Boogie Nights Boogie, can you boogie

Kultur

Stimmungen einzufangen, Atmosphären nachzuzeichnen und Situationen als völlig selbstverständlich darzustellen, die uns aussergewöhnlich, ja fast „exotisch“ anmuten, gehört zu den Fähigkeiten, die Paul Thomas Anderson nicht erst durch „Magnolia“ und „Punch-Drunk Love“ als Regisseur auszeichnete.

Der US-amerikanische Filmregisseur Paul Thomas Anderson (links) mit Schauspieler Daniel Day-Lewis in New York, Dezember 2009.
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Der US-amerikanische Filmregisseur Paul Thomas Anderson (links) mit Schauspieler Daniel Day-Lewis in New York, Dezember 2009. Foto: Jürgen Fauth (CC BY-SA 2.0 cropped)

16. November 2019
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In dem 1997 gedrehten „Boogie Nights“ lässt uns Anderson in die Zeit von Ende der 70er / Anfang der 80er Jahre eintauchen, in ein Milieu, das klar umschrieben scheint: die Pornofilm-Industrie. Der Film beginnt im Jahre 1977, einer Zeit, in der viele Regisseure meinten, sie könnten anspruchsvolle, künstlerisch wertvolle pornografische Filme drehen. Mit „Boogie Nights“ begab sich Anderson voll und ganz in dieses Milieu, aber er drehte keinen pornografischen Film.

Der junge Eddie Adams (Mark Wahlberg) verlässt sein Elternhaus. Seine Mutter hält ihn für einen Versager. Er arbeitet in einem Nachtclub im San Fernando Valley und trifft dort auf die Grössen der Pornoindustrie. Zu den von der künstlerischen Qualität ihrer Filme überzeugten Regisseuren gehört auch Jack Horner (Burt Reynolds), der eine ganze Reihe von Leuten um sich versammelt hat, u.a. den Pornostar Amber Waves (Julianne Moore), die eigentlich Maggie heisst und der ihr Mann den gemeinsamen Sohn wegnehmen hat lassen, weil Amber in Pornofilmen auftritt.

Wir treffen auf den Darsteller Buck (Don Cheadle), einer der Stars in Horners Filmen, dessen sehnlichster Wunsch eine eigene Familie ist. Zu Horner gehört auch Brandy (Heather Graham), die sich Rollergirl nennt und ihre Rollerskates nie auszieht, die Schule verlassen hat und ebenfalls in Filmen mitwirkt. Zu den Mimen gehört auch Reed Rothchild (John C. Reilly), der sich mit Eddie anfreundet. Horners Assistent ist Little Bill (William H. Macy), dessen Frau (gespielt von Pornostar Nina Hartley) sich ständig mit anderen Männern einlässt, einmal gar auf der Strasse, umringt von interessierten Zuschauern aus Horners Truppe.

Weiterhin sehen wir Maurice (Luis Guzmán), einen Clubbesitzer, der gern in einem von Horners Filmen mitwirken würde. Hinter der Kamera steht Kurt Longjohn (Ricky Jay) ein ruhiger, gelassener Mann, der von seiner Kunst als Kameramann überzeugt ist. Finanziert werden Horners Filme von Colonel James (Robert Ridgely), dem Horner auch Eddie als Neuentdeckung vorstellt. Eddie hat nämlich ein Kapital, das ihn reich machen könnte. „Ich habe das Gefühl“, sagt Horner, „dass in deinen Jeans etwas Wundervolles darauf wartet, enthüllt zu werden.“ Ganze 33 Zentimeter misst Eddies Wunderwaffe, und nicht nur das: Eddie hat eine enorme Ausdauer, wenn es darum geht, sagen wir es einmal so, die zentrale Voraussetzung an einen männlichen Pornodarsteller mehrfach hintereinander zu erfüllen.

Longjohn ist begeistert, Eddie legt sich einen Künstlernamen zu und wird als Dirk Diggler zum neuen Star am nackten Himmel. Eddie / Dirk wird vermögend, kauft sich ein Haus und ist davon überzeugt, dass jeder Mensch eine bestimmte Fähigkeit besitzt, aufgrund derer er es im Leben zu etwas bringen kann.

Als dann in den 80er Jahren Videotechnik zunehmend den Markt erobert, leidet die Kino-Porno-Industrie zunehmend darunter, und Horner und die Menschen um ihn herum müssen sich etwas einfallen lassen, wie sie weiter leben und arbeiten können ...

Anderson zaubert eine derart „natürliche“ Atmosphäre in der sozialen Umgebung um Horner, dass es einem manchmal die Sprache verschlägt. Lediglich Little Bill kommt mit der Selbstverständlichkeit, in der zwischen Sexualität im Leben und Pornografie im Film kaum ein Unterschied mehr gemacht wird, nicht zurecht. Er greift schliesslich zur Waffe. Alle leben in einer gebrochenen Welt, in der Jack Horner als eine Art Vaterfigur seine Familie um sich schart. Horner lebt mit Amber und Rollergirl in einer Villa, wie ein Vater mit Frau und Tochter. Amber, die für einige Filme mit Dirk schläft, sieht in ihm eine Art Ersatz-Sohn für ihren eigenen Sohn, den dessen Vater ihr entzogen hat. Rollergirl fühlt sich in dieser Atmosphäre wohl, während sie mit Schule wenig am Hut hat. Später allerdings, als wegen des Aufkommens von Videos die Pornofilmindustrie niedergeht, beschliesst sie, ihren College-Abschluss nachzuholen.

Nie sehen wir Horner bei sexuellen Aktivitäten; er erscheint – so sehr er auch entsprechende Filme dreht – geradezu als ein Mann, der in Enthaltsamkeit lebt, um sich voll und ganz um seine Grossfamilie kümmern zu können. Trotz der Zerbrechlichkeit dieses Milieus, dem Verlust von „normaler“ wirklicher Bindung, porträtiert Anderson seine Figuren nicht als hartgesottene und abgefeimte Individuen, die nichts als ihr Handwerk im Kopf haben. Das wird besonders deutlich, als die Pornoindustrie vom Kino zum Video wechselt. Eddie bekommt kurz zuvor einen Konkurrenten vor die Nase gesetzt, Little Bill scheitert, Amber grämt sich über den Verlust ihres Sohnes.

„Boogie Nights“ hat Esprit, Humor, enthält viele tragische Momente und zeigt den Fall eines Pornostars und die inhumanen Faktoren der Pornoindustrie, aber auch die Versuche seiner Protagonisten, dem entgegen zu steuern. Dabei fällt der Film nicht ab in Klischees über sein Thema und die Handelnden. Sex wird einerseits verkauft wie jede andere Ware oder Dienstleistung, andererseits wird deutlich, welche Dissonanzen und Brüche die Beschäftigung in der Branche mit sich bringt. Ähnlich wie Scorsese in „Goodfellas“ oder Coppola in „Der Pate“ in bezug auf die Strukturen im Bereich des organisierten Verbrechens und auf die diesbezüglichen Lebensweisen und Mentalitäten führt Anderson ein Milieu als Normalität vor, das uns emotional und hinsichtlich der Verhaltensweisen so fern ist; gleichzeitig gelingt es ihm jedoch, zu den Personen eine emotionale Nähe zu erzeugen, weil deren Sehnsüchte und Defizite sich von den unsrigen kaum unterscheiden.

Auch wenn Sexualität hier zu einer mechanischen Verrichtung verkommt, bei der „Gefühle“ nicht viel mehr bedeuten als professionell betriebene „Technik“ – man betrachte etwa die erste sexuelle Handlung zwischen Eddie und Amber vor der Kamera –, brechen die emotionalen Defizite und Sehnsüchte an allen Ecken und Enden dann eben doch durch. Alternativen zum niedergehenden Pornokino im kriminellen Milieu (etwa als Eddie, Scotty, gespielt von Philip Seymor Hoffman, und Ex-Party-Boy Todd, gespielt von Thomas Jane, einen Drogendealer berauben wollen) sind keine wirklich gangbaren Wege.

Mark Wahlberg, Julianne Moore und vor allem Burt Reynolds, aber auch die anderen Darsteller, die in vielen Subplots zu sehen sind, leisten hervorragende Arbeit.

Einen roten Faden durchzieht Andersons Schaffen von „Boogie Nights“ über „Magnolia“ (1999) bis zu „Punch-Drunk Love“ (2002): die teilweise verfremdete, sehr intensive und dicht inszenierte Visualisierung aussergewöhnlicher Milieus und Figuren, die uns näher stehen, als wir vermuten. „Boogie Nights“, obwohl zweieinhalb Stunden lang, langweilt nie, sondern fesselt uns an diejenigen, die uns so fern zu stehen scheinen.

Ulrich Behrens

Boogie Nights

USA

1997

-

149 min.

Regie: Paul Thomas Anderson

Drehbuch: Paul Thomas Anderson

Darsteller: Mark Wahlberg, Burt Reynolds, Julianne Moore

Produktion: Paul Thomas Anderson

Musik: Michael Penn

Kamera: Robert Elswit

Schnitt: Dylan Tichenor