Lili Marleen „Aussuchen, wie man leben will, wenn man überleben will?”

Kultur

Fassbinders „Lili Marleen” ist in einer Hinsicht ein Phänomen.

Rainer Werner Fassbinder und Hanna Schygulla in Venedig, 1980.
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Rainer Werner Fassbinder und Hanna Schygulla in Venedig, 1980. Foto: Gorup de Besanez (CC BY-SA 4.0 cropped)

9. Juli 2020
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Einerseits hatte Fassbinder geschworen nie wieder mit Hanna Schygulla zusammenarbeiten zu wollen, andererseits verkörperte die Schauspielern zu dieser Zeit den weiblichen deutschen Star auf internationalem Parkett, wozu ihr vor allem ihre Rolle in „Die Ehe der Maria Braun” verholfen hatte.

„Vor der Kaserne,
Vor dem grossen Tor,
Stand eine Laterne
Und steht sie noch davor.
So woll'n wir uns da wiederseh'n,
Bei der Laterne woll'n wir steh'n,
Wie einst, Lili Marleen.
Unsere beiden Schatten
Sah'n wie einer aus,
Dass wir so lieb uns hatten,
Das sah man gleich daraus.
Und alle Leute soll'n es seh'n,
Wenn wir bei der Laterne steh'n,
Wie einst, Lili Marleen.“ (1)

Das unperfekte perfekte Paar Fassbinder-Schygulla kam dennoch wieder zusammen. Denn „Lili Marleen” war eine Auftragsarbeit, und das ausgerechnet von seiten des Produzenten Luggi Waldleitner, einem der ältesten Produzenten Deutschlands, der der Industrie nahestand und dem konservativen Lager, sowie dem Drehbuchautor Manfred Purzner, der der Münchner Schickeria und ihrem konservativen Establishment nahe stand. Fassbinder griff dennoch zu, machte aber zur Bedingung, dass er das Team für den Film zusammenstellen konnte. Schygulla stimmte zu, war aber nicht bereit, unter einem Regisseur Purzer zu arbeiten. Ein Arrangement besonderer Qualität: die Repräsentanten des Neuen Deutschen Films arbeiteten mit denen zusammen, sozusagen „den Vätern”, gegen die sie zeither rebelliert hatten. Thomas Elsaesser weist zurecht auf die Parallelität zwischen Fassbinder und der Rolle der Willie im Film hin: „[...] sich gebrauchen lassen als Vorzeigefigur in einer bestimmten politischen Konstellation und sich dabei trotzdem selbst nicht untreu werden” (2).

„Lili Marleen” ist insofern Ausdruck von zweierlei: Fassbinder verkaufte sich an die Macher der Hitler-Welle, die zu dieser Zeit grassierte. Und er verkaufte über den Film eine eigenständige Sicht des Faschismus bzw. des Kontextes von Faschismus, Ästhetik und seiner eigenen Sicht in puncto Bestimmung sämtlicher menschlichen Beziehungen durch Tauschwert, also als Warenbeziehungen. Dabei ist Lale Andersens Biografie in gewisser Weise nur der Aufhänger für die im Film erzählte Geschichte, die in weiten Teilen von Andersens Beschreibung abweicht. Das Lied, die Beziehung der Andersen zu dem in der Schweiz lebenden Komponisten Rolf Liebermann und einige wenige andere biografische Einzelheiten griff Purzer auf, das meiste andere ist erfunden oder beruht auf Spekulationen (z.B. die Frage der Beteiligung am Widerstand).

„Schon rief der Posten:
Sie blasen Zapfenstreich,
Es kann drei Tage kosten!
Kamerad, ich komm' ja gleich.
Da sagten wir Aufwiederseh'n.
Wie gerne wollt' ich mit dir geh'n,
Mit dir, Lili Marleen!
Deine Schritte kennt sie,
Deinen schönen Gang.
Alle Abend brennt sie,
Mich vergass sie lang.
Und sollte mir ein Leid gescheh'n,
Wer wird bei der Laterne steh'n,
Mir Dir, Lili Marleen?“ (1)

Zürich 1938. Willie (Hanna Schygulla) liebt Robert (Giancarlo Giannini). Das Glück ist gross für Willie. Es strahlt über ihr ganzes Gesicht. Willie singt, nicht besonders erfolgreich, nicht einmal besonders gut, aber sie träumt von einer grossen Karriere. Robert ist Komponist und hat Chancen, berühmt zu werden. Willie ist Deutsche, Robert ist Jude, sie lieben sich in der Schweiz. Aaron (Gottfried John) holt die beiden in die Wirklichkeit zurück, die Wirklichkeit von Roberts Vater David Mendelsson (Mel Ferrer), einem begüterten Mann, der eine Hilfsorganisation leitet, mit Hilfe derer er Juden und jüdisches Vermögen aus Deutschland herausholt. Robert arbeitet als Kurier für diese Organisation, und sein Vater betrachtet die Verbindung mit einer Deutschen als Gefahr für seine Arbeit. Doch Robert hält an der Verbindung zu Willie fest. Willie weiss zunächst nichts von Roberts Tätigkeit. Sie singt, und sie wird in Zürich gehört von zwei Deutschen in Zivil, dem SS-Gruppenführer Hans Henkel (Karl-Heinz von Hassel) und dessen Adjutanten von Strehlow (Erik Schumann). Henkel ist fasziniert von Willie. Er ist Beauftragter Goebbels für Kultur in München.

David Mendelsson ist entschlossen, die Arbeit seiner Organisation nicht zu gefährden. Er trifft sich mit Willie und bittet sie, Robert bei seiner nächsten Kurierfahrt nach Deutschland zu begleiten. Inzwischen jedoch kauft er sämtliche Schuldscheine auf und schwärzt Willie bei der Ausländerpolizei an. An der Grenze wird Willie die Wiedereinreise in die Schweiz verweigert. Robert, der von den Machenschaften seines Vaters erfährt, ist erbost, zieht sich in seine Arbeit als Musiker zurück.

„Aus dem stillen Raume,
Aus der Erde Grund,
Hebt mich wie im Traume
Dein verliebter Mund.
Wenn sich die späten Nebel dreh'n,
Werd' ich bei der Laterne steh'n
Wie einst, Lili Marleen.“ (1)

Willie ist verzweifelt, erinnert sich an Henkel. Der besorgt ihr in München einen Auftritt im „Simpl“, wo sie den Pianisten Taschner (Hark Bohm) kennenlernt. Ein unbekanntes Lied „Lili Marleen“ bringt die Anwesenden in Streit. Aber Henkel und von Strehlow gefällt der Song. Und Henkel will unbedingt, dass das Lied auf Platte aufgenommen wird.

Derweil sucht Robert verzweifelt nach Willie, begibt sich selbst in Gefahr, als er 1939 in München bei Henkel im Garten auftaucht, während der mit Willie „Lili Marleen“ auf Schallplatte aufnimmt und Hitler gerade den Angriff auf Polen als Verteidigung verkauft.

„Es zittern die morschen Knochen
Der Welt vor dem roten Krieg,
Wir haben den Schrecken gebrochen,
Für uns war's ein grosser Sieg.
Wir werden weiter marschieren
Wenn alles in Scherben fällt,
Denn heute da hört uns Deutschland
Und morgen die ganze Welt.“ (3)

Als der deutsche Sender der Wehrmacht nach der Einnahme von Belgrad mehr zufällig „Lili Marleen“ spielt, wird das Lied zu einem Hit unter den Soldaten, später auch bei alliierten Sendern. Willie macht Karriere. Sie und Taschner ziehen in ein Haus, das der Führer persönlich für sie bereit gestellt hat. Robert dagegen, den die Gestapo überwacht, wird mit falschem Pass festgenommen. Und auch Willie gerät in Gefahr, weil sie für die Organisation in der Schweiz einen Film über die Situation in den Konzentrationslagern geschmuggelt hat. Ihr Ansehen bei Hitler schützt sie noch. Vor allem aber ist es von Strehlow, der sie vor dem Schlimmsten bewahrt: Er nimmt den Film an sich und leitet ihn weiter an Mendelsson. Was sie nicht weiss: Robert hat inzwischen auf Druck seines Vaters Miriam (Christine Kaufmann) geheiratet ...

„Und liegt vom Kampfe in Trümmern
Die ganze Welt zuhauf,
Das soll uns den Teufel kümmern,
Wir bauen sie wieder auf.
Und mögen die Alten auch schelten,
So lasst sie nur toben und schrei'n,
Und stemmen sich gegen uns Welten,
Wir werden doch Sieger sein.“ (3)

Die Partei hat inszeniert. „Führer befiehl', wir folgen“ prangt es über der Bühne. Wohl geordnet sitzen Parteigenossen in Reih und Glied, fesche Mädels in Bauerntracht umsäumen die Halle. Ein Fanfarenchor wartet geduldig auf den Auftritt. Ein Schild auf der Bühne trägt die Inschrift der Städtenamen, die die Wehrmacht bereits erobert hat oder in Siegesgewissheit zu erobern gedenkt. Aus dem Hintergrund tritt sie auf, in einem weissen Glitzerkleid, schlank und schön, die roten Lippen noch unbewegt. Eine Stufe, zwei Stufen schreitet sie auf dem Treppchen herab. Die Musik setzt ein. „Lili Marleen“. Willie, die längst zu Lili Marleen geworden ist, durch eine bewusst inszenierte Metamorphose, erobert das ausgewählte Publikum wie die Soldaten an der Front. Selbst die Alliierten haben erkannt, welchen Bannstrahl dieses Lied, gesungen von dieser Frau, erzeugt. Ein Heuchler der, der behauptet, sein Herz sei nicht gerührt – von diesem Lied, dieser Stimme, dieser Frau!

Die Inszenierung des Regimes scheint perfekt. Ein Lied und eine Frau, die eins geworden zu sein scheinen, kanalisiert den Terror und die Macht in die Bahnen einer Show. Während die Rosen Lili Marleen auf der Bühne zufliegen und sie und das Regime in Glanz und Glimmer erleuchten, zerfetzen Bomben Zehntausende von Soldaten und türmen sich die Leichenberge in den Vernichtungslagern. Sechs Millionen hören das Lied täglich, sechs Millionen Menschen sterben in den Öfen der Schlächter.

Aber Fassbinder geht es in „Lili Marleen” nicht um Schuldzuweisungen. Verurteilt wurde schon, die Barbarei ist längst als solche und in vielen Einzelheiten bekannt und erkannt. „Lili Marleen” ist vielmehr auf der Spurensuche und verknüpft verschiedene Ebenen des Kontextes „1939-1945”, um zu einer Analyse zu kommen, die über den Komplex „Schuld und Sühne, Verantwortung und Verantwortungslosigkeit” hinausgeht. Die Geschichte ist – von der Melodramatik her gesehen – im Grunde eine doppelte. Während Robert, dem klassischen Melodrama folgend, aus einer schmerzhaften und unerfüllten Liebe (zu Willie) heraus zu einem Nachkriegshappyend „geführt” wird (Erfolg als Musiker, Dirigent, Heirat mit Miriam), verkehrt sich das Melodramatische bei Willie. Bei ihr steht die Liebe am Anfang, dann kommt der Erfolg als Star, und am Schluss steht in puncto Robert die bittere Erfahrung, dass Wunsch und Begehren unerfüllbar sind.

Willie liebt Robert über die Jahre des Krieges hinweg. Je weniger sie sich sehen (können), desto grösser ist ihr Wunsch, sich mit Robert „irgendwann” wieder zu vereinen. Hier liegt ihr fast schicksalhaft anmutender Irrtum. Denn ansonsten handelt Willie nach dem Gesetz des Tausches: Gebt ihr mir das, gebe ich Euch das. Während sie sich einerseits dem Regime gegenüber prostituiert und als Markenzeichen, als wirkliches Zeichen des Regimes vermarkten lässt und dafür entsprechende Privilegien, Ruhm, Geld erhält, behauptet sie andererseits ihre Unabhängigkeit gegenüber den sie begehrenden Männern (Henkel und von Strehlow, aber auch Taschner), eben auch, weil sie dadurch, dass sie an ihrer Liebe zu Robert festhält, eine unabhängige Entscheidung trifft, die niemand beeinflussen kann.

Es sind diese emotionale Grundentscheidung und die Erkenntnis, dass ihr Leben und Überleben von der grundlegenden Bestimmung durch Tauschverhältnisse geprägt ist, die ihr Verhalten einer gewohnten Sichtweise à la: „Sie hat sich den Nazis verschrieben, um Ruhm zu erlangen” etc. entziehen. Das mag auch damalige Kritiker des Films dazu bewogen haben, Fassbinder vorzuwerfen, er habe sich – in welcher Weise auch immer – zu sehr der Ästhetik des Faschismus genähert. An einer Stelle des Film sagt Willie zu Robert, der wissen will, auf welcher Seite sie steht:

„Auf deiner Seite. Solange ich lebe, werde ich immer auf deiner Seite stehen. Aber man kann es sich nicht immer aussuchen, wie man leben will, wenn man überleben will.”

Diese Aussage ist ernst gemeint, nicht nur so dahin gesagt. Sie fällt in der wohl zentralen Szene des Films, in der alle Bedeutungen, Zeichen, Ereignisse, privaten wie politischen Dimensionen in einer Sequenz derart „übertrieben” zusammengeschnitten wurden, dass es einiges an Überlegung kostet, was Fassbinder hier eigentlich deuten will.

„Sie wollen das Lied nicht begreifen,
Sie denken an Knechtschaft und Krieg
Derweil unsre Äcker reifen,
Du Fahne der Freiheit, flieg!
Wir werden weiter marschieren,
Wenn alles in Scherben fällt;
Die Freiheit stand auf in Deutschland
Und morgen gehört ihr die Welt.” (3)

Willie ist bei Henkel, um das Lied aufzunehmen. Die Aufnahmen dauern die ganze Nacht. Und Willie ist nervös und müde. Henkel ordnet um 6 Uhr morgens eine Pause an. Er lässt das Radio anstellen. Man hört den Führer mit den Worten: „Seit 5.45 wird jetzt zurückgeschossen.” Kriegsbeginn. Im Hintergrund steht Frau Lederer (Karin Baal), eine Verbindungsperson des Widerstands in München. Im Garten – es ist noch dunkel – wartet Robert, der Gewissheit will, auf welcher Seite Willie steht. Alles und alle sind beisammen. In dieser Szene konzentriert sich die ganze Tragik der damaligen Situation in wenigen Personen. Sämtliche Schnittpunkte, „Verwicklungen”, Konfliktsituationen usw. sind ebenfalls „beisammen”.

In den Problemen bei der Aufnahme des Liedes offenbart sich die Widersprüchlichkeit des Hits selbst – äusserlich formuliert in dem Zwist zwischen Goebbels, der das Lied als zersetzend brandmarkt, und Hitler, der die Bedeutung des Lieder für das Regime erkannt hat –: es schwankt zwischen Todessehnsucht („Aus dem stillen Raume, aus der Erde Grund hebt mich wie im Traume Dein verliebter Mund. Wenn sich die späten Nebel dreh'n, werd' ich bei der Laterne steh'n”) und Defaitismus, Verweigerung („so woll'n wir uns da wiederseh'n, bei der Laterne woll'n wir steh'n, wie einst Lili Marleen”), enthält aber zugleich ein Versprechen, das durch seine allabendliche Wiederholung dem Regime nützlich wird: die Aussicht auf die Wiedergewinnung des verlorenen (Liebes-)Objekts nach (!) dem Schrecken des Krieges. Das Lied reproduziert damit das Doppelgleisige der NS-Ideologie: Nur durch den (totalen) Krieg („Anstrengung”, Kampf, Mut etc.) werde das „Tausendjährige Reich” („das Himmelreich auf Erden”) möglich.

Die Brüchigkeit dieses Kontextes offenbart sich in der Szene durch die Schwierigkeiten, zu einer angemessenen Aufnahme zu gelangen: Henkel drängt, Willie will „doch nur ein Liebeslied singen”. Das Lied wird montiert mit dem „Kriegsausbruch”, den Hitler ideologisch als Verteidigungsmassnahme verkauft (das Märchen um den polnischen Angriff auf den Sender Gleiwitz). Draussen wartet Robert, der Gewissheit von Willie will. Später wird sie aus Liebe zu Robert den Film über die KZs schmuggeln. Der Widerstand in der Person von Frau Lederer wartet ebenfalls. Die Szenerie ist beängstigend und enthüllend zugleich. Alle warten. Henkel auf die Aufnahme, Robert auf Willie, der Widerstand auf Willie, Willie wartet auf das Ende der Aufnahme, die sie überfordert (sie will doch nur ein Liebeslied singen).

Aber gerade in dieser „Warteschleife” liegt die bittere Ironie, die Fassbinder in diese Szene hineinprojiziert. Das Warten symbolisiert in gewisser Weise nur die massive, an diesem Punkt – dem Angriff auf Polen – konzentrierte Abhängigkeit, der sich die Handelnden unterworfen haben. Das Wort „Verstrickung” erhält so einen verschobenen Bedeutungsgehalt, weil es nicht mehr „einfach” um „persönliche Verstrickung” geht, sondern um ein komplexes Abhängigkeitsverhältnis, das von einzelnen nur noch schwer durchschaubar ist. Sich verstricken und verstrickt werden durch andere werden in dieser Sicht zu einer untrennbaren Einheit, so dass „Schuld” nur ein Moment des Geschehens darstellt.

Die Herrschaft der Tauschverhältnisse bis in die letzten Winkel menschlicher Beziehungen offenbart sich auf drastische und zugleich (durch die Montage in dieser Szene) ironische Weise. Robert hat sich dem patriarchalen Vater unterworfen. Dafür erhält er eine „alternative” Frau, Miriam, die dem System, das sein Vater repräsentiert, angemessen ist. Andererseits: Das Regime bietet Willie Ruhm, sie tritt als Gegenleistung dafür als Star auf. Sie schmuggelt einen Film, um Robert ihre Liebe zu beweisen in der Hoffnung, sich wieder mit ihm zu vereinen („So woll'n wir uns da wiederseh'n”).

Fassbinder gruppiert die Geschichte und seine Protagonisten um ein Lied. Die Person, also das Subjektive, verschmilzt mit diesem Lied (Willie unterzeichnet Autogrammbilder mit „Lili Marleen”). Diesem Vorgang sind das Ich zerstörende Momente inhärent, doch zugleich gewinnt Willie durch diese Verschmelzung, diese Ineinssetzung mit einem Lied Freiheit, ja sogar Widerstand (sie unterstützt Günther Weisenborn, eine Hauptfigur des Widerstand, im Film gespielt von Fassbinder). Dies ermöglicht Fassbinder, über die schale, in den 70er Jahren gängige Gleichsetzung von Faschismus und Kultur – hier gleich Film, Kino, Hollywood – eine eigene Position zu bewahren, bei der es darauf ankommt, in welcher Weise die Zeichen und das Zeichensystem wirken, in welchem Kontext sie stehen, und nicht allein darauf, ob ein Regime diese Zeichen instrumentalisiert oder instrumentalisieren kann.

Das Lied „Lili Marleen” verbindet – zumindest ist dies Inhalt des Films – die Protagonisten, aber auch Kinopublikum und Star im Film, Schauspieler und Publikum, Lied und Publikum und so weiter. Wie gesagt: Es ist kaum möglich – und wenn dann ein Akt des gezielten Ausweichmanövers –, sich der Anziehungskraft von Hanna Schygulla gleich Willie gleich Lili Marleen zu entziehen. Selbst als Henkel nach Willies Selbstmordversuch sie zwingt, noch einmal vor versammelter Partei aufzutreten und Willie, körperlich und seelisch geschwächt, hergerichtet fast wie eine Leiche zur Beerdigung, vom Treppchen steigt, stolpert, sich aber aufrecht hält, verbreitet dieser Star eine Anziehungskraft, die kaum kalt lassen kann. Jetzt allerdings repräsentiert ihr Auftritt schon den Untergang des Reiches. Den Kopf nach oben gehalten, die Augen geschlossen, blass, gibt sie sich noch ein letztes Mal her. Aber auch in dieser Szene liegen Prostitution und das Beharren auf Anders-Sein – und damit die Sprengkraft der gesamten Situation des Krieges, der Vernichtung hier, der Liebe und des Widerstands dort – so nahe beieinander, dass es die Vorstellungskraft des Betrachters fast sprengt und ihn emotional zu zerreissen droht.

Ulrich Behrens

(1) „Lili Marleen“ (Musik: Norbert Schultze, Text: Hans Leip)

(2) Thomas Elsaesser: Rainer Werner Fassbinder, Berlin 2001, S. 240. Vgl. auch dort die umfangreiche Analyse des Films, S. 239-280.

(3) „Heute (da) (ge)hört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“, neben dem „Horst-Wessel-Lied“ wohl das bekannteste und berüchtigste NS-Lied. Hans Baumann, Jahrgang 1914, Mitglied der Führung der Hitlerjugend, hatte den Text als Gedicht verfasst. Der Text wurde von den Machthabern mehrfach geändert.

Lili Marleen

Deutschland

1981

-

120 min.

Regie: Rainer Werner Fassbinder

Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder, Manfred Purzer, Joshua Sinclair, Werner Uschkurat, frei nach Lale Andersen

Darsteller: Hanna Schygulla, Giancarlo Giannini, Mel Ferrer

Produktion: Luggi Waldleitner, Enzo Peri

Musik: Peer Raben

Kamera: Xaver Schwarzenberger, Michael Ballhaus

Schnitt: Rainer Werner Fassbinder, Juliane Lorenz