Startguthaben: Ein schweizer Pass und ein abgelaufener kosovarischer Das Anrecht auf zwei Leben Pässe

Gesellschaft

Um eine NGO in Kosovo zu gründen brauche ich den kosovarischen Pass. Das Recht darauf habe ich und weil ich schon einen Pass habe und der abgelaufen ist, muss ich ihn nur verlängern. Also gehe ich den Pass verlängern.

Pass der Republik Kosovo.
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Pass der Republik Kosovo. Foto: Dardanianwiki (CC BY-SA 4.0 cropped)

30. August 2019
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Dafür gehe ich in ein Gebäude am Rande der Stadt. Ich sehe einen Eingang. Recht gross, doch unscheinbar. Weiss. Er führt zu einem mittelgrossen Raum, mittig unterteilt durch einen Schalter, Holz und Glas, von einer zur anderen Seite des Raumes reichend. Das Glas scheint undurchdringlich. Nur ein wenig Schall kann durch einen kleinen Spalt zwischen Glas und Holz die Seiten überqueren. Und mein Blick. Sehen kann ich alles. Ein Mann und drei Frauen bewegen sich auf der anderen Seite. Der Mann scheint am wichtigsten zu sein. Er befiehlt und die Frauen gehorchen. Eingespielt und funktional. Geräumig und gelassen.

Auf meiner Seite ist es laut. Es riecht stark nach Menschen. Sehr stark. Nach verschiedenaltrigem Schweiss. Mein Blick bleibt auf die andere Hälfte des Raumes geheftet. Die Wand aus Holz und Glas scheint auf drei Schalter aufgeteilt zu sein. Drei beschriftete A4-Blätter sind auf ihr verteilt. Pass hier machen, steht auf einem. ID hier. Und die Fotos machen wir hier. Wie verlängere ich aber den Pass? Kein Schalter dafür. Kein Schalter für das, was nicht hineinpasst. Kein Schalter für Information.

Wir auf unserer Seite sind über hundert Menschen in einem Raum, dessen Sauerstoffgehalt aufgebraucht wurde. Ich frage nicht unsere Seite, wir sind die Schafe. Automatisch nähere ich mich der Wand um eine Person auf der anderen Seite zu fragen, wo ich anstehen muss. Doch es stoppt mich sofort ein alter Mann, der meine Pläne neben all dem Schweiss gerochen zu haben scheint und mich als Drängler beschimpft. Wo sei mein Respekt gegenüber seiner Frau? Sie steht neben ihm und scheint fast zu weinen. Sie stehe schon seit über sechs Stunden da. Da sie einen Buchstaben falsch geschrieben habe.

Ich lächle brav und erkläre: ich wolle mir am Schalter nur sagen lassen, wo ich meinen Pass verlängere. Er beschimpft mich weiter und erklärt mir, es gäbe nichts zu lachen für mich und zeigt mit den Augen auf seine Frau. Dabei spicken einzelne Tröpfchen Körperflüssigkeit von seinen Lippen auf meine Stirn, auf mein linkes Auge, und ich kann ihn nicht mehr überholen. Instinktiv versuche ich durch schnelles Blinzeln diese Spucke zu entfernen, obwohl ich weiss, dass drin drin ist. Unterbrochen durch meine bewegenden Augenlieder sehe ich andere Menschen, die wohl so aussehen wie ich. Verwirrt, hier gelandet zu sein, unklar, wo sie sind, wo sie hinsollen. Wartend, wie alle anderen.

Der alte Mann schaut mich noch immer böse an. Womit soll er sich auch sonst beschäftigen. Hinter mir entstehen beinahe magisch neue Leute mit neuen Gerüchen und alten Ideen. Nun bin ich also irgendwo in der Mitte der einen Hälfte des Raumes. Und warte ab, was weiter passiert. Mein Ekel hat sich etwas gelegt. Ich habe mich schon ein wenig gewöhnt.

Der Mann hinter der Glaswand zeigt einem teenageralten Mädchen auf unserer Seite, wie sie auf einem Unterschriftenpad unterschreibt. Die oberste Plastikschicht ist gewölbt und ich denke an Blätterteig. Das Gerät kommt mir bekannt vor. Wahrscheinlich ist es auch Secondhand von der Schweiz oder Deutschland. Wie die alten VWs überall. Wie die Busse, die noch deutsche Werbung zeigen und damit ständig an die kosovarische Nachgelagertheit erinnern. Das Mädchen braucht mehrere Anläufe. Es ist alles so scheps. Der Mann scheint demnächst zu explodieren und das Haus zu sprengen. Plötzlich wird er Geduldig. Er schreibt ihre Initialen D. D. auf ein Papier und es scheint als schreibe sie das nach. Daneben dirigiert eine Frau der anderen Seite einen Mann von meiner Seite, ohne Worte.

Er geht zu unserem Metermass. Ein anderer Mann, vielleicht aus Hoffnung die Prozesse ein wenig zu seinem Vorteil zu beschleunigen, bewegt den Meterzähler auf den Kopf des Mannes zu und lächelt die Frau hinter der Wand an. Ich hole Luft um ihn zu fragen, wie viel Geld er dafür verlange, doch der Raum war zu eng dafür. Sie liest die Zahlen ab und es ist wieder so als wäre nichts passiert.

Im hinteren rechten Eck des Raumes steht eine Familie mit Zwillingen. Zwei Mädchen, etwa zehn Jahre alt. Sie stehen da wie zwei Puppen. Schnüre in den Zöpfen, rosarote. Weisse Röcke mit rosa Rändern … Das eine Mädchen lutscht seinen spiralförmigen Lollipop und schaut besorgt, obwohl der Lollipop nicht schlecht zu schmecken scheint. Irgendwie ist alles Scheisse. Ihre Schwester neben ihr schreit, weil ihr der Vater einen Kaugummi aus den Haaren reisst.

Der Mann der anderen Seite kommt plötzlich aus einer Tür, die es bis jetzt nicht gab, und misst das Teenagermädchen ganz genau ab. Sie hat braunblonde Haare und blaue Augen. Ihre Mutter und zwei Schwestern sind auch da. Somit leert sich der Raum schneller als gedacht. Es scheint, dass ich der einzige bin, der alleine da ist. Gleichzeitig kommen mehr Leute rein als raus. Doch Schlange stehen können wir gut zusammen.

Plötzlich ist da eine vierte Frau der anderen Seite am grossen, unscheinbaren, weissen Eingang und lässt niemanden mehr rein. Und der Raum leert sich zur Hälfte. Seit einer Stunde bin ich einen Meter von dreien weitergekommen. Der alte Mann mit seiner Frau ist dran. «Onkel Skender, Onkel Skender!», ruft er zum Mann der anderen Seite. «Wie geht es dir und deiner Familie? Schon lange nicht mehr gesehen!» Der Mann der anderen Seite schenkt dem alten Mann ein müdes Lächeln. Die Müdigkeit des Lächelns fliesst in seinen ganzen Körper. Er wirkt müde. Er macht auch tausend Sachen gleichzeitig. Dann sagt er, der nun Onkel Skender heisst: «Geh auf die andere Seite, mache eine Kopie und bezahle». Diese andere Seite ist aber ausserhalb dieses Raumes.

Nun bin ich dran und halte meinen Pass schon im Fensterschlitz: «Ich will verlängern.» Der Mann nimmt den Pass, macht etwas am Computer, füllt Papiere aus. «Immer noch 1.87 gross?», und dann muss ich unterschreiben. Der Raum leert sich weiter. Ich muss den Raum verlassen. Auf der anderen Seite der Strasse ist die Kasse und der Kassier macht auch gleich eine Kopie. Vor mir ist wieder der alte Mann dran, der sich über einen anderen alten Mann nervt.

Der andere alte Mann scheint ein kürzeres Bein zu haben. Er rede so viel, meint dieser alte Mann. Das sei unglaublich. Dieser alte Mann hat recht. Der andere alte Mann macht keine Pausen. Er redet viel, manches verständlich, manches wirr. Er hat keinen Fokus in den Augen und scheint betrunken. Sieht aber nicht so aus. Es sei unglaublich jetzt, meint er. Sowas habe er nie erlebt, sagt er. Früher habe er zehn Stunden gebraucht! Wofür, frage ich mich. Jetzt sei er zehn Stunden im Stau gestanden! Wozu, frage ich mich. Zehn Stunden im Stau! Das gibt es nicht! Wohin soll uns das noch führen. Was, frage ich mich.

Dieser alte Mann versucht ihm nicht zuzuhören und fragt mich woher ich sei. Also stellt sich heraus, dass er der Nachbar meiner Tante ist, die seit dem Krieg nicht mehr dort lebt wo er lebt. Jetzt ist er nett zu mir. Jetzt ist er dran mit zahlen und kopieren. Und dann ich.

Auf der anderen Strassenseite wieder, zurück beim anderen unterteilten Raum, macht mir die vierte Frau an der Türe auf. Nun muss ich Fotos machen. Die Frau des alten Mannes wartet wieder vor mir. Hinter der einzigen Tür zur anderen Seite höre ich den betrunken scheinenden anderen alten Mann darüber klagen, wie sich die Welt verändert hat. Das sei kein Staat, meint er. So komme man nirgendwo hin, sagt er. Die Frau des alten Mannes erzählt mir wie schlimm es bis jetzt gewesen sei, nur wegen einem Buchstaben! Wegen nur einem Buchstaben! Warte sie sechs Stunden! Jetzt wird sie fotografiert. Dann ich. Ich darf mich setzen. In die Kamera soll ich schauen. Nur schauen. Richtig sitzen. Foto fertig.

Das will ich sehen. Diese Frau der anderen Seite hier scheint einen Tick zu haben. Immer wieder klickt sie mehrmals mit der Maus. Doch es ist die Technik. Die Maus überträgt die Befehle nicht. Dann Zeigefinger: «Welches?», «Eines und dann das andere.», es kommt nicht drauf an.

Also warte ich jetzt auf einen Pass. Auf einen Pass, den niemand will, ausser die, die keinen anderen haben können.

Ist ein Mensch freier ohne das Wissen, einen solchen Pass besitzen zu können, als in Besitz eines solchen Passes?

Ich könnte wohl keine gegensätzlicheren Pässe haben. Einen Schweizer Pass, mit dem ich mehr als 99% der Erdoberfläche bereisen kann. Und einen kosovarischen, mit dem ich nur nach Albanien reisen darf. Immerhin ans Meer. Die Fläche von Kosovo und Albanien zusammen entspricht der Fläche der Schweiz. Stell dir vor, du dürftest mit dem Schweizer Pass nur in der Schweiz sein. Und vielleicht noch nach Calais. Was soll dann eigentlich dieser Pass? Mein Schweizer Pass erlaubt es mir, mich zu bewegen. Mein Kosovarischer verbietet dies.

Die Erde hat eine Fläche von 510'000'000 km2. Kosovo und Albanien knapp 40'000 km2. Für einen Kosovaren sind Kosovo und Albanien wie ein Goldfischglas für einen Goldfisch. Nordkorea ist dreimal grösser.

Und wozu mache ich einen solchen Pass? Wegen einer Idee. Einer ganz einfachen.

Vögel fliegen, wohin sie wollen. Fische schwimmen, wohin sie sich treiben lassen. Genauso können alle Landtiere dahin gehen, wohin sie gelangen wollen. Landwirtschaft begrenzt sie vielleicht, doch nicht eine konstruierte Landesgrenze. Insekten krabbeln wohin es sie führt. Bakterien vermehren sich wie es gerade kommt. Was ist der Mensch für den Menschen wert?

Die Diebe