Der wilde Birnbaum - The Wild Pear Tree Immer noch auf der Suche

Kultur

„Der wilde Birnbaum“ ist eine Geschichte über das Suchen nach Orientierung im Leben, über Familienkonflikte und das Hadern mit der Welt.

Der türkische Filmregisseur Nuri Bilge Ceylan am Film Festival von Kerala, 2014.
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Der türkische Filmregisseur Nuri Bilge Ceylan am Film Festival von Kerala, 2014. Foto: Sheydai (CC BY-SA 4.0 cropped)

23. April 2021
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Durch seine prächtigen Aufnahmen und seine teils unerfahrene Darstellerriege gelingt Nuri Bilge Ceylan abermals ein schöner Film über Menschen, welche diese Schönheit noch erkennen müssen, um sie in ihr Leben zu lassen.

Bevor Sinan (Aydin Doğu Demirkol) seine Abschlussprüfung als Lehrer an der Universität ablegt, kehrt er zurück in seine Heimat, das kleine, verschlafene Dorf Çan. Auch wenn sein weiterer Werdegang sicher zu sein scheint, hadert der junge Mann damit, für den Rest seines Lebens zu unterrichten und sucht stets nach neuen Richtungen für sein Leben. Grosse Hoffnungen setzt er in seinen noch unveröffentlichten Roman, einen, wie er sagt, seltsamen Mix aus Autofiktion und Meta-Roman, der von seinem Leben, seiner Heimat und seinem Elternhaus handelt.

Während er im Dorf verschiedene Geschäftsleute aufsucht, um an Geld für die Veröffentlichung zu kommen, muss er zu Hause die ständigen Streitigkeiten seiner Eltern erdulden, die sich besonders um die Spielsucht seines Vater İdris (Murat Cemcir) drehen. Um der unruhigen Lage daheim zu entkommen und weil er bei der Suche nach finanzieller Unterstützung für sein Buch auf wenig Begeisterung stösst, trifft er sich hin und wieder mit alten Klassenkameraden, von denen viele nun eine feste Stelle habe oder gleich ganz in Çan geblieben sind. Aufgrund der hoffnungslosen Lage seines Buchprojekts und der, wie er es beschreibt, Rückschrittlichkeit der Dorfbewohner wird Sinan immer frustrierter, bis es dann zu einem fürchterlichen Streit mit seinem Vater kommt.

Immer noch auf der Suche

Der nunmehr achte Film des türkischen Regisseurs Nuri Bilge Ceylan, der 2018 im Wettbewerb um die Goldene Palme in Cannes lief, ist neben Winterschlaf das mit 188 wahrscheinlich längste Werk des Regisseurs. Inspiriert wurde Ceylan von einer Geschichte, die sich in der Nähe seines Heimatdorfes abspielte und von einem Zwist zwischen einem Vater und seinem Sohn handelte. Akin Aksu, der Sohn in der Geschichte, fungierte in The Wild Pear Tree dann auch als einer der Autoren, während der Film, wie so viele Werke Ceylans, nicht nur von der prächtigen Schönheit seiner Heimat zeugt, sondern auch von Menschen, die trotz ihrer Bildung und ihres Standes an der Orientierungslosigkeit in ihrem Leben leiden.

Wie so oft ist die Kategorisierung eines Films im Falle Ceylans nicht so einfach und die Bezeichnung Drama eher sehr frei gewählt. Dennoch ist The Wild Pear Tree, alternativ als Der wilde Birnbaum bekannt, eines bestimmt nicht, ein Coming-of-Age-Film, denn dazu wirkt ein Charakter wie der, den Aydin Doğu Demirkol im Film spielt, einfach zu verloren, stets auf der Suche nach der eigenen Stimme und einem Mentor, von dem er sich nicht nur Unterstützung für seine künstlerischen Aspirationen erhofft, sondern auch eine Art Vaterersatz, da er seinem echten Vater eher distanziert begegnet.

Generell wirkt ein Charakter wie Sinan auf den Zuschauer beinahe abstrakt, wie jemand, der zwar in der Umgebung des Films auftritt, aber eigentlich gar nicht so richtig da ist (oder da sein würde). Paradoxerweise sucht dieser Mensch nach Dingen, nach Personen, die ihn berühren, versteckt sich aber gleichzeitig hinter der Maske des Schriftstellers oder des Beobachters. Während seine Familie immer am Rande der Selbstzerfleischung steht und sich die Fronten im Elternhaus verhärten, verweilt er in der Position des Betrachters, der wortgewandt die Unzulänglichkeiten anderer kommentiert, aber dabei das Bild von sich selbst aus den Augen verliert.

Von Bürokraten und Künstlern

Ein ähnlich paradoxes Bild bietet auch das Stadtbild Çans und dessen Umgebung. Diese Landschaft aus Industrieschornsteinen, Steinbrüchen und bewirtschafteten Feldern scheinen das negative Bild des Protagonisten von seiner Heimat zu bestätigen, die er als „rückständig“ beschreibt. Andererseits zeugen viele Aufnahmen von Kameramann Gökhan Tiryaki von der Schönheit der Landschaft, die sich dem Zuschauer erschliesst, für die Sinan aber blind zu sein scheint oder der er bereits überdrüssig ist.

Innerhalb dieses Handlungsortes passt es in Sinans Weltbild, wenn die Kulturschaffenden oder Intellektuellen, wie er und sein Vater, unglücklich und meist arm bleiben, wohingegen die Geschäftsleute und Bürokraten, die schnell in ihrem „Nein“ für das Projekt Sinans sind, das Glück gepachtet zu haben scheinen. Trost findet er in dem titelgebenden Baum mit den wilden Birnen, die nirgendwo so recht hinpassen und um ihren Platz kämpfen müssen.

Rouven Linnarz
film-rezensionen.de

Der wilde Birnbaum - The Wild Pear Tree

Türkei, Frankreich, Deutschland

2018

-

188 min.

Regie: Nuri Bilge Ceylan

Drehbuch: Nuri Bilge Ceylan, Ebru Ceylan, Akin Aksu

Darsteller: Aydin Doğu Demirkol, Murat Cemcir, Bennu Yıldırımlar

Produktion: Zeynep Ozbatur Atakan

Musik: Andreas Mücke Niesytka

Kamera: Gökhan Tiryaki

Schnitt: Nuri Bilge Ceylan

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-SA 3.0) Lizenz.