sie hat wieder angefangen zu trinken, Whiskey und Gin. Sie kümmert sich um Baby Jane, wider Willen, denn sie ist verantwortlich für den Unfall von damals, sie hat ihre Schwester zum Krüppel gefahren, obwohl sie sich daran nicht erinnern könne, sagt sie.

Man fand Blanche verletzt in der Einfahrt des Hauses, Baby Jane war verschwunden. Die Polizei suchte sie und fand sie mit irgendeinem fremden Mann, völlig betrunken, in einem Hotelzimmer. Nie hat Blanche wieder von diesem Ereignis gesprochen. Seitdem aber leben die Schwestern in diesem Haus zusammen, die eine hilflos und ihrer Schwester gegenüber nachgiebig, die andere hasserfüllt. Baby Jane trägt immer noch Blond mit Locken an den Enden ihrer Haare, ist weiss, blass geschminkt, die Lippen rot. Sie sieht aus wie eine schlechte Karikatur ihrer selbst als Kind.

„Was geschah wirklich mit Baby Jane?” ist einer jener Filme aus den 60er Jahren, in denen ältere Schauspielerinnen in Horrorfilmen respektive psychologischen Thrillern auftraten. Robert Aldrich („Vera Cruz”, 1954; „Sodom und Gomorrha”, 1962; „Der Flug des Phönix”, 1965; „Das dreckige Dutzend”, 1967) initiierte mit „Was geschah ...” dieses „neue Genre”. Joan Crawford (1904-1977) war in „Berserk!” (1968) und „Die Zwangsjacke” (1964) in zwei weiteren derartigen Streifen zu sehen, Bette Davis (1908-1989) in „War es wirklich Mord?” (1965) und „Der schwarze Kreis” (1964), vor allem aber in dem unvergesslichen, ebenfalls von Aldrich inszenierten Thriller „Wiegenlied für eine Leiche” (1964) mit Olivia de Havilland und Joseph Cotton (wer erinnert sich nicht an die Titelmelodie „Hush hush, sweet Charlotte, Charlotte, don't you cry, Hush hush, sweet Charlotte, He'll love you till he dies ...”).

Zurück zu unseren beiden Schwestern. Die Haushälterin Elvira (Maidie Norman) weiss Bescheid um die psychische Disposition von Baby Jane. Sie redet auf Blanche ein, endlich die Konsequenzen zu ziehen und Baby Jane in ärztliche Obhut zu geben. Aber Blanche weicht einer solchen Entscheidung aus. Vor allem steht sie vor dem Problem, ihrer Schwester irgendwie beizubringen, dass sie das Haus verkauft hat. Sie glaubt, Baby Jane wüsste nichts davon. Doch da irrt sie sich. Baby Jane weiss über alles Bescheid. Und sie ist bereit, dies mit allen Mitteln zu verhindern. Als erstes nimmt sie Blanche das Telefon aus ihrem Zimmer weg. Sie lädt ihren ganzen Hass und ihre ganze Verzweiflung auf ihre Schwester ab, demütigt sie, wo sie nur kann, entlässt Elvira. Sie kann Blanche Stimme am Telefon imitieren, beschafft sich so den Alkohol, den Blanche abbestellt hatte.

Baby Jane ist nicht nur entschlossen, im Haus zu bleiben. Sie will wieder auftreten. Sie gibt eine Anzeige auf, sucht einen Pianisten, der sie begleitet, um ihre Kinderlieder wieder zu singen, zu tanzen. Blanche ahnt, was auf sie zukommt. Den Zettel mit einem Hilferuf, den sie aus dem Fenster wirft, findet nicht Mrs. Bates, sondern ihre Schwester. Dann erscheint Edwin Flagg (Victor Buono) bei Baby Jane, der Pianist, spielt für Baby Jane, ist erstaunt und zugleich entsetzt über die alte Frau, als sie ihre Kinderlieder singt und dazu tanzt. Aber für 100 Dollar die Woche ist ihm das egal. Nur Elvira kommt alles sehr merkwürdig vor, als Baby Jane sie wirsch entlässt. Elvira ahnt Schlimmes, und als Baby Jane mit dem Auto in die Stadt fährt, geht Elvira noch einmal in das Haus. Das Zimmer von Blanche ist verschlossen, kein Laut dringt heraus. Elvira versucht mit Hammer und Schraubenzieher die Tür zu öffnen, als Baby Jane zurückkehrt ...

Was Aldrich inszenierte, ist nicht einfach ein exzellenter psychologischer Horrorfilm, der einem guten Hitchcock in nichts nachsteht. „What Ever Happened to Baby Jane?” ist eine delikate und präzise psychologische Studie über zwei Schwestern, die sich gegenseitig das Leben zur Hölle gemacht haben, ein Film über unerfüllte Wünsche und Sehnsüchte, die sich zwanghaft in die Seelen der beiden Frauen eingeschrieben haben. Für den Zuschauer der Tragödie wechseln Sympathie und Mitgefühl, Abscheu und Verachtung zwischen den beiden Protagonisten des Dramas hin und her. Denn Blanche, die in ihrer hilflosen Situation ihrer Schwester offensichtlich gnadenlos ausgeliefert ist, ergreift nicht die Chance, über ihre Haushälterin Elvira, den einzigen Kontakt zur Aussenwelt, dem Drama ein Ende zu setzen und Baby Jane, die offensichtlich psychisch krank ist, in eine Klinik einweisen zu lassen.

Andererseits ist Baby Jane zwar eine hasserfüllte, offenbar zu allem entschlossene Frau, die vor nichts zurückschreckt, um ihre Schwester zu demütigen. Andererseits wirkt sie hilflos, klein und bemitleidenswert, etwa dann, als etwas Furchtbares geschehen ist. Und letztendlich liegt in der Tragödie ein Geheimnis versteckt, dass der Geschichte eine ganz andere Sichtweise aufdrängt.

Die Kooperation zwischen Bette Davis und Joan Crawford ist exzellent, unterstützt von einem damals noch unbekannten Victor Buono als Pianisten, der Komik in die Szenerie bringt. Buono, gross, gewichtig, neben Marjorie Bennett, die seine Mutter spielt, ein Riese, spielt diesen Mr. Flagg als einen Mann, der es versteht, seine wahren Gedanken vor Baby Jane zu verstecken. Seinem Gesicht ist anzusehen, was er von der alten Dame hält, aber er macht ihr Komplimente und lässt sich des Geldes wegen auf das groteske Spiel ein. Daneben agiert Maidie Norman als Haushälterin, die mit beiden Füssen im Leben steht und sich nichts vormachen lässt, die aber Baby Janes Entschlusskraft unterschätzt. Zu nennen wäre zudem Anna Lee als neugierige, aber zugleich besorgte Nachbarin der Hudsons, die neben Buono und Norman die Aussenwelt repräsentiert, die der versponnenen Innenwelt der Schwestern gegenübersteht.

Der klaustrophobischen Atmosphäre im Haus der Schwestern entspricht die zwanghafte und in sich verschlossene psychische Welt der beiden Frauen, die krankhafte innere Abhängigkeit, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint.

Aldrich verzichtete auf Effekthascherei; die Dramatik ergibt sich ausschliesslich aus dem Spiel der beiden grossartigen Schauspielerinnen. Ernest Haller fotografierte viele Szenen, die sich vor allem natürlich im Haus abspielen, jeweils aus einer Einstellung heraus. Für den Zuschauer bedeutet dies, dass es für ihn genauso wenig ein Entrinnen vor der tragischen Handlung gibt wie für die Schwestern selbst.

Dieser Film sowie der zwei Jahre später gedrehte „Wiegenlied einer Leiche” gehören für mich zu den Klassikern des psychologischen Horrors / Thrillers.

Ulrich Behrens

Was geschah wirklich mit Baby Jane?

USA

1962

-

134 min.

Regie: Robert Aldrich

Drehbuch: Lukas Heller

Darsteller: Bette Davis, Joan Crawford, Victor Buono

Produktion: Robert Aldrich im Verleih von Warner Brothers

Musik: Frank De Vol

Kamera: Ernest Haller

Schnitt: Michael Luciano