Argentinien, 1985 – Nie wieder Ein zerrissenes Land?

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Kultur

„Argentinien, 1985“ ist ein gutgemeinter und gut inszenierter Gerichtsthriller, der einem Thema Aufmerksamkeit schenkt, das mehr von dieser verdient hat.

Der argentinische Schauspieler Peter Lanzani (2016) übernahm die Rolle von Luis Moreno Ocampo.
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Der argentinische Schauspieler Peter Lanzani (2016) übernahm die Rolle von Luis Moreno Ocampo. Foto: Ministerio de Cultura de la Nación (CC-BY-SA 2.0 cropped)

Datum 3. Oktober 2023
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Zwar ist die Atmosphäre des Films wirklich einzigartig und beschreibt die Situation im Land sehr treffend, allerdings übertreibt er es etwas mit seinen Genre-Features und lässt dadurch einige thematische Aspekte etwas untergehen.

Argentinien, 1985 – Nie wieder erzählt die wahren Ereignisse des vermutlich grössten und wichtigsten Gerichtsverfahrens in der Geschichte Argentiniens. Ein Team, geleitet von den Staatsanwälten Julio Strassera (Ricardo Darín) und Luis Moreno Ocampo (Peter Lanzani), versucht 1985, die Verantwortlichen der faschistischen Militärdiktatur, die von 1976 bis 1983 über das Land herrschten, für Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor einem Zivilgericht verurteilen zu lassen. Gerade Folter und die „Desaparecidos“, also das „Verschwindenlassen“ von Menschen, gehörten zu den tagtäglichen Praktiken der Männer und Frauen, die im Zuge der Demokratisierung Argentiniens zu grossen Teilen ihre Ämter behalten durften. Entsprechend überrascht es wenig, dass die höchst gewaltbereiten und immer noch den politischen Apparat zersetzt habenden Angeklagten nicht nur so manches Problem, sondern auch viele Gefahren mit sich bringen.

Ein zerrissenes Land?

Wenn der Titel eines Films schon Argentinien, 1985 – Nie wieder lautet, muss die Erwartungshaltung sein, dass der Film dieses Setting in den Vordergrund stellen möchte. Und das tut das auf Amazon Prime Video veröffentlichte Thrillerdrama. Regisseur und Co-Drehbuchautor Santiago Mitre (Das Komplott – Verrat auf höchster Ebene) zeichnet ein Bild von einem tief gespaltenen und traumatisierten Land, in dem 50 Jahre geprägt von Putschen und Diktaturen ihren Spuren hinterlassen haben. Ein grosses Misstrauen und eine gewisse Entfremdung von sich selbst aufgrund der fehlenden Aufarbeitungen liegen in der Luft wie ein fauler Geruch.

Der Film macht sich dieses Gefühl zu eigen und schafft eine fast schon irritierende Diskrepanz zwischen Schönheit und Schrecken, zwischen Lebensfreude und lähmendem Schock. Mit einem 4:3-Format und einem herrlichen Einsatz von Bokeh sind die Bilder der Oberschicht Buenos Aires', die geboten werden, eine regelrechte Augenweide und wirken fast schon verklärt nostalgisch. Kontrastiert werden sie aber immer wieder mit Originalaufnahmen und schlicht dem Gefühl, dass ein so ernstes Thema doch nicht so aussehen darf.

Auch das Verhalten der Figuren spielt genau da rein. Wieso sind die Figuren so glücklich? Wieso scheinen die grausamen Geschichten den Gerichtssaal nicht zu verlassen? Genau diese Fragen drängen sich auf und schaffen damit ein sehr besonderes und wirklich tolles Porträt eines Landes, das wie so viele andere von einem Wunsch des Vergessens von Geschichte geprägt war bzw. immer noch ist, letzten Endes aber mehr oder weniger daran zerbricht.

Zu viel Figuren, zu wenig Thema

Doch diese Machart ist ein Drahtseilakt, der im Film auch seine schlechten Seiten zum Vorschein bringt. So entsteht bei all der verspielten Inszenierung und glücklichen Hauptfiguren nämlich ein Problem. Die Opfer, Täter*innen, sonstige Involvierte und das eigentliche Thema kommen zu kurz. Das liegt insbesondere daran, dass praktisch der ganze Plot nicht vom Thema des Films, sondern von seinen Figuren getragen werden. Und natürlich ist es spannend, die Staatsanwaltschaft zu begleiten, allerdings sind Anklage und Verteidigung eigentlich die unwichtigsten Positionen in diesem Fall. Der klassische Gerichtsthriller, indem sich wahnsinnig gewitzte, eloquente Menschen einzig der Rhetorik wegen Wortgefecht um Wortgefecht liefern, funktioniert nur solange sie ihre Fälle damit nicht thematisch entwerten bzw. das nur tun, wenn diese eigentlich trivial sind. Und genau dieses Problem hat Argentina, 1985 immer wieder.

Zwar wird vor dem Abspann der für Filme, die auf wahren Begebenheiten beruhen, obligatorische „So ist es weitergegangen“-Text präsentiert und darin auf einige Dinge eingegangen, ausführlich genug widmet er sich seinem Fall aber trotzdem nicht. Gerade die für die Aufklärung der „Desaparecidos“ essenzielle und noch heute aktive Bewegung „Madres de Plaza de Mayo“ wird nicht einmal erwähnt. Lediglich im Hintergrund sind ab und an Frauen mit weissen Kopftüchern zu sehen, ohne dass sich mit diesen befasst wird.

Ausserdem verlässt sich Argentinien, 1985 – Nie wieder etwas zu sehr auf seine Dialoge, die zwar durchaus ergreifend geschrieben und toll gespielt sind, manchmal aber doch sehr von Pathos durchsetzt sind. Verstärkt wird das Ganze noch von der teils sehr aufdringlichen Musik, die unbedingt emotionalisieren will, damit aber oft die Bildsprache negiert. Wobei diese insgesamt recht gering gehalten ist. Der Film ist auf jeden Fall optisch ansprechend und auch vom Visual Storytelling kein Totalausfall. Er verlässt sich aber oftmals auf seine Mono- und Dialoge, die Informationen und Emotionen transportieren, während die Kamera meist nur redende und zuhörende Person(en) im Wechsel zeigt. In dieser Hinsicht erinnert Argentinien, 1985 – Nie wieder immer wieder an die Filme Aaron Sorkins, aufgrund des Settings natürlich vor allem The Trial of the Chicago 7. Und das ist gleichermassen als Lob und als Kritik zu verstehen.

Fehlende Ambivalenz?

Anzumerken ist aber, dass Argentinien, 1985 – Nie wieder dennoch kein reiner Genrefilm ist, der sich völlig in ziellosem Pathos verliert. Ja, die Hauptfiguren werden sehr aufdringlich als Helden präsentiert. Allerdings bietet das Szenario auch eine so selbstverständliche Rollenverteilung von gut und böse, dass zu versuchen, die Hauptfiguren ambivalenter zu gestalten, auch durchaus irreführend und hinderlich werden kann. Darüber hinaus wirft der Film zwei weitere spannende Konfliktfelder auf und arbeitet sich gelungen an diesen ab, ohne eine finale Antwort zu bieten.

Was bedeutet es, Widerstand zu leisten? Ist es sinnvoll sich bedeckt zu halten und im Rahmen des eigenen Komforts zu agieren, um gemässigt und langfristig etwas zu ändern, ohne sich selbst zu gefährden und abzunutzen oder muss man vollständig darin aufgehen? Und letztlich als Konsequenz daraus: Müssen Rechtsprinzipien unabdingbar gelten oder ist es in gewissen Situationen sinnvoll, diese zu ignorieren, um zu einem erstrebenswerten Ziel zu kommen? In beiden Fällen liegt die Tendenz des Films leicht bei der jeweils ersten Option, wobei beide Parteien und die Figuren, die sie verkörpern, respektiert werden.

Und auch unabhängig von Ambivalenz oder Ambiguität ist Argentinien, 1985 – Nie wieder zumindest ein Film, der einem wichtigen und ausserhalb Lateinamerikas häufig unterrepräsentierten Stück Geschichte eine Bühne bietet. Das passiert vielleicht nur auf der Meso- anstatt der Makroebene und ist damit etwas engstirniger, als es muss, bleibt aber ein insgesamt aber in einem völlig sinnvollen Rahmen.

Hendrik Warnke
film-rezensionen.de

Argentinien, 1985 – Nie wieder

Argentinien

2022

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140 min.

Regie: Santiago Mitre

Drehbuch: Santiago Mitre, Mariano Llinás

Darsteller: Ricardo Darín, Peter Lanzani, Alejandra Flechner

Musik: Pedro Osuna

Kamera: Javier Julia

Schnitt: Andrés P. Estrada

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-SA 4.0) Lizenz.