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Irratio capitalis: Über die Idiotie des bürgerlichen Systems

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Über die Idiotie des bürgerlichen Systems Irratio capitalis

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Gesellschaft

„Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung

Irratio capitalis: Über die Idiotie des bürgerlichen Systems.
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Irratio capitalis: Über die Idiotie des bürgerlichen Systems. Foto: Mario Sixtus / CC BY-NC-SA 2.0

Datum 21. September 2016
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1. Was eigentlich ist ratio, ein Konzept, das seit geraumer Zeit von allen Seiten angeschwärzt wird – wobei sich die Post-Modernen besonders hervortun –, angeschwärzt, genauer gesagt, seit den Bemühungen des kritischen Duos – post-modern avant la lettre –, das sich „Adorno und Horkheimer“ nennt?

Offensichtlich hat ratio mit dem Denken zu tun, das der Praxis vorausgeht und ihr eine Richtung verleiht: damit, dass man überprüft, ob die Methoden, die man anzuwenden gedenkt, auch tatsächlich mit dem, was man anstrebt, korrespondieren. Vernünftig ist in diesem Sinne, was sich als zweckgerichtet, als zielführend, mithin als verhältnismässig erweist.

2. So gesehen ist es nicht unangebracht, das Tun der Bourgeoisie als rational einzustufen: Denn die Methoden, die das Kapital appliziert, um Profite zu machen, sind diesem Projekt stets angemessen.

Abwässer werden ungeklärt in Seen, ins Meer, in die Flüsse geleitet? Abgase ungefiltert in die Luft? Giftiger Müll wird wie gewöhnlicher Abfall entsorgt? Was könnte rationaler vom Standpunkt des Kapitalsubjekts sein? Denn alle Massnahmen, die dazu dienen, den Profit nicht zu schmälern, sind der raison d'être des Kapitals adäquat.

Geplante Obsoleszenz, dergestalt, dass ein Gerät nach vorgegebener Zeit durch einen eingebauten Defekt unbrauchbar wird? Mode? Rascher Wechsel von einem Modell hin zum nächsten? Alles rational, da es den Absatz und damit auch die Profite erhöht.

Anstelle von Nahrungsmitteln baut man Pflanzen zur Gewinnung von Treibstoffen an oder nutzt, tout court, Nahrungsmittel als Treibstoff? Warum denn auch nicht, wo dies doch gewiss lukrativ ist?

Man destabilisiert ganze Weltregionen und stürzt sie ins Chaos? Das ist durchaus vernünftig, steigert es doch in letzter Instanz den Absatz von Waffen und damit den Profit der respektiven Konzerne.

Vernünftig ist, was die „Rendite“ erhöht – und genau darum und um nichts anderes geht es, sei es in diesem oder in jenem Bereich, sei es hier oder dort, sei es gestern, sei es heute oder auch morgen.

3. Wasserverseuchung, Luftverpestung, Vergiftung der Umwelt, Ressourcenverschwendung, Ressourcenvernichtung, Steuerevasion, Destabilisierung und Chaos – das also ist das rationale Verhalten vom Standpunkt der Akteure des bürgerlichen Systems. Vom Standpunkt der Gesellschaft als solcher hingegen stellt sich genau dasselbe Verhalten als völlig vernunftbefreit dar.

In der Tat, es kommt immer auf den Blickpunkt an, von dem aus man die Dinge betrachtet, wenn es darum zu tun ist, eine Praxis als rational oder irrational einzustufen. Was nämlich aus der Mikroperspektive des Privaten als rational, als völlig vernünftig erscheint, ist es aus der Makroperspektive der Gesellschaft mitnichten.

Überhaupt ist es so – das sei nur nebenbei bemerkt –, dass Idioten in ihrer Borniertheit, was das bornierte Verhalten betrifft, durchaus rational operieren, so dass sie oftmals den Eindruck vermitteln, eben keine Idioten zu sein, obgleich sie es zweifellos sind, wenn man Massstäbe anlegt, die nicht ihrem bornierten Gesichtskreis entstammen.

4. Vernunft wird zur Unvernunft, je nach dem Blickpunkt. Oder anders gesagt: Ist der Gesichtskreis borniert, so ist die Vernunft limitiert, und limitierte Vernunft (die Beschränktheit schlechthin), ist, von einer höheren Sichtwarte aus – aus einem Blickwinkel, der es erlaubt, die Zusammenhänge zu sehen –, Unvernunft auf höchstem Niveau.

Ist der Profit, die Maximierung des Tauschwerts, die raison d'être der Praxis, dann ist alles vernünftig, was diesem Zweck dient; geht es dagegen um den Gebrauchswert, um den Stoffwechsel mit der Natur, um die Gesellschaft, telle quelle, dann allerdings erweist sich die kapitalistische Praxis als Ausbund irrationalen Verhaltens, weil bar jeden Gedankens, der über den Kirchturmhorizont der Profitmaximierung, mithin über das Ego des ewigen Präsens der kapitalistischen Praxis hinausweist.

Dass der Standpunkt der Geschichte (der Vor-, Mit- und der Nachwelt) und nicht der des Privaten, des Hier und des Jetzt, der adäquate ist, das allerdings kann nur insofern begründet werden, als die bornierte Praxis Resultate hervorbringt, die, à la longue wenigstens, der Intention der Akteure konträr sind und, schlimmer noch, das, was unmittelbar erreicht worden ist, meistens am Ende zu allem Überfluss noch konterkarieren.

Die bürgerliche Praxis von heute, um beim Thema zu bleiben, führt genau dadurch sich selbst ad absurdum, dass sie die Lebensgrundlagen der Gesellschaft als solcher in ihrer Substanz untergräbt und deswegen, was sich von selber versteht, auf lange Sicht auch die Basis, auf welcher jedwedes private Verhalten und damit auch die kapitalistische Praxis beruht.

5. Es ist ein Glücksumstand für das bürgerliche System, dass es im Mikrobereich rational operiert. Denn insofern dies so ist, fällt es nicht schwer, sich darin zu täuschen, dass dies auch im Makrobereich nicht anders sein kann, womit dann auch jeder Gedanke, das System abzulösen, schlicht undenkbar wird.

Schlimmer aber noch ist: Insofern nämlich das irrationale Verhalten, das die Praxis der Bourgeoisie im Makrobereich zweifelsfrei ist, sich dem „kritischen Geist“ als rational präsentiert und dieser daher nicht verfehlt, die Rationalität höchstselbst anzugreifen, wird zugleich das Instrument denunziert, welches allein der Absurdität des Systems ein Ende zu setzen vermöchte – die rationale Überlegung, deren Blickpunkt der der Geschichte ist: des Gesamtzusammenhangs in allen seinen Dimensionen, synchron und diachron, strukturell und historisch.

So erweist sich, dass, wer die Vernunft attackiert, genau denen Vorschub leistet, die darauf angewiesen sind, dass das System eben nicht adäquat hinterfragt wird – dass man es nicht schonungslos demaskiert. Dazu ist, wie so oft, nur zu sagen: Gut gemeint vielleicht, fatal jedoch in seinen Konsequenzen.

Emmerich Nyikos
streifzuege.org