Nötig, aber offenbar kaum zu haben Gesundheit – unser „teuerstes Gut“?

Gesellschaft

Ob die „Ernährungs-Docs“ uns „mit Super-Food“ „supergesund“ machen, die „geheime Kraft der Atmung“, „Augen-Yoga“ oder der „Darm mit Charme“ auf uns warten: Gesundheits-Ratschläge boomen – in Zeitschriften, Büchern oder von alternativen Heilern aller Art.

Fuck Yoga. Anti-Bobo Slogan im Prenzlauer Berg.
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Fuck Yoga. Anti-Bobo Slogan im Prenzlauer Berg. Foto: image_author

26. Januar 2022
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Bei denen, die Zeit dafür haben oder es sich leisten können, wird eine Welle „gesunder Ernährung“ nach der anderen ausprobiert und im Freundinnen-Kreis weiter gereicht. Und nicht erst seit Corona-Zeiten ist Gesundheit das Gesprächsthema Nummer 1 (neben dem miesen Wetter).

Warum ist das so? Gegen was wird da so stetig angekämpft? Und leben wir nicht in einer Gesellschaft, die über gut ausgebildete Mediziner und ein ausgezeichnetes Gesundheitssystem verfügt?

Leistungen der modernen Medizin

Die Krankheiten, an denen die Menschen heute in den westlichen Ländern leiden, sind – Corona ist da ein Ausnahmefall! – im Wesentlichen nicht mehr Seuchen bzw. lebensbedrohende Infektionskrankheiten. Und tatsächlich hat die Medizin ungeheure Fortschritte aufzuweisen. Ärzte können inzwischen einen grossen Teil der Krankheiten, an denen Menschen früher zugrunde gegangen sind bzw. lang dauernde Folgen zu ertragen hatten, relativ verlässlich behandeln: Geburten mit ihren Risiken (Kindbettfieber), Lungen- und Blinddarmentzündungen, Knochenbrüche und vieles andere mehr. Hygienemassnahmen, Impfungen, Antibiotika und Erkenntnisse zur Ernährung haben zudem viele früher verbreitete Krankheiten irrelevant gemacht.1

Dazu war es nötig, dass der frühe bürgerliche Staat den medizinischen Erkenntnissen auch praktische Schritte folgen liess: Kanalisation, vor allem der entstehenden Grossstädte (noch 1892 starben in Hamburg 7000 Menschen an der Cholera) und Versorgung mit sauberem Trinkwasser durch den Bau von Talsperren, Anordnung von Massenimpfungen usw. Ärzte können inzwischen auch einen Teil von körperlichen Mängeln und natürlichen Verschleiss, den angeborene Defekte oder das Älterwerden mit sich bringen, entscheidend verbessern: Operationen (auch bei noch nicht geborenen Kindern), künstliche Gelenke oder Herzklappen, Transplantationen von Organen usw. Diese Leistungen der modernen Medizin manifestieren sich in einer enorm gestiegenen Lebenserwartung und oft auch einer sehr viel besseren Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen und von Senioren.

Um solche Fortschritte zu erreichen, haben Mediziner Wissen und Erkenntnisstand der früheren Gesellschaften grundsätzlich in Frage gestellt und deren Weisheiten vom „natürlichen“ bzw. „gottgegebenen“ Gang der Dinge aus dem Verkehr gezogen und durch Aufklärung, Forschung und eine zunehmend systematischere Wissenschaft vom Funktionieren des menschlichen Organismus ersetzt.

Viele der Krankheiten, mit denen Patienten aktuell von ihren Ärzten Rat und Heilung wollen, haben ihre Ursachen allerdings nicht in angeborenen körperlichen Defekten, in Unfällen, dem Altwerden oder ähnlichem, sondern ziemlich offensichtlich in der Ökonomie bzw. der Lebensweise dieser Gesellschaft.

Kapitalismus macht krank

Konsum im Kapitalismus macht krank. Weil die zum Leben notwendigen Güter, damit auch die „Lebensmittel“ im engeren Sinn als Waren produziert und kalkuliert werden, sind nicht Gesundheit, Geschmack und Genuss der Konsumenten massgeblich, sondern das Geschäft, das die Anbieter damit machen können. Die Herstellung verträglicher und gesunder Konsumtionsmittel ist nicht der wesentliche Gesichtspunkt, wenn es darum geht, mit der Herstellung und dem Verkauf von Produkten Gewinn zu erzielen. Kosten müssen gering gehalten, die hergestellten Waren möglichst vielversprechend angeboten werden – das sind die entscheidenden Mittel des Geschäftserfolgs. Ob Brötchen, Tomaten oder Schnitzel gut schmecken oder auch nur gesund sind, ist dem gegenüber nachrangig (und höchstens wieder als Mittel zur Steigerung des Absatzes interessant).

Bei Herstellung und Verarbeitung aller möglichen Konsummittel werden deshalb durchaus risikofreudig Stoffe eingesetzt, deren Wirkung noch gar nicht ausreichend erforscht sind; aber auch solche, deren schädliche Wirkung längst bekannt ist, als Mittel des Gewinns aber ignoriert wird: Antibiotika, Pestizide, krebserregende Herbizide, Baustoffe usw. Als Nahrungsmittel werden in der Folge Produkte verkauft, die die Konsumenten oft eher schleichend vergiften als dass sie ,Lebensmittel' im Sinn des Wortes darstellen.

Ab und an – dann ist mit schöner Regelmässigkeit von einem „Skandal“ die Rede – bringen sie auch akute Krankheiten mit sich: Dioxine werden in Eiern gefunden, Hormone und Antibiotika im Fleisch; Kinderspielzeug, Wohnungen und Kleidung entpuppen sich als wahre Giftschleudern. Zum Teil kann man sich von dieser Gesundheitsschädigung freikaufen, wenn das nötige Geld zur Verfügung steht und die Bio-Branche ihre Kunden nicht ebenfalls vergiftet... In Lebensmitteln und Textilien verwendete Stoffe lösen Allergien aus; Baumaterialien in Häusern, Büros und Schulen verursachen Krebs.

Lohnarbeit macht krank. Weil sie dem Zweck dient, fremden Reichtum zu vermehren, ist sie rücksichtslos gegenüber den Bedürfnissen von Körper und Geist der Arbeitenden, dauert sie allem technischen Fortschritt zum Trotz oft bis zur Erschöpfung und Verblödung, ist sie oft gefährlich, belastend und fast immer vereinseitigend und „stressig“.

Die Arbeitskraft ist im auf Gewinn angelegten Produktionsprozess ein Kostenfaktor, aus dem möglichst viel herausgeholt werden muss2. Der Einsatz von Arbeit für Gewinn kann an Arbeitsplätzen passieren, an denen die Arbeit schwer, giftig, einseitig, physisch anstrengend ist. Aber auch wenn die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts weitgehend anders aussieht, die meisten Beschäftigten inzwischen nicht mehr in Gruben einfahren, Stahl kochen oder schwere Lasten bewegen, sondern „nur“ in Büros sitzen, sich auf Bildschirme konzentrieren oder LKW's lenken, so dass die geforderten Anstrengung durch Konzentration und allgemeinen „Stress“ eher psychischer Natur sind, handelt es sich um den systematischen Verschleiss der menschlichen Physis und Psyche.3 Übrigens: Diese Argumente gelten für die vielen, sich selbst ausbeutenden kleinen und manchmal auch gar nicht so kleinen „Selbständigen“ genauso.

Auch die „Umwelt“, d.h. Luft, Gewässer, Böden usw. machen zunehmend krank, weil sie als Rohstofflager der Produktion ausgebeutet und als kostengünstiges Endlager für die Rückstände der Profiterwirtschaftung genutzt und damit vergiftet werden. Der ständig zunehmende Verkehr einer Arbeitsbevölkerung, die flexibel und mobil sein soll, und einer Produktion „just in time“ sorgt für krank machenden Lärm, schlechte Luft und jede Menge Stress.

Weil das so ist, fällt auch die Freizeit entsprechend aus. Was eigentlich der immer propagierte Zweck des Gelderwerbs sein sollte – das Leben nach eigenen Interessen gestalten und geniessen – gerät für die grosse Mehrheit zu einer Veranstaltung, die von vielen Notwendigkeiten diktiert ist.

Erstens ist alles Mögliche zu erledigen, was „das Leben“ neben der Arbeit verlangt (Kinder in Kita und Schule bringen, einkaufen, die Wohnung putzen, Auto in die Inspektion, TÜV, Steuererklärung, sich über Telefonrechnungen streiten, ein Schnäppchen für die Urlaubs-Buchung finden usw.); zweitens aber wirken die Folgen der Arbeit in diese „freie Zeit“ massiv hinein.

Man ist kaputt, soll aber noch Sport machen, damit das viele Sitzen kompensiert wird; man ist „gestresst“ und kann nicht abschalten, obwohl man dringend Ruhe und Schlaf braucht; man will sich amüsieren, muss aber daran denken, dass es morgen früh losgeht und man fit sein muss. Der Einsatz von Stoffen aller Art, die „just in time“ lustig, schläfrig oder fit machen sollen, hat hier seine Gründe und steigt mit zunehmender „Belastung“ der Gesellschaft – mit entsprechenden Folgen für Physis und Psyche.

Die Freizeit, von der sich alle so viel erwarten, ist insofern weitgehend bestimmt als Funktion: Erholung für die Sphäre der Notwendigkeit – eine Funktion, die sie angesichts aller widersprüchlichen Anforderungen bei aller in Ratgebern ständig gepredigten „Vernunft“ meist gar nicht erbringen kann. Und wenn sich einige nicht „vernünftig“ verhalten und es „mal krachen lassen“, dann rächt auch das sich schon wieder.

Die Konkurrenz um Noten, Berufskarrieren und damit letztlich um Eigentum als Zugriffsmittel auf alles Wichtige und Schöne ist für die Mitglieder dieser Gesellschaft eine meist lebenslange Notwendigkeit mit erheblichen Folgen vor allem für ihre psychische Gesundheit. Was in Schule und Uni beginnt, setzt sich am Arbeitsplatz fort: Alle werden in ihren Leistungen verglichen und vergleichen sich deshalb auch selbst pausenlos mit den anderen.

Das nötigt zu Anstrengungen einer besonderen Art. Erstens zählt nichts für sich, sondern nur als Mittel dafür, sich gegen andere hervorzutun – weshalb keiner weiss, ob das Gelernte bzw. die geleistete Arbeit reichen, denn der eigene Erfolg hängt immer davon ab, wieviel die anderen „bringen“ oder „nicht bringen“. Ständige Unsicherheit und die Tendenz, sich selbst und diejenigen, die einem unterstellt sind, immer mehr zu fordern, sind Konsequenzen.

Zweitens ist der eigene Zweck nur zu erreichen, wenn man sich dabei gegen andere durchsetzt. Daraus resultieren u.a. Konkurrenzstrategien, die andere schlecht aussehen lassen und aus dem Rennen werfen sollen – Mobbing, Intrigen, Hetze. Nicht ganz so harte „Charaktere“ halten die ewigen Gegensätze und Gemeinheiten nicht aus, ob als Opfer oder als Täter: Die Fälle von Depressionen und Burnout (mittlerweile dritthäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit, 40%ige Zunahme bei Berufsunfähigkeit zwischen 2009 und 2019) nehmen massiv zu.

Die so genannten „Volks- oder Zivilisationskrankheiten“

Die modernen „Volkskrankheiten“ kommen vor allem dadurch zustande, dass die auf den menschlichen Organismus einwirkenden Belastungen bei Konsum und Arbeit über lange Zeiträume andauern4: Das betrifft die Entstehung einiger Allergien (dauerhafter Kontakt mit allergenen Stoffen), Teile von Diabetes Typ 2 (dauerhaft erhöhter Blutzucker bzw. -fettspiegel, auch infolge von Stress), Bluthochdruck (dauerhafte physische oder psychische Anstrengung, die erhöhte Pumpleistung des Herzens auslöst), Muskel-, Skelett- bzw. Gelenkerkrankungen (u.a. durch anhaltende Überstrapazierung, aber auch durch mangelhafte Ernährung). Diese Krankheitsbilder ergeben sich daraus, dass die schädlichen Belastungen dauerhaft ertragen und ausgehalten werden.

Um das zu erkennen, braucht es nicht einmal ein Studium der Medizin. Aber auch die Wissenschaft weiss irgendwie um den gesellschaftlichen Charakter der wesentlichen Krankheits-Gründe, wenn sie etwas schräg von „anthropogen“ verursachten „Zivilisationskrankheiten“ spricht, schräg insofern, als diese Krankheiten nicht den Fortschritten der menschlichen Zivilisation entspringen – wie es da fast philosophisch formuliert wird – sondern dem Zweck und den Wirkungen des Kapitalismus (also einer sehr bestimmten Form von Zivilisation).

Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen, chronische Atemwegserkrankungen, Diabetes Typ 2 machen 90% der Todesfälle und 84% der „Krankheitslast“ in Europa aus – so eine Warnmeldung der WHO; zählt man noch Rückenschmerzen, Allergien, Neurodermitis und psychische Störungen hinzu, dann ist schon ein sehr grosser Teil der Leiden, die die Leute heute plagen, mittelbar und unmittelbar auf die Krankheitsursache „Kapitalismus“ (Produkte, Verkehrswesen, Arbeitswelt, die „Lebensweise“ von modernen Konkurrenzsubjekten) zurückzuführen.

Ärzte mit Grenzen

Ebenso klar ist allerdings, dass Ärzte am Grund dieser modernen Volksseuchen nicht rütteln wollen und können: In dieser Ökonomie haben sie mit all ihren Erkenntnissen keinen Einfluss darauf, was wie produziert wird – weder im Hinblick auf die mehr oder weniger schädlichen Produkte, mit denen die Leute sich ernähren, anziehen und wohnen sollen, noch auf den Ablauf des Produktionsprozesses. All das fällt in die freie Entscheidung der Eigentümer, die damit um ihre Marktanteile und ihren Gewinn kämpfen und deshalb stets die entsprechenden „Fortschritte“ ins Werk setzen.

Diese Gesetzmässigkeiten der kapitalistischen Produktion finden selbstverständlich ihren Niederschlag in Körper und Seele des modernen (Arbeits-)Volks – und ebenso selbstverständlich ist in dieser Gesellschaft, dass die behandelnden Ärzte daran nicht rühren. Vernunft, Aufklärung, Wissenschaft der Medizin – hier stossen sie unter „den herrschenden Verhältnissen“ an klare Grenzen. Offensichtlich gesellschaftliche Ursachen von Krankheitsbildern gelten unter dieser Bedingung als unumstösslich, quasi natürlich („so ist das ... nun mal!“)

Der Arzt, die Ärztin können weder die krankmachenden Lebensmittel aus der Welt schaffen noch ihren Patienten raten, den schädlichen Arbeitsplatz zu verlassen. Also macht er/sie das unter den gegebenen Umständen Beste daraus, indem sie ihren Patienten dabei helfen, mit all den schädlichen „Voraussetzungen“ durch's Leben zu kommen: nicht gesund zwar, sondern „chronisch“ krank mit Rückenleiden, Allergien, Rheuma, Neurodermitis, Bluthochdruck, depressiven Phasen usw., aber ,immerhin'. Und wenn „die Welt“ mit ihrem ganzen Drum und Dran erst einmal als „leider nicht zu ändern“ gesetzt ist, dann bleiben aus Sicht der Mediziner natürlich vor allem Ratschläge zu Lebenswandel und Einstellung des Patienten (Alkohol, Rauchen, mehr Sport, überhaupt auf die Gesundheit achten!) das, womit man ihm am besten helfen kann.

Die Anamnese wird zu einer Art Gewissenserforschung, bei der die Krankheitsursachen moralisiert werden und das Eigenverschulden wie die Eigenverantwortung des Patienten in den Vordergrund rückt. Darin, dass Ärzte die bei ihnen Rat suchenden Menschen im Rahmen ihrer Möglichkeiten fit machen für eine Welt, die sie systematisch krank macht – darin besteht insofern ein grosser Teil ihrer praktischen Tätigkeit.5

Patienten: Robustes Verhältnis zur Gesundheit

Im Ziel, möglichst schnell gesund zu werden, um sich wieder „ins Leben“ mit seinen Anforderungen und Belastungen stürzen zu können, sind sich die Patienten weitgehend einig mit ihren Docs, Psycho- und Physiotherapeuten oder sonstigen Heilern. Eine zumindest einigermassen intakte bzw. wiederhergestellte Gesundheit ist aus ihrer Warte einerseits die wesentliche Voraussetzung für so ziemlich alles, was sie an Interessen und Zielen verfolgen.

In einer kapitalistischen Wirtschaft ist Gesundheit allerdings andererseits noch in einem darüber hinaus gehenden Sinn existenziell wichtig: Wer körperlich oder seelisch nicht einigermassen fit bzw. stabil ist, ist nicht in der Lage seinen Arbeitsalltag durchzustehen. Er/sie muss deshalb auf Dauer die Segel streichen oder wird wegen zu häufiger Fehlzeiten entlassen – laut IG-Metall droht eine „krankheitsbedingte Kündigung“, wenn ein Arbeitnehmer drei Jahre lang jeweils mehr als 30 Tage ausfällt – und verliert damit sein Einkommen.

Zwar gibt es für die verschiedenen Fälle Lohnersatz-Leistungen6. Allerdings müssen dafür die gesetzlich geregelten Voraussetzungen vorliegen – was insbesondere bei den inzwischen verbreiteten „prekären“ Arbeitsverhältnissen nicht der Fall ist. Und es sind bei allen Varianten Abzüge vom Lohn hinzunehmen, die vom Gesetzgeber vorsorglich eingebaut wurden, um Arbeitnehmer zu motivieren, ihre Arbeit zügig wieder aufzunehmen bzw. sich schnell einen neuen Arbeitsplatz zu suchen.

Das funktioniert in Deutschland so gut, dass das Phänomen des „Präsentismus“ beklagt wird: Arbeitnehmer_innen gehen arbeiten, obwohl sie krank sind. Mehr als die Hälfte der Befragten gaben in einer 2017 veröffentlichten Studie an, mindestens einmal pro Jahr trotz Krankheit am Arbeitsplatz zu erscheinen, und das durchschnittlich an etwas mehr als sechs Tagen. Obwohl dieses Verhalten kurzfristig von durchaus gelungener Motivation zeugt, bringt es im Fall von Infektionskrankheiten neben der Ansteckung von Kollegen oder Kunden/Patienten mittelfristig noch andere kontraproduktive Folgen hervor.

Denn mehr als 70 Prozent der fleissigen Arbeitnehmer_innen erkranken im Lauf des Jahres dann so gravierend, dass sie mehr als zwei Monate ausfallen. Wenn das schon bei den noch einigermassen gut abgesicherten „regulären“ Arbeitsverhältnissen gilt, ist unschwer zu schlussfolgern, dass all diejenigen, die sich mit prekären bzw. (schein-)selbständigen Jobs durchschlagen, noch erheblich rücksichtsloser mit sich (und anderen) umgehen, wenn sie krank sind. Und natürlich gilt das auch für den Willen zum Durchhalten im Privaten, wo man einfach nicht ausfallen kann oder will, wenn daran die Kinder mit ihrem Programm, der pflegebedürftige Vater oder auch nur der lange ersehnte Kurzurlaub hängen.

Der weitaus grösste Teil des Volks nimmt unter den herrschenden Bedingungen also ein ziemlich robustes Verhältnis zu seiner Gesundheit ein. Um mit den ziemlich „alternativlos“ gegebenen Notwendigkeiten der eigenen Existenz klarzukommen, werden die Schädigungen von Körper und Psyche, die aus den zahllosen „Ratgebern“ durchaus bekannt sind (!), praktisch schlicht hingenommen. Das hat natürlich Folgen. Was den lieben langen Tag am Arbeitsplatz, im Grossstadtverkehr, bei den Lebensmitteln undsoweiter alles auf Muskeln, Organe und Seele eindrischt, das kann durch ein bisschen gute Luft beim Spaziergang, das Fitness-Center am Feierabend oder ein entspanntes Wochenende beim besten Willen nicht gut gemacht werden.

Die Menschen dieser Gesellschaft sind deshalb längst daran gewöhnt, mit den „üblichen“ Malessen zu leben – „muss ja“. Sie haben „Rücken“, Bluthochdruck und plagen sich mit erworbenen Allergien aller Art herum; Lebensmittelunverträglichkeiten und Neurodermitis breiten sich immer mehr aus. Mit diesen Krankheiten zu leben, ist übrigens eine Aufgabe, die einen beträchtlichen Teil der Lebenszeit beansprucht. Die Betroffenen rennen nicht nur von einem Arzt zum nächsten in der Hoffnung, einen zu finden, der helfen kann; sie sind auch ihre eigenen Versuchskaninchen dafür, verträgliche Nahrung, Medikamente und Therapien zu finden. Lebensmittelhersteller, Pharmakonzerne, Gastronomie etc. sind dabei mit ihren Produkten natürlich stets zur Stelle, wenn es sich rechnet, aber mit ihren Gratis-Informationen nicht sonderlich hilfreich. Warum nicht? Gehe zurück auf Los!

Harte Resultate

Die Gesundheit wird in dieser Gesellschaft weit über das Mass hinaus strapaziert, das angesichts der vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse und der erreichten Produktivität der Arbeit nötig wäre. Entsprechend sehen die Menschen gerade in der ökonomisch erfolgreichsten europäischen Nation oft aus: blass, gehgeschädigt, relativ viele übergewichtig, verhärmt. Natürlich nicht in guten Münchner Wohngegenden, aber ziemlich durchgängig im Ruhrgebiet; und durchaus erschreckend, wenn man etwa aus der Schweiz nach Deutschland zurückkommt.

Wer das für eine bloss subjektive Wahrnehmung hält, dem sei ein Blick in diverse Statistiken empfohlen. Es ist fast ermüdend, darauf hinzuweisen, was sie seit Jahr und Tag belegen: Wer ärmer ist, lebt kürzer – bei Männern geht es dabei um fast zehn Jahre, bei Frauen um fünf. Männer leben allgemein fünf Jahre weniger als Frauen – hier machen sich im Wesentlichen die immer noch längere/häufigere Berufstätigkeit und die damit verbundenen Belastungen der Männer geltend; das wurde anhand der sogenannten „Klosterstudie“ nachgewiesen: Bei Mönchen und Nonnen schrumpft der weibliche Vorsprung in der Lebenserwartung auf nur ein Jahr... Und die Todesstatistiken (2019) weisen aus: Von den etwa 1 Million Toten in Deutschland sterben jährlich fast sechshunderttausend Menschen an Herz-Kreislauf-Versagen, Krebs und Atemwegserkrankungen. Ziehen wir davon alle wirklich „alters-schwachen“ Menschen ab – irgendwann und an irgendetwas stirbt man ja – dann wird man auch da in vielen Fällen sagen können, dass deutlich vor der Zeit gestorben wurde.

Nicht erst seit Corona und den „Querdenkern“ gehen die Mitglieder dieser Gesellschaft hart mit ihrer Gesundheit und der anderer um. Sie buchen all das, was Körper und Seele attackiert, offensichtlich als (zumindest für sie nicht zu ändernde) Notwendigkeiten ab – ganz so, als sei diese Gesellschaft mit all ihren Rechnungen und Zwängen natürlich oder schicksalhaft gegeben. Und das ist ja auch so. Jedenfalls wenn und weil sie das zulassen.

Renate Dillmann

Fussnoten:

[1] Dies gilt zumindest für die sog. „entwickelten“ Länder. In Ländern der 3. Welt grassieren auch heute noch die hierzulande weitgehend überwundenen, eingedämmten und gut behandelbaren Krankheiten wie Cholera, Masern, Malaria oder Aids als tödliche Seuchen – allesamt „Armutskrankheiten“. Und: Alle 5 Sekunden erblindet ein Mensch, 90% davon in „Entwicklungsländern“. (…) „Dabei wären 75% der Erblindungen weltweit vermeidbar.“ „Vermeidbar“ wären diese Krankheiten allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Gesetze des kapitalistischen Weltmarkts nicht mehr gelten würden. Denn in ihnen liegt der Grund dafür, dass diese Länder für ihre Bevölkerungen immer weniger an Lebensgrundlagen bereitstellen und weder den Zweck haben noch in der Lage dazu sind, eine Gesundheitsversorgung zu entwickeln. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang das sozialistische Kuba – das einzige Land der 3. Welt mit einem funktionierenden Gesundheitssystem!

[2] Karl Marx, Das Kapital, Band 1

[3] Das gilt auch für Arbeitsplätze, die im Interesse einer nachhaltigen Benutzung ihrer Arbeitskräfte moderne arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen. Wenn die Investition sinnvoll erscheint, richten Unternehmen diese durchaus nach den Erkenntnissen der Arbeitsergonomie ein – mit dem Ziel, dass Leistungen stetig erbracht werden können, ohne dass der Arbeitsablauf permanent durch Fehlzeiten oder nötig werdende Neubesetzungen gestört wird (Schreibtischstühle, Lärmschutz etc).

[4] Vgl. Suitbert Cechura, Diese Gesellschaft macht krank (2018) und Sabine Predehl/Rolf Röhrig, Gesundheit – ein Gut und sein Preis (2016) sowie Renate Dillmann/Arian Schiffer-Nasserie, Der soziale Staat (Kapitel: Krankheiten) (2018)

[5] Es gibt selbstverständlich Mediziner, die über diesen Widerspruch ihrer Tätigkeit nicht so lässig hinwegsehen oder -gehen wollen, wie z.B. den VDÄÄ (Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte) – insgesamt stellt das allerdings eine Minderheitsposition dar.

[6] Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bei länger andauernden Ausfällen, Krankengeld bzw. bei länger anhaltenden Krankheiten der Übergang zur Verrentung, Arbeitslosengeld I bzw. II nach Entlassungen


Dr. Renate Dillmann hat zusammen mit Dr. Arian Schiffer-Nasserie das Buch „Der soziale Staat – Über nützliche Armut und ihre Verwaltung“ geschrieben (VSA 2018)