Selbstreflexion braucht solidarische Kritik Goldman macht mir eine Ansage

Gesellschaft

Dann werde ich also auf die anarchistische Buchmesse fahren um meine Gedanken zu präsentieren und Mitte Juni in den Norden, um ein paar Veranstaltungen zu machen.

Emma Goldman 1886.
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Emma Goldman 1886. Foto: PD

26. Mai 2022
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Eigentlich würde ich nur so etwas machen, Seminare geben und Texte zu meinen Themen produzieren – wenn ich denn davon leben könnte. Es zumindest insofern einen gewissen Wert als das anarchistisches Denken am Leben gehalten, weiter gegeben und auch weiter gedacht wird. Und im deutschsprachigen Raum gibt es nun mal wenige Menschen, die dies als ihre Aufgabe erachten und mit erlernten theoretischen Fähigkeiten verbinden können. Das ist auch verständlich.

Der Fame für nicht-institutionell angebundene anarchistische Intellektuelle, die sich nicht als besonders krass inszenieren, sondern besonders bodenständig sein wollen, hält sich sehr in Grenzen. Die paar Fans sind oftmals nicht zahlreicher als die paar Hater, die an mir was gefunden haben. Und die Bezahlung ist... nun ja, im Wesentlichen ein moralisch gutes Gefühl, mit meinen Fähigkeiten und meiner Seinsweise etwas sinnvolles gemacht zu haben.

Ich bilde mir manchmal ein, damit in manchen Fällen auch die lokalen Szenen zu bestärken, weil sie dann etwas Thematisches nach aussen hin anbieten können. Schwierig ist es aber, wenn lokale A-Gruppen gar keine Aktiven hervorbringen, die mit einer gewissen Bildung in der Öffentlichkeit auftreten und sprechen können. Jetzt, wo ich sogar den langen, zermürbenden Weg der Promotion gegangen bin, wäre ich vermutlich sogar in der Position, Genoss*innen in anarchistischer Theorie und Veranstaltungen dazu auszubilden. Soll ich das aber wieder – wie gewohnt – alleine angehen? Es gibt auch Menschen, die auf einem ähnlichen denkerischen Level wie ich unterwegs sind.

Diese sind aber wiederum nicht so aktivistisch eingestellt, als dass sie Anarchismus als potenziell sozial-revolutionäre, organisierende, vermittelnde und radikalisierende Kraft innerhalb emanzipatorischer sozialer Bewegungen begreifen. Sie machen vielleicht auch mal eine Veranstaltung, einen Text oder intervenieren in eine Debatte. Darüber hinaus denke ich aber, dass sie sich deutlich besser um sich kümmern und mit der Gegenwartsgesellschaft arrangieren können, als ich. Das ist allerdings erst mal eine Unterstellung von einem chronischen Nörgler.

Solche Überlegungen gehen mir jedenfalls durch den Kopf, als ich im Infoladen meines Vertrauens abhänge, um mir die Zeit zu vertreiben. Plötzlich schwingt die Tür auf und Goldman kommt stürmisch in den Raum. Ich merke gleich, sie ist unter Strom, energetisch und sauer. Sie stopft ein Bündel mitgebrachte Plakate in ein Regal, was offenbar der Anlass für ihren Besuch ist, wendet sich dann aber mir zu und fragt bissig, aber nicht unsolidarisch: „Na Herr Doktor, was macht die Agitation?“

Ich antworte, dass ich für Mitte Juni eine kleine Vortragsreise plane, schon etwas aufgeregt bin deswegen, mich aber freue, mit diesem Anlass mal raus zu kommen. „Und was macht das Selbstmitleid und das Kreisen um dich selbst, lost boy?“, hakt Emma weiter nach. Und ich merke, dass ich ruhig bleiben sollte, weil es uns beiden nichts bringen würde, hier und jetzt in eine Konfrontation zu gehen. Also antworte ich: „Wenn du schon nachfragst, das Übliche: Die Arbeit, die Wohnung, der Sinn und die Liebe. Vor allem die Liebe. Ich weiss eigentlich nicht, wo ich anfangen soll, diese Baustellen anzugehen.“

Sie darauf hin: „Und aus kritischer Männlichkeit wurde wieder mal nichts, ja? Zeit für Selbstmitleid haste, aber keine für Selbstsorge? Meine Güte, wenn ich nur halb so viele Genossen wie dich emotional durchbringen müsste, hätte ich auch mal wieder Zeit für die eine oder andere Mussestunde neben dem Vollzeitaktivismus.“

Darauf erwidere ich: „Jetzt gib mir aber auch mal ne Chance zur Weiterentwicklung! Wenn du mich an den alten Massstäben misst und die Kategorien presst, die du bei anderen Cis-Männern kritisierst, hab ich doch gar keine Möglichkeit, weiter zu kommen. Aber ja, wenn ich meine Selbstzweifel einfach über Bord werfen und so tun könnte, als wenn ich voll den Plan hätte, nicht am struggeln wäre und so weiter, kämst du als emanzipierte Frau besser darauf klar. Dann wüsstest du wenigstens, dass dieser Mann ein Mann ist. Und nicht so ein lädiertes Wrack in der männlichen Hierarchie, wie ich.“

Doch Goldman lässt nicht so leicht locker und ist im Streitgespräch erprobt wie kaum eine andere Genoss*in, die ich kenne. „Was für Ausreden, was für Ablenkungsmanöver. Ja dann sei doch verdammt noch mal ein Kerl, wenn du es nicht sein lassen kannst, aber emanzipiere dich von der Geschlechterhierarchie indem du aktiv gegen sie vorgehst!“ „Gut okay“, antworte ich. „Würdest du mir einen Hinweis geben, mir zu sagen, wo ich anfangen kann?“.

„Ja, aber nur weil ich bei dir noch Potenzial sehe. Und sicherlich ist es nicht an sich meine Aufgabe! Also fang doch meinetwegen in der Theoriearbeit an und in den Geschichtchen über die Genossen, denen du jetzt allen noch mal begegnet bist. Sorel, Bakunin, Kropotkin, Landauer, Stirner, Pouget, Most, Malatesta – alles Typen. Dann gibt's die antifeministischen Anarchos wie Sorel und Most – vor allem Most, dieser Arsch – und die patriarchalen Väterchen wie Kropotkin und Landauer. Bakunin hätte mal sein Selbstbild reflektieren sollen, Pouget ist so nen Nebenwidersprüchler und Stirner kann keine strukturellen Unterdrückungsverhältnisse sehen. Und was du über Malatesta geschrieben denkst … naja, sagt wohl eher was über deine Heteronormativität aus, als über ihn.“

„Ja, so sieht's aus“, sage ich. „Ich stimme dir zu. Es sind alles Typen, ein Verein weisser Cis-Typen. Also im Grunde genommen ein Männerbund. Und wenn du das kritisierst, wirst du gleich wieder als die Alibi-Anarchistin gesehen, die sich um den Feminismus im Anarchismus zu kümmern hätte, obwohl du eigentlich auch ganz andere Themen hast. Das ist scheisse, zugegeben. Aber ändert doch nichts daran, dass mich diese Genossen geprägt und beeindruckt haben, nun ja, dass sie eben auch geschrieben haben und ich mich jetzt darauf beziehen kann. Und in gewisser Weise muss ich mich ja auch auf sie beziehen, denn Anarchismus sollte schon auch so dargestellt werden, wie er historisch auch – ich sage: auch, nicht: nur – war.“

Emma wird nun etwas ruhiger, vielleicht weil sie merkt, dass ich in dieser Lebensphase besonders mit mir selbst zu hadern habe. Und es wohl auch rüber kommt, dass ich gar nichts zu verteidigen habe am Typen-Verein. „Nun gut, also das Wesentliche ist doch die Auseinandersetzung, ich denke, das sehen wir ganz ähnlich. Genosse bleibt Genosse beziehungsweise Genossin, auch mit seinen und ihren Schwierigkeiten. Als Anarchist*innen haben wir ja alle unsere Päckchen zu tragen. Und das ist in Ordnung, denn gesamtgesellschaftliche Emanzipation muss immer mit der Veränderung von Einzelnen einhergehen und durch ihre individuelles Engagement getragen werden. Deswegen stehen wir ja nicht für eine Politik der Masse ein, sondern plädieren für aktive, gut organisierte und reflektierte Minderheiten.

Sie können den erforderlichen, grundlegenden Wandel bringen, wenn sie sich aufeinander beziehen und miteinander verbünden. Das bedeutet dann aber auch: Den Strich zu ziehen zu reaktionären Kräften, etwa Antifeministen, Homophoben, Verschwörungsmythologen und Antisemiten in den eigenen Reihen.“

Und so verstricken wir uns noch eine gute Weile in ein tieferes Gespräch über dies und jenes. So kotzen wir zum Beispiel noch mal über die antiimperialistischen Tankies und Putin-Versteher ab, während wir zugleich darum wissen, dass unsere Leute in der Ukraine auch nicht viele sind und sich in einem grossen Widerspruch befinden. Damit umkreisen wir das Thema, weshalb es so schwierig ist, heute antinationale Perspektiven aufzumachen – stellen dann aber wiederum fest, dass es in früheren Zeiten auch nicht leicht war, solche aufzumachen.

Es ist eben das schöne mit Goldman, dass wir uns streiten und uns dann trotzdem wieder über (anti-)politische Themen austauschen können, die zugleich unsere eigenen Gefühle, unsere Traurigkeit, Wut, Freude und Hoffnung, dazu nicht ausschliesst. Auf diese Weise ist es für mich auch einfach einzusehen, dass ich mich noch persönlich in einiger Hinsicht weiterentwickeln muss. Als auch, dass eine ansprechendere und angemessenere Theorieproduktion betreiben will, in der andere Perspektiven einbezogen werden. Dass ich dabei ein weisser, akademischer Mann bin, ist ja nicht der Punkt, sondern ob ich meine, aus diesen Gründen eher etwas zu sagen zu haben, als andere.

Jonathan Eibisch