Eine Lektion für den zögerlichen und wankelmütigen Skeptiker Ungefragt kriege ich veranschaulicht, was der Most-Faktor ist

Gesellschaft

Und da sitze ich nun auf einer Parkbank, niesend vom Heuschnupfen, latent, aber grundlos nervös, gestresst von der Vergangenheit und davon, was die Zukunft bringen mag.

Johann Most, 1890.
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Johann Most, 1890. Foto: PD

13. Mai 2022
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Wie jede vernünftige Person versuche ich diese Gedanken zu verdrängen oder lasse sie zumindest nur phasenweise zu. Denn würde ich mir ernsthaft die Fragen stellen, wo es mit mir hingeht, wie ich innerhalb der bestehenden Herrschaftsordnung gute Miene zum bösen Spiel machen kann und ob ich von ihm gespielt werden sollte, nun ja… so würde ich vermutlich ebenfalls keine Antwort finden und trotzdem mein Leben bestreiten müssen. Manchmal beneide ich die Menschen, die einen Plan haben oder zumindest vorgeben und selbst daran glauben, dass sie einen haben. Und manchmal beneide ich auch den strukturierten Alltag und die feststehenden Verpflichtungen und Sozialgefüge, über welche einige Menschen verfügen. Denn ich stelle mir vor, dass damit vieles Einfacher wäre.

Als notorischer Skeptiker habe ich es mir nie einfach gemacht. Und wurde es mir nicht besonders einfach gemacht. Dies ist ja auch einer der Gründe, warum ich den Dogmatismus und Fundamentalismus im eigenen Lager so schlecht ertragen kann – egal ob in syndikalistischer, nihilistischer oder kommunistischer Ausprägung. Es ist ja schön, wenn Menschen ihre Wahrheiten haben. Wenn ich aber per se den insurrektionalistisch-nihilistischen Politikbegriff ablehne oder die Annahme, es nun mal klar, was Anarchismus sei und wie mensch sich „in Feindschaft zum Bestehenden“ positionieren müsste, ärgert das diese Leute. Wie Donnerstag als mich vier von ihnen trollen wollten. Oder was auch immer sie wollten.

Mit einem weiteren Genossen aus einer anderen Stadt kam ich beim anarchistischen Parkfest ins Gespräch. Und war überrascht, dass er einige meiner Texte kennt, denn so viele lesen sie ja tatsächlich nicht. Er meinte aber auch, dass meine Theorie ganz schön „Pomo“ wäre. Ich fragte irritiert nach, denn ich lese kein twitter und keine Foren. „Postmodern“ meinte er. Und das schien dann irgendwie auch ein Urteil zu sein. Wahrscheinlich würde er demgegenüber für ein „materialistisches“ Denken oder so etwas eintreten. Keine Ahnung. Ich bin raus bei solchen oberflächlichen Debatten. Sie interessieren mich nicht. Das ist für mich politisch-theoretischer Kindergarten. Doch ein Problem mit dem betreffenden Genossen hatte ich trotzdem nicht. Denn er schien für die Sache engagiert zu sein und kein Arschloch zu sein und das zählt für mich letztendlich.

Wenn dann ist meine Theorie porno. Und das in einem durchaus langweiligen Sinne. Sie stellt recht offensichtlich dar, was ist, um eine Reflexionsebene zu ermöglichen. Spannend wird es immer, wenn damit die Phantasie angeregt wird und Menschen ins Ausprobieren eigener theoretischer Praktiken kommen. Doch das geschieht glaube ich nur selten. Wenn Leute Theorie konsumieren, umgehen sie oftmals die eigene gedankliche Beschäftigung mit einem Gegenstand. Sie finden eine Theorie-Person, deren Gedankengänge, Sprache und Bilder sympathisch, interessant, abstossend oder schlecht. Und dementsprechend gewinnen sie den dargelegten Gedanken etwas zu einem gewissen Grad ab oder nicht.

Da Theorie eine Reflexionsebene eröffnet, muss sie zunächst einfach plump darstellen. Und es ist auch in Ordnung, wenn spezialisierte Personen die theoretische Interaktion, Debatte und Streiterei stellvertretend übernehmen, sodass Menschen sie sich anschauen können. Der Wert der Theorie für emanzipatorische soziale Bewegungen sollte sich nicht an einem Zeugungs- und Fruchtbarkeitsparadigma messen lassen, sondern für sich selbst gelten. Die Flucht in die Theorie kann eine legitime Verweigerung einer schlechten Realität sein. Wenn theoretisches Denken und Arbeiten aber wirkmächtig werden soll, um sie zu verändern, ist mit ihm die Phantasie, Reflexion, denkerische Schärfe und Selbsttätigkeit aller anzuregen, die daran interessiert sind, über die bestehende Herrschaftsordnung hinaus zu gelangen.

Diesen Überlegungen hänge dann noch weiter in einer Kneipe nach, während der Freund, mit dem ich hier Pommes esse und ich schweigen. Doch werde ich jäh aus meinen Abstraktionen gerissen, als Most polternd den Raum betritt und alle Anwesenden mit den Worten begrüsst: „Na ihr Stiefellecker, übt ihr euch immer noch im Katzbuckeln? Gönnt euch mal eine Pause davon und putzt zur Abwechslung mal eure eigenen Schuhe, damit ihr den Bonzen einen gehörigen Arschtritt verpassen könnt, der ihrem Clan angemessen ist.“ Eine Person am Tisch neben dem Eingang schaut verlegen weg, jemand am Tresen lacht höflich und der Wirt sagt: „Hallo Johann, heute wieder das Übliche?“ während er schon dabei ist, ihm ein grosses Helles zu zapfen. Nun ja, diese Kaschemme wird von so einigen Gestalten aufgesucht. Nicht ganz ohne Zufall bin ich in dieser Lebenslage ja auch mal wieder hier gelandet. Mich freut es, mir ist es aber auch etwas unangenehm, dass der grosse Agitator sich dann zu uns gesellt.

Die meisten sind von Mosts polterigem Auftreten gleichermassen beeindruckt und eingeschüchtert. Da ich ihn etwas kenne und die Menschen kenne, weiss ich, womit das zu tun hat. Ein subjektiver Ausgangspunkt war freilich der Knochenfras und die Operation in seiner Kindheit. Seine Schulkameraden und die Nachbarskinder nannten ihn den Hackfressen-John. „Hau ihm mal eine rein, Hans, damit sein Gesicht wieder schöner wird“ – und dann lachten sie alle. Ja, das hatte sich tief eingegraben und der wilde Bart verdeckte vielleicht die körperliche Narbe etwas, kurierte aber nicht die seelischen, die sich ihm eingeschrieben haben…

Was ich an Most aber immer faszinierend fand, war, dass er aufgrund seiner Kränkung eben nicht wie so viele nach unten tritt oder selbst zum Speichellecker wird, um Anteil an der Macht zu haben. Sondern das er alle Gekränkten, Ausgebeuteten und Unterdrückten zusammenbringen will, damit sich diese kollektiv ermächtigen und die Ursache ihrer Schmach an der Wurzel bekämpfen können. Und damit hat er es durchaus weit gebracht – wenn auch nicht in Kategorien seines individuellen Glücks bemessen, weswegen er seine menschlich unangenehmen Seiten immer schlechter kaschieren konnte. „Danke, Mäuschen“, sagt er zur Kellnerin, die ihm ein Schnitzel bringt und ich runzle meine Stirn, wohl wissend, dass ich diesen Haudegen auch nicht mehr ändern werde.

„Na ihr beiden? Wie gefiel euch die Demo letztens durch das Yuppi-Viertel“, fragt er uns – ohne wirklich an der Antwort interessiert zu sein. „War doch ne famose Sache, den Säcken etwas Feuer unterm Hintern zu machen, damit sie sich noch mal überlegen, die Steuern rauf zu setzen. Inflation, Inflation, rufen sie jetzt ja fortlaufend. Als wenn es ein Naturgesetz wäre, dass sie uns auf immer neue Weise ausquetschen wollen, diese Blutsauger!“. „Naja“, entgegne ich pro forma, um ins Gespräch einzusteigen, „die Leute verstehen die wirtschaftlichen Vorgänge eben nicht so leicht und das verunsichert sie. Es ist ja auch wirklich schwierig durchzusehen bei all den globalen Verflechtungen, dem Finanzmarkt und so weiter“.

Johann kontert: „Ach Papperlapapp, jetzt schwätz du mal nicht. Die Proleten wissen was nen Bonze ist, wenn sie ihn sehen und die politische Ökonomie dieser Diebesbande ist doch schnell erläutert. Hören wollen sie doch vor allem, dass sie sich nicht unterkriegen lassen müssen und das sie sich wehren können! Dies gilt es dem Volk entgegen zu rufen und praktisch zu veranschaulichen!“. Damit ist Most ganz in seiner Rolle. Seinen sozial-revolutionären Anarcho-Populismus, beziehungsweise das voran peitschende Element in ihm, nenne ich daher persönlich auch den „Most-Faktor“. Aber das habe ich ihm nicht gesagt. Er weiss, dass die Leute über ihn reden, reagiert darauf aber oft sehr gereizt…

„Schau mal hier. Neulich die Versammlung in Chemnitz“, spricht er und zeigt mir ein Foto auf seinem Smartphone. „Wie viele Leute denkst du sind das?“, fragt er mich. Ich sage: „Naja, so viele scheinen es nicht gerade zu sein. Ich schätze mal grob siebzig“. Und er: „Was siebzig? Quatsch mit Sosse, doppelt so viele sind ja nicht im Bild, weil se auf der anderen Seite vom Platz stehen und ein paar sind schon mit einer Sponti voran geprescht!“. Er wischt auf dem Gerät herum und fotoshopt recht zügig eine Sprechblase in die Ecke oben links, in welche er die Worte einfügt: „Dem Klassenstaat das Fürchten lehren! Erneut Kundgebung mit 300 Leuten am roten Turm. Voller Erfolg für die sozial-revolutionäre Bewegung!!!!“. Ja wirklich, er tippt dann fünf Ausrufezeichen ans Ende, bevor er das Bild in seinen social media Kanälen teilt.

Ein Kämpfer, ein Hater, ein Verachter des Reichskasperletheaters, in welches er tatsächlich mal für eine Legislaturperiode gewählt wurde, bevor er mit dem ganzen Parteienzirkus brach. Ein gekränkter Mensch, der sich aber nicht aufhalten lässt von Skepsis, Zweifeln, Selbstmitleid, die er einfach verdrängt. In gewisser Hinsicht, könnte ich mir schon manchmal eine Scheibe von ihm abschneiden, sage ich zu mir. Vor allem darf man halt nicht ganz einsam werden, wenn man sein Leben mit kämpfen verbringen muss – und darum verbringen will. Und auch Anderen Raum geben, ohne sich selbst dauernd zurück zu stellen. Diese Balance zu halten, ist schwierig, aber wichtig. Dann verabschiedet Johann sich schnell und murmelt etwas davon, noch einen Artikel fertig schreiben zu müssen. Vielleicht, so denke ich, braucht er aber auch mal etwas Zeit für sich, seine Traurigkeit und seine Zweifel?

Jonathan Eibisch