Was tun bei einem Kaffeekränzchen der „alten Mädels“, einer Gruppe von meist alleinstehenden Frauen um die 70? Das Video von der jüngsten Darmspiegelung anschauen, wie es eine Hypochondrikerin vorschlägt? Oder doch lieber der Geschichte vom Treffen mit einem charmanten Gentleman lauschen? Die Iranerin Mahin (Lily Farhadpour), deren Mann vor 30 Jahren starb und deren Tochter im Ausland lebt, bevorzugt Letzteres. Und lässt sich durch die Erzählung der sinnenfrohen Freundin auf den Gedanken bringen, dass man keineswegs die Tage so einsam und öde dahindämmern lassen muss, wie es die gutsituierte und selbstbewusste, aber unglückliche Frau bislang tat. Bei einem Restaurantbesuch wird sie auf den ebenfalls anhanglosen Taxifahrer Faramarz (Esmail Mehrabi) aufmerksam. Sie nimmt ihr Herz in die Hand, spricht ihn an und erlebt die vielleicht schönsten Stunden ihres Lebens.
Strafbare Musik
Der vielsagende Blick in den Spiegel verändert alles. Mahin schminkt die Augenlider, legt Rouge und Lippenstift auf. Ohne dass es ausgesprochen würde, ist klar, dass sie sich nun endlich mal wieder ein Stück vom Kuchen des Lebens nehmen wird – und ihre köstlichen Süssigkeiten nicht mehr nur für andere bäckt. Vieles liegt in den ruhigen Bildern, die mit wenigen Schnitten auskommen. Etwa, wenn Mahin nicht auf dem Rücksitz des Taxis Platz nimmt, sondern vorne. Oder wenn der ebenfalls nicht mehr junge Faramarz vor dem abendlichen Date in Mahins Wohnung noch bei einer Apotheke vorbeifährt und – wie sich später herausstellt – blaue Pillen kauft.Andere Informationen hingegen packen die Autorenfilmer Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha (Ballade von der weissen Kuh, 2021) in beiläufige und trotzdem pointierte Dialoge. So erfährt man über Faramarz, dass er einen Monat im Gefängnis sass, weil er auf einer Hochzeit Musik machte. Und dass er sehr gerne Wein trank, als das noch nicht verboten war. Spätestens bei solchen wie nebenbei eingestreuten Alltagsbemerkungen ahnt man, weshalb die iranische Regierung den Film verbieten wollte und das Ehe- und Regiepaar nicht zur Berlinale 2024 reisen liess, um persönlich die feine Geschichte mit ihrer subtilen Sprengkraft vorzustellen.
Ein kleines Stück vom Kuchen kommt daher wie seine weibliche Hauptfigur: innerlich stark, äusserlich gelassen und erfüllt von leisem Humor. Ohne vordergründig aufklären oder belehren zu wollen, erzählt der Film zwei Geschichten in einer. Erstens die von der Einsamkeit im Alter und der Sehnsucht nach einem gleichgesinnten Partner. Zweitens die von einem Land, das seit langem in einer Sackgasse steckt und einen Aufbruch ebenso nötig hat wie Mahin, die trotz ihrer sehr präsenten und einzigartigen Individualität zugleich für alle Frauen im Iran steht. Ihr Alltag wird so gezeigt, wie er ist, und nicht, wie ihn das religiös-autoritäre Regime gerne hätte und in zensierten Filmen vorgaukelt. In ihren eigenen vier Wänden tragen Frauen keinen Schleier. Sie nehmen ihn auch nicht mit ins Bett. Und wenn sie ihn draussen tragen, dann so, dass auch ein paar Haare noch zu sehen sind.
Hohes Risiko
Getragen wird die warmherzige Komödie um späte Glücksmomente vor allem von Hauptdarstellerin Lili Farhadpour. Sie ist zwar keine gelernte Schauspielerin, sondern Journalistin und Leiterin eines Kulturinstituts. Aber vielleicht gelingt ihr gerade deshalb die Darstellung des ganz normalen Alltagslebens einer iranischen Frau so gut, weil sie sehr genau kennt, was sie verkörpert. Und weil ihr die Emanzipation von Frauen und dem ganzen Land, um die es im Film geht, offensichtlich sehr am Herzen liegt. 2010 sass sie für drei Monate im Gefängnis, weil ihre journalistische Berichterstattung bei der machthabenden Männerriege aneckte. Ebenso wie die Filmemacher, denen die Pässe abgenommen wurden und die noch immer von den Behörden schikaniert werden, ging die Hauptdarstellerin mit ihrer Rolle ein hohes Risiko ein.Dabei zeigt die Produktionsgeschichte der kleinen, aber tiefgründigen Romanze, wie sehr die Bewegung „Frau, Leben, Freiheit“ bereits in der Luft lag, als die Filmemacher das Drehbuch schrieben. Drei Monate, bevor die junge Kurdin Mahsa Amini wegen eines angeblich schlecht sitzenden Kopftuches im September 2022 sterben musste, hatte die Vorproduktion des Films begonnen. Und so war es fast zwangsläufig, dass die Regisseure noch eine Anspielung auf die Kontrollen der Sittenpolizei in die Handlung einschmuggelten. Aber nicht die politische Aktualität macht das intensive Kammerspiel so sehenswert – sie ähnelt mehr einer bitteren und dennoch notwendigen Zutat in einem ansonsten vorzüglichen Kuchen. Die Faszination für die zauberhafte Feier kleiner Glücksmomente ergibt sich vor allem aus einer Inszenierungskunst, die das Publikum Mäuschen spielen lässt in einem Leben, das gleichzeitig fremd und vertraut anmutet.