Rezension zum Film von Claude Chabrol Vor Einbruch der Nacht

Kultur

Der für Chabrol typische Blick hinter die Fassade der Bourgeoisie - kann dieser Thriller dem Genre noch etwas Neues abgewinnen?

Der französische Schauspieler Michel Bouquet spielt in Claude Chabrols Drama «Vor Einbruch der Nacht» den erfolgreichen Pariser Werbefachmann  Charles Masson.
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Der französische Schauspieler Michel Bouquet spielt in Claude Chabrols Drama «Vor Einbruch der Nacht» den erfolgreichen Pariser Werbefachmann Charles Masson. Foto: Béatrice Louise (PD)

1. Juni 2016
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Claude Chabrols «Just avant la nuit» – ein Drama aus seiner besten Periode, in der auch «Der Schlachter» und «Das Biest muss sterben» entstand – ist ein recht simpler Kriminalfall. Anders als etwa bei «Die Unschuldigen mit den schmutzigen Händen» gibt es keine überraschenden Wendungen, keine aufgesetzten Wendepunkte. «Vor Einbruch der Nacht» ist geradlinig und diesbezüglich unprätentiös – ein bescheidener Film, dessen grösste Stärke eben diese Eigenschaft ist. In der Hauptrolle als Ehemann und Mörder glänzt Michel Bouquet, der des Öfteren für den Regisseur vor der Kamera stand. Wie nicht anders zu erwarten ist auch dieser Film des französischen Regisseurs eine Demaskierung des Gutbürgertums, was dieses Drama jedoch von den anderen Werken Chabrols unterscheidet, ist, dass sich die Hauptfigur Charles Masson standhaft weigert, als Bourgeoise bezeichnet zu werden – gar das Führen eines (luxuriösen) Autos würde er als Untergang empfinden.

Es scheint fast so, als wüsste Masson, was der gnadenlose Chabrol mit seinem Schicksal vorhätte, würde er sich als Bourgeoise zu erkennen geben, denn trotz gegenteiliger Behauptung ist Charles nichts anderes als das. Er arbeitet in einer Werbefirma, verdient gutes Geld, hat ein luxuriöses Haus, eine attraktive Frau und zwei gesunde Kinder. Er führt eine Bilderbuchehe – so würde man vielleicht denken, würde die erste Einstellung des Films nicht einen Charles Masson zeigen, der paralysiert ins Dunkle starrt, verlassen, einsam, depressiv. Hinter ihm räkelt sich eine nackte Frau auf einem zerwühlten Bett. Sie fleht ihn an, zu ihr zu kommen. Er soll sie schlagen, er soll sie misshandeln, er soll sie vergewaltigen und würgen. Charles findet all das widerwärtig, der SM-Fetisch seiner Geliebten ist ihm zuwider. Doch eines Nachmittages überkommt es ihn – er würgt seine Gespielin Laura solange, bis sie tot hernieder liegt. Nach der Tat flüchtet er sich in eine Bar, trinkt zwei Whisky, übergibt sich.

Als er von der Toilette zurückkehrt, trifft er auf seinen besten Freund Francois (Francois Périer), ein Architekt, der seinerzeit das Haus von Charles entwarf und obendrein der Ehemann von Laura ist, welche vor nur wenigen Minuten den Tod fand. Es dauert nicht lange, als Francois vom Schicksal seiner Frau erfährt, doch der letzte, den er verdächtigt ist Charles. Dieser hat immer mehr Probleme in sein geordnetes Familienleben zurückzufinden, der Umgang mit Frau und Kindern fällt ihm immer schwerer, er wird von schlimmen Depressionen geplagt. Bald wird ihm klar, dass es für ihn nur eine Möglichkeit gibt, seinen Frieden zu finden…

Die Bourgeoisie gibt sich SM-Spielen hin – nicht etwa am Abend oder in der Nacht, sondern am hellen Nachmittag, zu einer Zeit, wo man die Menschen bei ihrer Arbeit vermutet, ohne die sie ihr luxuriöses Anwesen nicht hätten bezahlen und unterhalten können. Unter all den Dramen Chabrols, die diese „Klasse“ satirisch karikieren, ist Juste avant la nuit einer der interessantesten und das aus mehreren Gründen. Es ist keine Seltenheit, dass der Zuschauer unweigerlich Sympathie mit dem Mörder empfindet, der mehr unter einem Mord leidet als alle Angehörigen des Opfers, doch Chabrol fügt dieser Charakterstudie einen weiteren Aspekt hinzu, der aus der Geschichte gar eine groteske Farce macht, denn Charles Masson ist der einzige, der sich für seine Tat verurteilt. Aufgrund seiner Tat beginnt dieser verschlossene Spiesser, offen und ehrlich zu werden, er demaskiert sein Privatleben vor der eigenen Frau und leidet dabei zusehends, wenn er ihr von seinen Fehlern in der Ehe gesteht.

Wider Erwarten interessiert das die Ehefrau nicht im Geringsten – es stört sie nicht nur nicht, dass ihr Mann sie über Monate betrogen hat, sondern sie kümmert sich nicht einmal darum, als er ihr beichtet, dass er einen Mord begangen habe. Chabrol macht sich nicht die Mühe, diesen Aspekt auf komplexe Weise zu verstecken, denn es wird schnell deutlich, dass der Mörder der einzige ist, der zu seinen Gefühlen steht, während die anderen Personen gefühlskalte Karikaturen ihrer selbst sind. In dieser Hinsicht ist es interessant, wie die Figuren in diesem Stück mit der Wahrheit umgehen, dass der Killer sensibler und emotionaler gezeichnet wird, als alle anderen Charaktere.

Wie auch in den meisten anderen Filmen des Pariser Regisseurs wird die Polizei auch hier als überflüssig, machtlos, naiv und dumm dargestellt – sie spielt schlicht keine Rolle für den Fall, gibt ihre eigene Machtlosigkeit zu und sieht dabei zu, wie ihnen Charles Masson freiwillig Dutzende Spuren vor die Nase legt, ohne dass sie Notiz davon nehmen. Es geht in dieser Studie nicht um die Aufklärung eines Kriminalfalles, sondern einzig und allein um das Seelenleben des Mörders – geschildert sowohl mit Einfühlvermögen, Geduld und Intensivität, gleichzeitig aber auch mit unterschwelliger Bosheit und Masochismus. «Vor Einbruch der Nacht» ist ein Psychogramm über das innere Gefängnis, indem ein machtloser Familienvater hilflos gefangen ist und obwohl er die Schlüssel zu seiner Zelle in der eigenen Hand hält, ist er unfähig, das Schloss aufzuschliessen.

Stephan Eicke
film-rezensionen.de

Vor Einbruch der Nacht

Frankreich, Italien

1971

-

106 min.

Regie: Claude Chabrol

Drehbuch: Edward Atiyah, Claude Chabrol

Darsteller: Michel Bouquet, Stéphane Audran, François Périer

Produktion: André Génovès

Musik: Pierre Jansen

Kamera: Jean Rabier

Schnitt: Jacques Gaillard

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-SA 3.0) Lizenz.