Tausendschönchen Die Realitäten zerstückelt, die Männer entmannt, alle Konventionen gebrochen und eine Menge Essen verschlungen

Kultur

„Tausendschönchen“ oder „Sedmikrasky“ gilt als Hauptwerk der „Tschechischen Neuen Welle“, wurde direkt nach seinem Erscheinen verboten und dessen Regisseurin Věra Chytilová, die sich offen gegen jede Zensur aussprach, bis 1975 mit einem Veröffentlichungs-Verbot belegt.

Die tschechische Regisseurin Věra Chytilová am 42. Karlovy Vary International Film Festival, Juli 2007.
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Die tschechische Regisseurin Věra Chytilová am 42. Karlovy Vary International Film Festival, Juli 2007. Foto: Petr Novák - Wikipedia (CC BY-SA 2.5 cropped)

3. April 2020
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Als „Prager Frühling“ wird von den westlichen Medien die gesellschaftliche Veränderungs- und Aufbruchsbewegung in Tschechien und der Slowakei 1968 bezeichnet. Die Kommunistische Partei ist nach schweren inneren Machtkämpfen auf einen Reformkurs eingeschwenkt und wollte einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ verwirklichen. Dazu kam es allerdings hauptsächlich, weil eine starke Bewegung aus verschiedenen Gruppierungen eine Liberalisierung und Demokratisierung der sozialistischen Gesellschaft einforderte und es nicht zu Letzt auch immer wieder zu wirtschaftlichen Krisen kam, die bei gleichzeitigem kulturellem Aufbruch zu grosser Unzufriedenheit führten.

Das Jahr 1968 war ein Jahr internationaler Revolten und Umbrüche, nicht nur ein Pariser Ereignis. In der BRD und Italien gab es noch die ganzen Altfaschist*innen in den Institutionen wie Uni, Schule, Stadtverwaltung, Ministerien usw. und die Frage kam auf, wie sich die eigenen Eltern im Krieg verhalten hatten. In den USA gab es die Bürgerrechtsbewegung und militante Auseinandersetzungen für die Rechte von rassistisch unterdrückten Gruppen sowie die Ablehnung des schrecklichen Vietnamkrieges. In den osteuropäischen Ländern wiederum waren nach 1961 eigentlich eine politische „Ent-Stalinisierung“ und wirtschaftliche Reformen versprochen worden.

Diese wurden nur halbherzig bis gar nicht angegangen, denn die alten Genossen Polit-Kader klammerten sich vehement an ihre Posten. Dann kam jedoch die dissidente Opposition zum Zuge und läutete die notwendigen Veränderungsprozesse ein. Ende August 68 wurde die ČSSR dann von einer halben Million Soldaten des Warschauer Paktes, angeführt von der Sowjetunion, besetzt. Es war die grösste Militäroperation seit 1945, die dennoch auf massiven zivilen Widerstand stiess, welcher es äusserst schwer machte, die Regierung abzusetzen und letztendlich durch eine Moskau-treue und stalinistische zu ersetzen. Selbstverständlich kam es zu einem internationalen Aufschrei, aber nicht mehr. Doch die tiefen Erschütterungen, welche die militärische Niederschlagung der umfassenden Reformbewegung auslösten, hielten an...

Im Folgenden soll nun der avantgardistische Film „Sedmikrasky“ von 1966 besprochen werden. Den historischen Kontext zu diesen darzustellen ist wichtig, um die tiefgreifende Kritik des Films zu verstehen. Sie entwickelte sich in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation hat aber bis heute in vielerlei Hinsicht noch ebenso ihre Notwendigkeit und Berechtigung. „Sedmikrasky“ oder „Tausendschönchen“ gilt als Hauptwerk der „Tschechischen Neuen Welle“, wurde direkt nach seinem Erscheinen verboten und dessen Regisseurin Věra Chytilová, die sich offen gegen jede Zensur aussprach, bis 1975 mit einem Veröffentlichungs-Verbot belegt.

Zu Beginn sehen wir in der ersten Szene die zwei jungen Protagonistinnen, die beide Marie heissen. Sie sind in einer Art mechanischen Starre gefangen, wie auch das System in dem sie lebten verkrustet ist. Die Welt in der sie leben ist verdorben und ruiniert, stellen sie fest. Wenn dem so ist, so beschliessen sie, wollen sie ebenfalls verdorben sein – beziehungsweise immer verdorbener werden. Denn fortan entspinnt sich zwischen den beiden eine Art Wettbewerb, wer sie beide mehr ins Verderben reitet. Sie finden sich auf einer Wiese wieder, hüpfen und tänzeln sehr ausgelassen um einen Apfelbaum herum. Äpfel spielen auch weiterhin eine Rolle und der Hinweis auf den biblischen Baum der Erkenntnis, nach dessen Genuss die Menschen aus dem Paradies ausgeschlossen und in die Verlorenheit der Welt geschickt werden, lässt sich nicht verkennen.

Im Folgenden gehen die beiden Maries einem ganz eigenem Hobby nach, dass sie immer weiter entwickeln und exzessiv steigern: Sie verabreden sich unter falschen Namen einzeln mit deutlich älteren Männern in Restaurants. Die andere Marie stösst dann stets scheinbar zufällig hinzu, nimmt die Gesprächsführung in die Hand und bestellt unheimlich viel Essen auf Kosten des Gönners. Das Ganze geht so lange, bis beide den jeweiligen sugar daddy zum Zug bringen, wobei sie sicherstellen müssen, das er fährt und sie ihn nicht begleiten.

Dabei nehmen sie zunächst ganz die gesellschaftliche Rolle des jungen, unschuldigen, naiven und sexuelle verfügbaren Mädchens an, nur um daraufhin komplett mit diesem Korsett zu brechen und die Typen mit ihren lächerlichen gesellschaftlichen Konventionen und patriarchalen Vorstellungen vollständig blosszustellen. Ihre Verehrer sammeln sie und kleben Erinnerungen an sie wie vieles andere an die Wände in ihrem Zimmer, das bald einer einzigen Collage gleicht.

Über das Begehren der Männer machen sie sich lustig, entsprechen diesem nie, sondern entziehen sich stattdessen um ganz ihren eigenen Bedürfnissen zu folgen. Und die bestehen nicht in heterosexuellem Sex oder der Rolle einer eingezwängten Ehe- und Hausfrau. Vielmehr wollen sie Essen, Trinken, sich in einem Schwimmbad sonnen und langweilen, in ihrem Zimmer streiten, sowie Chaos verursachen um die verdorbene Welt selbst auf den Kopf zu stellen. Während sie zu Hause am Telefon einem ihrer Verehrer lauschen, der sich in romantische Rage schwafelt, zerschneiden sie mit Scheren Würste, Gurken, Eier und Bananen. Sie treiben sich weiter in der Welt herum, zerschneiden diese und sich selbst in einer Szene und befinden sich wie in einer Traumwelt auf einem Boot im See. Ihr Hunger nach was? - nach einem befreiten Leben ohne unterdrückerische und ausbeuterische gesellschaftliche Verhältnisse und Konventionen? -, treibt sie schliesslich an einen höchst geheimen Ort, von dem man annehmen kann, es handelt sich um ein Festessen für die Staats- und Parteiführung...

Im Spielfilm „Sedmikrasky“, der von Věra Chytilová vor mehr als 50 Jahren den Laien-Schauspielerinnen Jitka Cerhová und Ivana Karbanová in den zwiespältigen Hauptrollen gedreht wurde, arbeitet die Regisseurin mit bunten wechselnden Film-Filtern, schwarzweisse Szenen wechseln sich mit Farbfilm ab, zwischengeschaltete rasende Diashows werden mit anregender musikalischer Untermalung präsentiert. Teilweise brechen die einzelnen Szenen abrupt ab und führen in ganz andere unerwartete Situationen hinein.

Die Zuschauenden werden somit zum Staunen verdammt und ebenso passiviert wie gleichzeitig mitgerissen, wie jene verdutzt herumstehenden Personen im Film selbst. In ihren sozialen Rollen wirken alle Beteiligten furchtbar albern, eben weil die beiden Frauen mit den auf sie auferlegten Erwartungen provozierend brechen. Die offensichtliche und konfrontative Kritik am Patriarchat bleibt dabei kein singuläres Thema, sondern verweist auf die Ablehnung einer verkrusteten, langweiligen und repressiven Gesellschaft insgesamt sowie spezieller ihrer herrschenden parteibürokratischen Klasse von alten Säcken.

Weil die Gesellschaftskritik dermassen künstlerisch und avantgardistisch verarbeitet wird, reicht sie meines Erachtens viel tiefer als die mahnenden Worte von mehr oder weniger dissidenten Intellektuellen im sogenannten Ostblock, die beispielsweise eine grössere Pressefreiheit forderten. Während jene in einer zeitweiligen „kritischen Öffentlichkeit“ das Thema „Entfremdung“ gegen Widerstände auch in der sozialistischen Gesellschaft besprechen wollten, bricht Chytilová mit allen Konventionen. Stattdessen geht sie von einem vollständig entfremdeten Zustand aus, wenn junge Frauen wie irgendwelche Puppen in Puppenhäuser gesperrt werden und aufgezwungenen Rollenerwartungen entsprechen sollen – wie wir es ja im Grunde genommen alle zu dem Grad tun, zu welchem wir heute täglich die staatlich-kapitalistisch-patriarchale Gesellschaftsordnung mittragen und reproduzieren.

Die sexuelle Befreiung, spielte in der Achtundsechziger-Bewegung eine wichtige Rolle, weil sie sich nicht zuletzt auf der Einsicht gründet, dass die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und Wünsche nicht auf einen vermeintlichen Zeitpunkt nach der Revolution verlegt werden darf. Im Gegenteil: die Versuche zur wirklichen Erfüllung eigener Wünsche und Bedürfnisse stellen unter entfremdenden kapitalistischen oder staatssozialistischen Verhältnissen revolutionäre Akte dar, wenngleich sie ihr revolutionäres Potenzial verlieren, wenn sie nur individualisiert vollzogen werden und nicht kollektiv. (Abgesehen davon entsteht Entfremdung durch die Struktur der (modernen) Gesellschaft insgesamt und kann deswegen nur mit dieser zusammen überwunden werden und nicht mit LSD-Trips, Weltreisen, Waldhütten oder dergleichen...)

Die Umgangsweise der beiden Maries in „Sedmikrasky“ steht jedenfalls dafür, dass sexuelle Befreiung keine Befreiung zum (heterosexuellen) Geschlechtsverkehr bedeuten muss, wie von manchen „Achtundsechzigern“ problematischerweise angenommen wurde, sondern stattdessen gerade selbstgewählte Enthaltsamkeit bedeuten kann. Die Erfüllung der Wünsche und Forderungen Anderer liegt nicht im Interesse der Maries. Dafür gehen sie einfach ihrem eigenen Hunger nach – sei es möglicherweise der Hunger im übertragenen Sinne nach einem selbstbestimmten Leben oder doch einfach der nach Torten und Braten...

„Sedmikrasky“ ist unbedingt zu empfehlen, auch wenn, beziehungsweise sogar vielleicht weil er 50 Jahre alt ist. Er bringt antiautoritäre und feministische Gesellschaftskritik auf verfremdende und urkomische Weise in diese verdorbene Welt der Herrschaft, in der wir für die Selbstverständlichkeit einer erfüllten Existenz für alle kämpfen sollten, die einen Drang danach haben, ihr Leben voll und ganz zu spüren und auszukosten...

Ihr findet den Film auf Tschechisch mit englischen Untertiteln auf einem bekannten kommerziellen monopolistischen Internetportal oder auf der Festplatte von Kunst-Liebhaberinnen.

Simone

Tausendschönchen

ČSSR

1966

-

74 min.

Regie: Věra Chytilová

Drehbuch: Věra Chytilová, Ester Krumbachová

Darsteller: Jitka Cerhová, Ivana Karbanová, Julius Albert

Produktion: Ladislav Fikar, Bohumil Smída

Musik: Jiří Šust, Jiří Šlitr

Kamera: Jaroslav Kučera

Schnitt: Miroslav Hájek