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Casino

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Casino Schmiergeldcity

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Kultur

Eine Explosion. Ein Auto geht in Flammen auf. Ein Mann sitzt darin. Ein Choral ertönt (aus Bachs Matthäus-Passion) – wie ein Abgesang oder vielmehr eine göttliche Drohung vor dem Höllenfeuer.

Martin Scorsese in Cannes, 2002.
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Martin Scorsese in Cannes, 2002. Foto: Rita Molnár (CC BY-SA 2.0 cropped)

Datum 1. Januar 2019
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Eine Ära geht zu Ende – die Ära einer von der Mafia kontrollierten Glitzer-, Glamour- und vor allem Spiel-Stadt – Las Vegas in den 70er Jahren. Wie uns Sam Rothstein (Robert de Niro), genannt Ace, der die Geschichte seines Lebens in Las Vegas erzählt, am Ende verkündet übernahmen, dann „die Konzerne” die Stadt des Spiels – welche Konzerne, das sagt er nicht. Diese Konzerne liessen einige Spielhöllen abreissen, andere liessen sie aufbauen – und alles änderte sich in Las Vegas.

Scorseses „Casino” ist ein Film – basierend auf einem Roman von Nicholas Pileggi über die Las Vegas lange Jahre beherrschenden Mafiosi Rosenthal und Spilotro – über das alte Las Vegas – und doch zugleich auch – liest man zwischen den Zeilen – einer über das Las Vegas und damit über den Kapitalismus, wie er sich in den vergangenen zwanzig Jahren neu und auf anderer Ebene organisiert hat. Ein Film (im Subtext) auch über den „globalisierten” und neoliberal erstarkten Kapitalismus im Sinne der Theorien eines von Friedrich von Hayek und eines Milton Friedman.

In das alte Las Vegas kommen nacheinander die beiden Mafiosi Ace und Nicky (Joe Pesci), die sich schon lange kennen und zusammen viel Geld bei Wetten gemacht hatten. Ace, der keine Lizenz für ein Spielcasino hat, wird unter falscher Titulierung inoffizieller Leiter eines der grössten Casinos in Vegas. Die Mafia in Kansas City und anderswo schätzt seine Begabung für einen solchen Job. Und Ace weiss, wie er die grosse Geldanlage „Schmiergeldcity” zu den höchsten Einnahmen bringen kann. Hier zählt nur das eine: Geld. Und jeder im Casino, der mit den Einnahmen zu tun hat, zweigt sich entsprechende Summen ab – der Rest wandert zur Mafia.

Ace erklärt uns, wie Las Vegas funktioniert: Betrüger werden nicht geduldet – sie bekommen die Gewalt der Mafia zu spüren und erhalten Hausverbot. Alle anderen – und das sei die Kunst eines Casinoleiters – werden so lange bei der Stange, sprich an den Spieltischen und -automaten, gehalten, bis sie mit leeren Händen nach Hause gehen müssen. Die Creme de la Creme – Politiker, Unternehmer, hohe Polizeioffiziere und andere – verweilen in den Casinos – und sahnen mit ab, schützen die halb- und illegalen Praktiken der Casino-Betreiber und setzen ihre Leute oder Verwandte hier und da mit Jobs in die Casinos.

Das Zentrum allen Interesses und der grosse Regulator des Systems Las Vegas ist das Geld. Alles und alle sind darauf bezogen: die Casino-Besitzer, also zumeist die Mafia, die Spieler, die Angestellten, die Politiker – im wahrsten Sinn des Wortes jeder. Eine Stadt in der Wüste, sagt Ace, die man aber nachts, wenn die Spielhöllen arbeiten, nicht sieht. Tagsüber hingegen kann es sein, dass in der Wüste vor der Stadt Löcher gegraben werden – für diejenigen, die die Regeln nicht eingehalten haben.

Als Nicky nach Las Vegas kommt, fürchtet Ace, er könne durch seine skrupellose und den Regeln der Stadt nicht immer konforme Art vieles kaputt machen. Nicky ist ein Mafiosi alten Schlags. Er konzentriert sich zunächst auf den Verleih von Geld an Spieler – zu 3% Zinsen. Als er zu offen „arbeitet” und falsch spielt, erhält er Hausverbot in allen Casinos – und „spezialisiert” sich auf Einbrüche.

Doch Ace hat noch andere Sorgen: Er hat Ginger (Sharon Stone) kennen gelernt, eine Edel-Prostituierte, die sich darauf spezialisiert hat, reiche Spieler auszunehmen und danach zu verschwinden. Ginger interessiert – wie alle hier – nur Geld. Ace verliebt sich in sie, heiratet sie, obwohl sie ihn davor gewarnt hatte: Sie werde ihn wohl nie lieben. Zudem pflegt sie enge Beziehungen zu ihrem Ex-Zuhälter, einen verkommenen Kerl namens Lester Diamond (James Woods), dem sie immer wieder finanziell helfen will – ein Dorn im Auge von Ace, der Lester verabscheut.

Scorsese erzählt im wesentlichen anhand der Geschichte dieser drei Personen – Ace, Nicky und Ginger – die Geschichte des alten Las Vegas und dessen Untergang.

Die erste Stunde des Films handelt von den Casinos. Scorsese lässt Ace erzählen – wie Las Vegas funktioniert, dass jeder, der hierher kommt – zu welchem Zweck auch immer – befreit ist von Schuld. Jeder trete hier ein und befinde sich in einem System eigener Regeln – den Regeln des Spiels. Dieses Spiel – vordergründig für alle mit gleichen Chancen – ist beherrscht von den Eignern der Casinos. Sie haben die Regeln gemacht und sie sind die einzigen, die – einschliesslich ihrer Handlanger – wirklich „verdienen”. Der grosse Hobel Geld, der alle gleich macht vor dem Spiel, spuckt grosse Gewinner und ebenso grosse Verlierer aus. Während das Geld reguliert, Verlierer ausspeit, Gewinner belohnt und Betrüger vernichtet, beherrschen die Objekte die Subjekte.

Ob Diamanten, Villen, teure Autos, 1000-Dollar-Anzüge oder was sonst – die Gewinner werden zu (allerdings sehr lebendigen, handlungsfähigen und skrupellosen) Handlangern der toten Gegenstände der Moderne. Sie stehen nie ausserhalb des Systems. Die Villa, die Ace Ginger und sich kauft, ist nur der Schein eines normalen bürgerlichen Lebens, wie es ausserhalb von Las Vegas existieren mag. In Wirklichkeit ist dieses Leben ausschliesslich auf die Funktionsweise des Systems Las Vegas und die vollständige Integration aller in dieses System selbst bezogen. Das Geld wird zum (primären) Selbstzweck, dem alles untergeordnet ist.

Scorsese zeigt unmissverständlich, dass die Religion, aber eigentlich jede Art von Moral oder Ethik hier nicht existieren – wie auch jedes andere Regulativ sozialen Lebens nicht. Das Geld reguliert hier in einer Reinheit, wie sie anderswo nicht vorzukommen scheint.

Doch das ist nicht alles. Denn auch hier und gerade hier herrscht extreme Konkurrenz. Während Ace glaubt, sein Casino den Regeln entsprechend zu immer grösserem Reichtum verhelfen zu können, spielen Nicky und Ginger ihr eigenes Spiel im Spiel. Nicky, ein gewalttätiger Mafioso, der beauftragt wurde, die Geschäfte in Vegas zu kontrollieren, will selbst möglichst viel absahnen. Und auch Ginger heiratet Ace im Grunde nur, um an mehr Geld zu kommen, als sie jemals im Leben gesehen hat. Während Nicky dem alten Mafia-System verhaftet ist, schlängelt sich Ginger zunächst allein, dann mit Hilfe von Nicky durch die Probleme mit Ace. Während Nicky an seinen eigenen Machtgelüsten zwischen seinen Bossen und seiner „eigenen Politik” in Vegas scheitert und scheitern muss, scheitert Ginger an ihrer Isoliertheit gegenüber Ace. Ace wiederum, der ansonsten die Mechanismen der Stadt durchschaut, scheitert an Ginger, der er in einer Mischung aus Liebe, Machtbesessenheit und Abhängigkeit verbunden ist.

Diese Verstrickung der Akteure in persönliche Schuld und ihre „Bestrafung” ist weder alt-, noch neu-testamentarischen Ursprungs. Das anonyme System Vegas selbst straft – ohne Erbarmen.

„The town will never be the same.
After the Tangiers, the big corporations
took it all over. Today it looks like
Disneyland. And while the kids play
cardboard pirates, Mommy and Daddy
drop the house payments and Junior's
college money on the poker slots. In
the old days, dealers knew your name,
what you drank, what you played.
Today, it's like checkin' into an airport.” (1)

Im „alten” Las Vegas der Mafiabosse und ihrer Handlanger sind Gewalt, Geld und Macht aufs engste miteinander verwoben, die Regeln entsprechend deutlich für jedermann. Und doch knüpfen sich alle Intrigen, Machtgelüste und die Gier nach Geld an konkrete, fassbare Personen, die aufgrund ihrer „Fehler” scheitern. In seinem „Schlusswort” deutet Ace an, wie das neue Vegas aussieht: anonym. Die Leute betreten das Casino „like checkin' into an airport”. Während Ace, Nicky und Ginger trotz all ihrer Verbrechen, ihrer Widerwärtigkeiten im Film diejenigen Menschen repräsentierten, die das „alte” Vegas füllten, treten nun anonyme Grosskonzerne an deren Stelle. Das Geschäft wird auf eine von brutaler Gewalt, Mafiaherrschaft und Betrug befreite Basis gestellt.

Vegas wird plötzlich auch für Familien als Wohnort attraktiv gemacht (so die tatsächliche Entwicklung der Stadt ab den 80er Jahren). Die Strassenprostitution wird weitgehend eingeschränkt – und die Geschäfte in den Spielhöllen laufen besser denn je. Die neoliberale „Mafia”, die ihr Kapital weltweit investiert und über die Börsen das Geschehen auf dem Globus weitgehend bestimmt, ersetzt die alten Mächte. Das, was Michael Corleone in Coppolas Paten nie gelungen war: ein legaler Raubritter zu werden, das geschieht in dieser weltweit wohl grössten Spielhölle durch die modernen Konzerne. Die „Entpersönlichung” des Kapitalismus scheint vollkommen. Nur die Markenzeichen eines Konzerns, sein Name an der Börse usw. zählen noch in der Öffentlichkeit. Die Personen scheinen vollends zu Marionetten des „Systems” degradiert – auch wenn es ihnen dabei nicht gerade schlecht geht.

„Wir haben entdeckt (nicht erfunden!),
dass die beste Methode zur Erledigung
unserer Angelegenheiten die Teilnahme
an einem Spiel ist, das teilweise aus Glück,
teilweise aus Geschicklichkeit besteht.
Wenn wir aber das Spiel akzeptiert
haben, weil es effizient ist, können
wir hinterher nicht sagen, seine Ergebnisse
seien ungerecht. Solange niemand
betrügt, gibt es in diesem Spiel nichts
Ungerechtes. Auch dann nicht, wenn
man in diesem Spiel verliert." (2)

Die Vertreibung der alten Mächte, die Vertreibung der Mafia, von Ace und Nicky und ihre Verbannung in die Hölle (man vergleiche die Anfangssequenz des Films) ist die Vertreibung aus einem Pseudoparadies, in dem jeder, wie Ace sagte, der es betritt, mit einem „reinen Gewissen” operieren konnte. Das neue „Paradies” ist das der gelackten, sauberen anonymen Konzerne, die jeden Geruch von Betrug und Gewalt auszumerzen sich anschicken. Allein – der Betrug ist um so grösser.

Man mag manchmal den Eindruck haben, Scorsese hege eine leichte Sympathie für seine Figuren. Aber dies täuscht. Scorsese vermeidet es bloss, seine Akteure in die moralische Verdammnis zu schicken (dafür sorgen sie grösstenteils selbst). Das Grossartige an seinem Film ist es eben, dass er am Beispiel seiner Figuren demonstriert, welches Handeln welche Folgen zeitigt – in einem System, das uns völlig fremd zu sein scheint, und dessen Teil wir doch alle sind, wenn auch nicht in der Form, wie es die Spielhölle darstellt.

Ulrich Behrens

Fussnoten:

(1) Rothstein im Film.

(2) Interviewfilm "Inside the Hayek-Equation", World Research Inc., San Diego, Cal. 1979, frei übersetzt von Roland Baader. Von Hayek kennt nur die Alternative: Unterwerfung unter den „blind wirkenden” Markt oder unter einen Diktator (womit der vor allem die sozialistische Zwangsverwaltungswirtschaft versteht). Er macht in seinen Schriften deutlich, dass es den Neoliberalen vor allem darauf ankommt, dass die Wirtschaftssubjekte möglichst ungehindert dem „Spiel” nachgehen können, ohne dass ein Staat in das Geschehen eingreift. Der Staat soll nach seinen Vorstellungen nur die äusseren Rahmenbedingungen für die Wirtschaftssubjekte garantieren. Auch in einem Staat, der sich als Sozial- oder gar Wohlfahrtsstaat versteht, sieht von Hayek nicht nur eine Gefahr für die ungehinderte Entfaltung der Wirtschaftssubjekte, sondern auch Systemfremdes. Er verkleidet diese Kritik im Angriff auf Interessengruppen, die über Korruption oder andere Einflussnahme sich staatlicher Gelder versichern wollten. Das zielt in erster Linie gegen die Gewerkschaften, aber auch gegen jede Sozialgesetzgebung. Letztlich laufen diese Theorien in der Praxis hinaus auf eine moderne Form des Manchester-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts. Scorseses Film demonstriert in der Schilderung von Las Vegas auch in gewisser Weise das Funktionieren eines solchen neoliberalen Systems „in Reinkultur”.

Casino

USA

1995

-

178 min.

Regie: Martin Scorsese

Drehbuch: Nicholas Pileggi, Martin Scorsese

Darsteller: Robert De Niro, Sharon Stone, Joe Pesci

Produktion: Barbara De Fina

Kamera: Robert Richardson

Schnitt: Thelma Schoonmaker