Herausgegeben wird das Pluriversum-Buch von dem Wissenschaftler und Gründer der indischen Umweltgruppe Kalpavriksh, Ashish Kothari, der australischen ökofeministischen Wissenschaftlerin und Aktivistin Ariel Salleh, dem kolumbianisch-US-amerikanischen Anthropologen Arturo Escobar , dem italienisch-spanischen Sozial- und Umweltwissenschaftler Federico Demaria und dem Wirtschaftswissenschaftler und früheren ecuadorianischen Bergbauminister Alberto Acosta.
Aus der Fülle der Beiträge stelle ich im Folgenden einige Perspektiven vor, die sich ausdrücklich auf Friedensfragen beziehen.
Pluriverse Wege finden
Die Herausgeber*innen möchten ihre marxistische Analyse „durch Perspektiven wie Feminismus und Ökologie sowie durch Vorstellungen aus dem globalen Süden, einschliesslich gandhianischer Ideale“ ergänzen. Sie laden die Leser*innen ein, „sich auf einen tiefgreifenden Prozess der intellektuellen, emotionalen, ethischen und spirituellen Dekolonialisierung einzulassen“ und das zu erforschen, was sie „als beziehungsreiche ‚Wege des Seins' begreifen“. So umfasse Pluriversalität auch indigene Sichtweisen. Indigene seien oft gezwungen gewesen, ihre eigene Welterfahrung zu verfremden und mussten „lernen, mit dem eurozentrischen, maskulinistischen Dualismus zwischen Menschen und Nicht-Menschen zu leben, der dazu führte, dass indigene Völker als Nicht-Menschen und ‚natürliche Ressourcen' behandelt werden.“ Entgegen dieser Aufspaltung setzten sie sich für Berge, Seen oder Flüsse ein, die für sie nicht Ressourcen oder blosse Objekte seien, sondern „empfindende Wesen mit ‚Rechten'“. Mittlerweile gibt es auch in den Industrieländern Initiativen für die Rechte der Natur und deren juristische Festschreibung.Unsere wichtigste Lektion als Menschen sei es, „Frieden mit der Erde und miteinander zu schliessen“ betonen die Herausgeber*innen.
Entwicklung – für das eine Prozent
Die bekannte indische Quantenphysikerin, Umweltwissenschaftlerin und Trägerin des Alternativen Nobelpreises Vandana Shiva legt dar, wie kapitalistische patriarchale Ökonomien durch Krieg und Gewalt geformt werden. Dies seien „Kriege gegen die Natur und verschiedene Kulturen, und Gewalt gegen Frauen.“ Das Ziel dieses Krieges sei es, „den realen Reichtum, den die Natur und die Menschen produzieren, zu besitzen und zu kontrollieren“. Zu diesem Zweck würden materielle Prozesse zunehmend durch ökonomische Fiktionen ersetzt. Als Beispiel nennt sie das Narrativ von der „‚Logik' der Wettbewerbsmärkte.“Patriarchale Werte und Kapitalismus seien durch Separation gekennzeichnet: „Zuerst wird die Natur von den Menschen getrennt; dann werden die Menschen auf der Grundlage von Geschlecht, Religion, Kaste und Klasse getrennt. Diese Trennung von dem, was aufeinander bezogen und miteinander verbunden ist, ist die Wurzel der Gewalt – zuerst in den Köpfen, dann im täglichen Handeln.“
FriedensFrauen
Über ein weltweites Netzwerk von Frauen für den Frieden berichtet Lau Kin Chi. Sie ist ausserordentliche Professorin an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Lingnan-Universität in Hongkong, Mitgründerin und im Vorstand der Initiative PeaceWomen Across the Globe (PWAG). Deren Idee war es, 1.000 Frauen aus aller Welt für den Friedensnobelpreis zu nominieren, „um das Denken und Handeln einfacher Frauen besser bekannt zu machen“. Die Absicht war nicht, „‚das Weibliche' oder irgendeine biologische Polarisierung von Frauen und Männern in den Vordergrund zu stellen. Vielmehr ging es darum, die fürsorglichen Beziehungen der Frauen im Alltag hervorzuheben, ihre Erfahrungen und erlernten Fähigkeiten, die für die Überwindung von Gewalt und die Förderung eines dauerhaften Friedens so wichtig sind.“Im Januar 2005 reichte PWAG dem Nobelpreiskomitee 1.000 Namen ein, „in der Überzeugung, dass es 100 Jahre nach Bertha von Suttner, der ersten Frau, die 1905 den Nobelpreis erhielt, an der Zeit ist, mehr Frauen für ihren Einsatz, ihren Mut und ihre Entschlossenheit beim Aufbau des Friedens zu ehren“ (PWAG-Vizepräsidentin Vermot-Mangold).
Zwar bekamen die Frauen den Preis nicht, aber auf der Website des Projekts 1.000 Frauen für den Friedensnobelpreis 2005 sind ihre Geschichten dokumentiert. PWAG wurde zu einem weltweiten Frauenfriedensnetzwerk ausgebaut.
Neue Matriarchate
„Der Begriff ‚Matriarchat' bedeutet nicht ‚Herrschaft der Mütter', sondern mater arché, im Sinne von ‚am Anfang des Lebens steht eine Mutter'“, erläutert Claudia von Werlhof. Die emeritierte Professorin für Politikwissenschaft und Frauenforschung an der Universität Innsbruck (Österreich) wurde 1943 in Berlin geboren, forscht und publiziert seit Jahrzehnten zu feministischen Fragen.In ihren Ausführungen bezieht sie sich auf Heide Göttner-Abendroth, die nachgewiesen habe, „dass Matriarchate in vorpatriarchalen Gesellschaften auf der ganzen Welt normal waren. Sie waren friedlich und auf die natürliche Umwelt ausgerichtet. Darüber hinaus waren sie Subsistenzwirtschaften, hoch spirituelle erd- und lebensbezogene Kulturen, die auf mütterlicher Kompetenz und mütterlichem Wissen basierten“. Es gab verschiedene Formen von Matriarchaten, die jedoch gleiche Grundprinzipien hatten. So waren sie „nicht diskriminierend in Bezug auf biologisches und soziales Geschlecht (sex and gender), Alter und Aktivitäten“. Die Entwicklung der Patriarchate vor etwa fünf- oder sechstausend Jahren sei das das Ergebnis von Klimakatastrophen gewesen, wodurch die Bevölkerungen beispielsweise in Sibirien gezwungen waren, an andere Orte zu ziehen. „Sie erfanden Gewalt und Krieg als Mittel, um zu überleben und die Kontrolle über die Matriarchate zu übernehmen. Staaten wurden zur Regel, vor allem dort, wo sich hoch entwickelte matriarchale Zivilisationen herausgebildet hatten.“
In der Folge wurde die ursprüngliche Bevölkerung ausgebeutet, es entstanden Klassenstrukturen und Kriege, und es wurden „Herren und Herrscher, Götter und Väter proklamiert. Es entstand der pater arché mit seiner Ideologie und Religion ‚am Anfang des Lebens steht der Vater'. Der Ursprung des Lebens mit einem Vater – anstelle einer Mutter – wurde zur Rechtfertigung seiner Herrschaft.“
Ohne Mütter käme es „zur „systematischen Zerstörung des Lebens auf dem Planeten, was nicht, wie versprochen, zu einer besseren, sondern zu einer toten Welt führt.“ Und weil das Patriarchat das Problem sei, wäre das Matriarchat die Antwort. „Das bedeutet, dass wir einen Weg aus dem Patriarchat in ein neues Matriarchat finden müssen“.
Pazifismus
„Das pazifistische Ideal impliziert in seinem Kern die Unverantwortlichkeit von Krieg und die Verpflichtung, Konflikte mit gewaltfreien Mitteln zu lösen“ stellt Marco Deriu fest. Er forscht und lehrt an der Universität von Parma (Italien) zur Soziologie der politischen und ökologischen Kommunikation und engagiert sich in der Associazione per la decrescita (Vereinigung für Degrowth).Er wirft einen kritischen Blick auf den berühmten Satz von Papst Paul VI. in seiner Enzyklika Populorum Progressio 1967: „Entwicklung ist der neue Name für Frieden“. Der Slogan habe die Sehnsüchte dieser Zeit ausgedrückt, „die den Glauben an die Befreiung von Armut, Sklaverei und Gewalt mit dem Versprechen der Entwicklung“ verbanden. Dies sei jedoch im Rückblick problematisch.
Entwicklung sei mit Ressourcenverbrauch und Ressourcenkriegen verbunden, den er als „militarisierten Extraktivismus“ oder „extraktiven Militarismus“ bezeichnet. Es gäbe „eine Symbiose zwischen der militärischen und der zivilen Industrie“, innovative Technologiebranchen fänden „in der Armee einen ihrer Hauptabnehmer“. Auch Bankensystem und Waffenhandel seien eng miteinander verflochten.
Daher gelte heute: „Degrowth ist der neue Name für Frieden“.
Sentipensar
„Sentipensar ist ein Wort, das afrikanischstämmige Menschen und Fischer in vielen Flussgemeinschaften in Kolumbien benutzen. Sentipensar bedeutet, ‚mit dem Herzen handeln, während man den Kopf benutzt'“. Die Professorin für Sozial- und Humanwissenschaften an der Universität von Panamá, Patricia Botero-Gómez, führt weiter aus, Sentipensar sei „eine radikale Vision und Praxis der Welt, insofern sie die scharfe Trennung in Frage stellt, die die kapitalistische Moderne zwischen Geist und Körper, Vernunft und Gefühl, Mensch und Natur, Weltlichem und Heiligem, Leben und Tod etabliert“.Diese Vision sei „Ausdruck eines aktiven Widerstands gegen den Dreiklang des Kapitalismus aus Enteignung, Krieg und Korruption“, der die teils jahrtausendealten Kosmovisionen ausgelöscht hätte. Sentipensar lebe „im Wissen der Vorfahren und in den Wirtschaftsformen der Völker“, was sich heute in autonomen Projekten im Südwesten Kolumbiens zeige. In diesen „stellen sich Jugendliche und Frauen dem patriarchalen kapitalistischen Bildungs- und Wirtschaftsmodell entgegen, das die gemeinschaftlichen Formen des verkörperten Wissens und die Lebenswelten zerstört hat“. Diesen afro-lateinamerikanischen Widerstand versteht sie als „eine Politik der Hoffnung“, die von Realitäten ausgeht, „die nicht vollständig durch moderne Kategorien kolonisiert wurden“ und die von dort aus „die Welt neu denkt“.
Zivilisatorische Umbrüche
Unter einem zivilisatorischen Umbruch versteht der Mitherausgeber des Pluriversum-Buchs Arturo Escobar die komplexe Bewegung von der Dominanz eines einzigen zivilisatorischen Modells hin zu einem Pluriversum. Denn es könne „nicht nur eine einzige Zivilisation geben“ und weder Demokratie noch Zivilisation könnten mit Gewalt exportiert werden.Ansätze für einen notwendigen Wandel sieht er im Globalen Norden „unter anderem in ökofeministischen Subsistenzwirtschaften, Vorschlägen für Degrowth, der Verteidigung der Allmende, dem interreligiösen Dialog und Strategien zur lokalen Versorgung mit Nahrungsmitteln, Energie und Transportmitteln“.
Im Globalen Süden seien es „Ontologien, die die radikale Interdependenz von allem, was existiert, betonen. Diese biozentrische Sichtweise findet ihren deutlichen Ausdruck in den Begriffen des kollektiven Wohlbefindens (Buen Vivir) gemäss den persönlichen Kosmovisionen, den Rechten der Natur und dem Übergang zum Post-Extraktivismus“.
So schaffe der Begriff der zivilisatorischen Umbrüche „einen Horizont für die Entwicklung umfassender politischer Visionen jenseits der Vorstellungen von Entwicklung und Fortschritt und der Universalien der westlichen Moderne wie Kapitalismus, Wissenschaft und Individuum“.



