Musik und Ton Die Entwicklung der Musikindustrie

Kultur

Nach dem Untergang von Napster ging alles Knall auf Fall. Die Branche versagte in der Entwicklung neuer Modelle auf ganzer Linie, während sich parallel dazu das Internet immer weiter "ausbreitete".

Columbia Schallplatte aus dem Jahr 1920.
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Columbia Schallplatte aus dem Jahr 1920. Foto: (PD)

5. Oktober 2010
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Insbesondere der Peer-to-Peer Bereich entwickelte sich rasend schnell. Ein kurzer Überblick:

* 1998: Shawn Fanning entwickelt Napster
* Februar 2001: ca. 80 Millionen Nutzer und ca. 2 Milliarden Dateien
* April 2001: Bram Cohen entwickelt das BitTorrent-Protokoll
* 2003: FastTrack-Netzwerk 2.4 Mio Nutzer
* Clients: Kazaa + Kazaa light, Morpheus, iMesh etc.
* Mai 2006: Gnutella-Netzwerk hat ca. 2.2 Mio. Nutzer
* Clients: LimeWire, Shareaza, Bearshare
* Mai 2005: edonkey2000-Netzwerk mit über 4 Mio. Nutzer
* Clients: eMule & Co.

Wie sehr rasch deutlich wird, ging die Entwicklung im Bereich der Tauschbörsen mit einer unglaublichen Geschwindigkeit vonstatten. Im Vergleich zur Entwicklungszeit der Schallplatte oder der CD schossen neue Tauschbörsen und P2P-Protokolle geradezu wie Pilze aus dem Boden. Ehe sich die Musikbranche versah, hatten die Internetuser die Kontrolle übernommen.

Dass dies nicht legal war in Anbetracht des gültigen Urheberrechts, interessierte die wenigsten Netzteilnehmer. Ein völlig anderes Musik- und Konsumverständnis hat dazu mit Sicherheit beigetragen. Am Schluss dieser Kette steht nun der Verbraucher und Konsument, der kein Angebot erhalten hat, dass seinen Ansprüchen und Wünschen genügt hätte. Auf der anderen Seite steht eine ganze Branche, die ihren Untergang nun schon seit Jahren prophezeit, weil weniger Musik-CDs verkauft werden.

Parallel gibt man aber in diesem Kontext nicht offen zu, dass der Verkauf von digitalen Musikstücken drastisch gestiegen ist. Online Shops wie iTunes und Amazon erfreuen sich einer immer grösser werdenden Beliebtheit. Dennoch hat sich am Vertrieb von Musik seit dem Fall von Napster nichts wirklich massiv geändert.

Der grosse Run auf das Vertriebsfeld Internet ist nach wie vor ausgeblieben oder wurde zumindest massiv behindert, indem Musikstücke mit der Digital Rights Management Technologie ausgestattet wurden. Besonders deutlich wird die zögerliche Öffnung der Musikindustrie für die neuen Vertriebstechniken, wenn man betrachtet, wie allgemein auf den Markt reagiert wurde. Nach und nach unterstützte man zwar die Online Shops, wollte aber nicht alles aufgeben. Mit der DRM-Technologie wollte man letzten Endes die Kontrolle über das Produkt des Kunden behalten. Hier klaffte nun ein grosses Missverständnis zwischen dem Konsumenten und der Musikindustrie.

Der Konsument hatte in früherer Zeit immer ein physisches Werk besessen. Mit diesem konnte er tun und lassen was er wollte. Er nahm die Schallplatte mit zu Freunden, nahm sie mit einem Tapedeck auf Kassette auf, kopierte die CD am heimischen Rechner und vieles mehr. Mit den MP3s, die als weiterer Fortschritt galten und den digitalen Musikvertrieb anfeuern sollten, hätte dies plötzlich anders werden sollen. Plötzlich sollte der Konsument keine Kontrolle mehr über das gekaufte Werk haben. Er durfte es nur dreimal kopieren.

Das Abspielen des Songs war nur auf bestimmten MP3-Playern, weniger Hersteller möglich. Wer sich keines dieser Geräte kaufen wollte, hatte Pech. Für die Kunden war es eine Rückstufung auf unterstes Niveau. Er sollte für eine Leistung bezahlen, über die er nicht mehr frei verfügen konnte. Natürlich war es urheberrechtlich betrachtet so, dass der Konsument zu keinem Zeitpunkt die "totale Kontrolle" über das Werk gehabt hätte.

Durch die physische Greifbarkeit der Schallplatte, CD oder Kassette gewann er jedoch diesen Eindruck und war ihn über Jahrzehnte hinweg auch gewohnt. Er konnte wirklich alles mit den Tonträgern machen und kein Vertreter der Musikindustrie hätte etwas dagegen unternehmen können. Mit der MP3 wurde es plötzlich anders. Das physische Werk wurde un-physisch, es verlor seine Körperlichkeit und löste sich in ein digitales Medium von Nullen und Einsen auf.

Die Reproduktion geschieht praktisch kostenlos, das verlustfreie Kopieren wurde massentauglich. Aber dennoch hatte der Konsument das Gefühl inne, der Eigentümer des Werkes zu sein, schliesslich hatte er ja dafür bezahlt. Mit der DRM-Technologie wurde diesem Gefühl jedoch ruckartig ein sehr bitterer Schlag versetzt. Viele potenzielle Käufer waren und sind von dieser Technologie abgeschreckt.

Sie konnten und können nicht nachvollziehen, wieso sie etwas für ein Gut bezahlen sollen, wenn sie es dann nicht einmal mehr nach eigenem Ermessen voll nutzen können. Die Motivation der Musikindustrie war offensichtlich. Nur mithilfe des Kopierschutzes in Form der DRM-Technologie konnte man ungewollte Kopien des Werkes und die daraus resultierende Verbreitung verhindern. Eine Öffnung gegenüber dem Markt, den Tauschbörsen und sonstigen digitalen Vertriebswegen wurde nie unter der Prämisse durchgeführt, wie man dem Kunden das Maximum zugestehen könnte. Nach dem Fall von Napster ging es nur noch darum, wie man den Markt zurückgewinnen und für sich behalten könne, ohne dass der Musikfan die Möglichkeit hat, illegale Netze mit den von ihm erworbenen Werken zu speisen.

Man war auf "Schadensbegrenzung" ausgelegt und wollte den Markt in den Bahnen belassen, in denen man ihn seit Jahrzehnten gewohnt war. Praktisch überschaubar. Werk A wird produziert und muss in physischer Form erworben werden. Dies wollte man identisch auf nicht-physische Vertriebswege übertragen. Ein Konzept, das zum Scheitern verurteilt war, schon allein aufgrund der Unmündigkeit, die man dem Musikliebhaber und Konsumenten dadurch unterstellte. Dieser reagierte wie in der freien Marktwirtschaft nun mal üblich. Wenn das Angebot nicht so ist, wie man es sich vorstellt, wird nicht nachgefragt.

Natürlich wird man immer sagen können, in den Tauschbörsen war ja alles umsonst, darum wollte keiner etwas kaufen. Das ehrliche Eingeständnis, dass das käufliche Angebot lange Zeit absolut minderwertig war - im Bezug auf die Möglichkeiten, nicht auf die musikalische Qualität - gestand man jedoch nicht ein. So versuchte man also, den Markt unter Kontrolle zu halten. Einen Markt, der durch den technologischen Fortschritt so schnell weiterentwickelt wurde, dass man kaum Schritt halten konnte. Nach langen Grabenkämpfen sah sich die Musikindustrie irgendwann gezwungen, einen kleinen Rückzug zu machen, und DRM ins Nirvana zu befördern. Eine Aktion, die sich nur tröpfchenweise umsetzen liess.

* April 2007: EMI's Musik wird via iTunes DRM-frei vertrieben

* Mai 2007: Amazon & Universal verkaufen DRM-freie Tunes.

* Einführung des ersten Online-Shops ganz ohne DRM: April 2009.

Im vorbenannten Beispiel wird deutlich, wie sich die Branche nach dem Sturz von Napster eigentlich entwickelte. Es war alles - aber nicht konsumentenfreundlich. Man brauchte immerhin fast 11 Jahre, bis man den ersten völlig DRM-freien Online-Musikshop auf die Beine stellen konnte. In Anbetracht der Schnelligkeit des Internets und der damit verbundenen Entwicklung war dies jedoch viel zu spät. Natürlich steigen die Einnahmen der Musikindustrie aus digitalen Verkäufen und sie werden es mit Sicherheit auch weiterhin tun.

Doch man darf sich hier keinem falschen Bild hingeben. Als die Zeit da war, auf den Zug aufzuspringen, verpasste man ihn. Erst 11 Stationen später ist man nun Willens, ihn bedingt zu benutzen. Parallel zu diesem "Regionalexpress" fährt aber ein Schnellzug namens Filesharing. Dieser ist auch nach 11 Jahren der Musikindustrie noch immer ein Dorn im Auge. Er wird es vermutlich auch die nächsten 11 Jahre bleiben. So lange wird es nämlich mindestens dauern, bis die grossen Vertreter der Branche erkennen, welches Potenzial diese Technologie besitzt und wie man es auch effektiv nutzen könnte.

Dass die Verbreitung von urheberrechtlich geschützter Musik in Tauschbörsen rechtswidrig ist, steht ausser Frage. Auch die Milchmädchenrechnung "ein Download = ein entgangener Verkauf" ist bei logischer Betrachtungsweise Nonsens. Jedoch mindestens genauso, wie die Behauptung, keiner der illegal etwas herunterlädt, hätte das Werk jemals gekauft. Die Wahrheit liegt bekanntlich irgendwo dazwischen in der Mitte.

Genau diese Mitte hat die Musikindustrie als potenzielle Käufer verloren, und es sieht nach wie vor nicht danach aus, als ob man sie zurückgewinnen könnte.

Das Internet hat es ermöglicht, digitalisierbare Kulturgüter jederzeit und überall verfügbar zu machen. Es gibt keine Transportkosten für CDs, keine Produktionskosten für CDs, keine Vertriebskosten für CDs. Rein theoretisch, und dies muss auch so betont werden, kann ein komplettes Album im Studio aufgenommen werden und nie als physische CD erscheinen.

Lediglich als digitaler Download. Ob das richtig ist und ob der Käufer wirklich "so wenig" haben will, steht selbstverständlich auf einem völlig anderen Blatt. Es geht aber nicht darum, diese Möglichkeit auszuleuchten sondern das tiefere Verständnis für diese Option zu erfassen. Tatsache ist nämlich, dass die Wünsche zahlreicher möglicher Konsumenten auch 11 Jahre nach Napster nicht befriedigt werden. Die Branche muss sich die Frage gefallen lassen, wieso dem so ist.

Über alternative Geschäftsmodelle im Zeitalter des Internets hat man - so oder so - nicht nachgedacht. Es war da, es machte illegale Kopien möglich, es ist böse. Das unglaubliche Potenzial einer weltweiten Vernetzung von Fans mit Künstlern haben wir bei gulli mehr als einmal zum Ausdruck gebracht. Trent Reznor und Amanda Palmer sind nur zwei Musiker, die es geschafft haben, ohne Label zu existieren. Der Aufwand für den einzelnen Musiker ist natürlich grösser und viele greifen gerne auf das Label zurück. Man sollte diese nicht schlecht reden. Die Aufgabe, die vor den Labels liegt, ist keine leichte.

Sie haben aber auch die Expertise diese zu bewältigen. Bislang geschieht dies jedoch in keiner akzeptablen Art und Weise. Viel eher orientiert man sich da an einem Urheberrecht, welches nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist.

Zusammenfassend muss man sehen, dass die Schallplatte Jahrzehnte brauchte, die CD Jahrzehnte brauchte, aber das Internet sowie die MP3 in nur einem Jahrzehnt so weit etabliert waren, wie kein Medium zuvor. Anstatt diese Entwicklung zu fördern und mit ihr voran zu gehen, stellte man sich dieser Option jedoch entgegen. Wieso man sich daraufhin dann wundert, dass der Konsument auf anderen Wegen seine Bedürfnisse befriedigt, erscheint in diesem technologiefeindlichen Kontext schleierhaft.

ub