Das Meer ist friedlich, wenn Amir (Hamid Reza Abbasi) mit seiner Freundin Narges (Sadaf Asgari) ein paar schöne Stunden am einsamen Strand verbringt. Aber der junge Iraner wird auch die andere, ungezähmte Seite der Kaspischen See kennenlernen. Denn nachdem er seinen Job bei einem Cateringservice verloren hat, muss er bei den Fischern anheuern. Amir ist arm, aber seine Geliebte stammt aus einer wohlhabenden Familie. Um sie zu heiraten, muss der Bräutigam in spe eine Menge Geld aufbringen, für die Hochzeitsfeier und das Brautgeld. Mit ehrlicher Arbeit ist das nicht zu schaffen.
Also lässt sich Amir allzu leicht in das lukrative Kaviar-Geschäft seiner neuen Kollegen verstricken. Die schlachten unter Schutz stehende Störe ab und verkaufen die fragwürdige Delikatesse teuer an piekfeine Restaurants. Natürlich ist das brutal, aber die gesellschaftlichen Verhältnisse unter dem iranischen Mullah-Regime lassen der jungen Generation kaum eine andere Wahl, wie das eindringliche Sozialdrama von Behrooz Karamizade mit dezent vorgetragener, aber unübersehbarer Anklage klarmacht.
Wie ein Seismograph
Eine enge Gasse: Amir ist gerade mit seinem Motorrad losgefahren, da kommt ihm ein bulliger Geländewagen entgegen. Für beide ist kein Platz an der Engstelle. Wer also hat Vorfahrt? Für den Fahrer des dicken SUV ist das keine Frage. „Fahr zurück“, ruft er dem schwächeren Verkehrsteilnehmer zu. Wie eine lästige Fliege scheucht er ihn von der Strasse. „Danke“ bleibt ein Fremdwort. Es sind Szenen wie diese, die mit feinen Strichen das Bild einer Gesellschaft zeichnen. Immer wieder schaut Regisseur und Drehbuchautor Behrooz Karamizade sehr genau hin, wenn es um Macht und Einfluss geht. Wie verhalten sich Arbeitgeber, Brauteltern oder staatliche Autoritäten? Und was sagt das über das Leben in einem Land aus, in dem die 22-jährige Mahsa Amini im letzten Jahr von der Sittenpolizei zu Tode geprügelt wurde – wegen eines angeblich nicht korrekt getragenen Kopftuchs?Zwar hat der Filmemacher sein Debüt schon vor diesem Ereignis und seinen Folgen konzipiert. Aber den sozialen Spannungen, die dazu führten, spürt der Film wie ein Seismograph nach. Das ist umso erstaunlicher, als der 1978 geborene Filmemacher bereits seit Mitte der 1980er Jahre in Deutschland lebt. Aber er hat sein Langfilmdebüt mit spürbarem Herzblut für die alte Heimat recherchiert und es auch komplett dort gedreht: ein kleines Wunder, das heute wohl nicht mehr möglich wäre, angesichts der verschärften Repression und Zensur nach den aktuellen Protesten. Zu Recht gab es bereits 2021 für das damals noch unverfilmte Drehbuch den Deutschen Filmpreis „Lola“ in Gold.
Alles dreht sich um Geld
Immer wieder richtet die Kamera von Ashkan Ashkani den Blick auf Geldscheine. Das Zahlungsmittel ist nicht nur ein Fetisch für Träume von einem besseren Leben, sondern auch ein Symbol für abgründiges Misstrauen. Immer wieder wird nachgezählt, ob man auch nicht übers Ohr gehauen wird. Die vielen Scheine sind zudem ein Hinweis auf die dramatischen Folgen der Inflation, von der kurz in einem nebenher laufenden Fernseher die Rede ist. Sie lässt die Kluft zwischen arm und reich immer grösser werden. Für die kleinen Leute, die einst das Mullah-Regime stützten, wird der Überlebenskampf immer härter.All das erzählt der Film quasi wie nebenbei, als Begleiterscheinung einer Liebesgeschichte, die an der Klassengesellschaft zu zerbrechen droht. Zwar ist das Erzählmuster von den jungen Leuten, die wegen ihrer familiären Herkunft nicht zusammenkommen dürfen, nicht gerade neu. Aber die ausgefeilte Bildsprache macht den Mangel wett. Nicht von ungefähr haben sich Regisseur und Kameramann für ein breites Format entschieden. So lässt sich quasi innerhalb des Persönlichen und um es herum das Gesellschaftliche einfangen: die Lage der Fischer, die Umweltverschmutzung am Kaspischen Meer, die Machenschaften der Kaviar-Wilderer und der Reichtum derer, die sich ein teures Restaurant leisten können.
Man spürt in jeder Einstellung, dass Filmemacher Behrooz Karamizade auch als Kameramann und Fotograf tätig ist. Anders als in anderen Sozialstudien sind die Einstellungen in Leere Netze nicht unruhig und verwackelt, sondern sorgfältig komponiert. In der dokumentarischen Genauigkeit schwingt so ein poetischer Gegenentwurf mit. Er erzählt von der Schönheit des Meeres – und auch von einem Leben, wie es gerechter sein könnte.