Geschlechtsspezifische Fluchtgründe anerkennen! Feminist Asylum

Gesellschaft

Zum Internationalen Frauenkampftag 8. März 2022 fordert das Europäisches Bündnis „Feminist Asylum“ die bedingungslose Anerkennung geschlechtsspezifischer Fluchtgründe.

Für eine konsequente Anerkennung von geschlechtsspezifischen Fluchtgründen.
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Für eine konsequente Anerkennung von geschlechtsspezifischen Fluchtgründen. Foto: Feminist Asylum

8. März 2022
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Seit Februar 2018 ist die „Istanbul-Konvention“ (IK) in Deutschland als Gesetz „zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ in Kraft. Die Umsetzung des Gesetzes soll ohne Diskriminierung erfolgen, „insbesondere wegen des biologischen oder sozialen Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, der sexuellen Ausrichtung, der Geschlechtsidentität, des Alters, des Gesundheitszustands, einer Behinderung, des Familienstands, des Migranten- oder Flüchtlingsstatus oder des sonstigen Status“ (Art. 4, Abs. 3 IK).

Aber bislang steht das Gesetz nur auf dem Papier. Darum fordert das Europäische Bündnis „Feminist Asylum“ zum Internationalen Frauenkampftag 8. März 2022 die konsequente Anerkennung besonderer Fluchtgründe von Frauen und LGBTIQA+ Personen (LGBTIQA+ bedeutet: lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, intersexuell, queer, asexuell, und weitere). Das Bündnis hat eine Feministische Petition gestartet, die hier unterzeichnet werden kann: https://feministasylum.org/

Eine Europäische Feministische Petition

Die Petition richtet sich an die Organe der EU und die nationalen Regierungen des Schengen-Raums. Ihre Forderungen sind:
  • Das Recht auf internationalen Schutz durch die konsequente Anerkennung spezifischer Asylgründe für Frauen, Mädchen und LGBTIQA+ Personen zu gewährleisten.
  • Die Einrichtung einer europäischen Überwachungsstelle zur konsequenten Umsetzung des Rechts auf internationalen Schutz für Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und für geschlechtsspezifische Aufnahme- und Asylverfahren und Unterstützungshilfen (Art. 60 und 61 Istanbul-Konvention) sowie zur Einhaltung des Abkommens zur Bekämpfung von Menschenhandel (insbesondere dessen Art. 10 bis 16).
  • Den Zugang zu Asyl in EU-Mitgliedsländern für Frauen, Mädchen und LGBTIQA+ Personen zu gewährleisten.
Marianne Ebel von Feminist Asylum ist stolz auf die bisherige Reichweite der Petition: „Europaweit sind wir bereits 250 Organisationen, die sich für den konsequenten Schutz von Betroffener von patriarchaler Gewalt auf der Flucht einsetzen, darunter 29 Organisationen aus Deutschland.“ Auch Persönlichkeiten aus Kultur, Sport und Politik hätten sich der Petition angeschlossen, so zum Beispiel Sofia Bekatorou, die zweifache Olympiasiegerin und Initiatorin der #MeToo-Bewegung in Griechenland, Silvia Federici, Eric Toussaint, Jean Ziegler und andere. „Jetzt appellieren wir an die Organe der EU und an die nationalen Regierungen“ so Marianne Ebel: „Bereiten sie institutionalisierter patriarchaler Gewalt im europäischen Asylsystem ein Ende. Schützen sie Betroffene von patriarchaler Gewalt auf der Flucht konsequent!“

Wie alles begann

Marianne Ebel hat die Feministischen Petition mitinitiiert und berichtet, wie es begann: „Im September 2019 organisierte Marche Mondiale des Femmes (MMF) in Genf ein dreitägiges europäisches Treffen ‚Frauen – Migration – Zuflucht', um die besonderen Bedürfnisse von Migrantinnen zu definieren und mit dem Aufbau eines europäischen Netzwerks zu beginnen.“ Bei dem Treffen entstand die Idee einer feministischen Grenzbesetzung. Sie sollte gleichzeitig in Südfrankreich in Ventimiglia-Menton und in Zentralamerika in Honduras/El Salvador stattfinden, am 17. Oktober 2020 anlässlich des Abschlusses der 5. transnationalen Aktion der MMF. Dann kam die Pandemie. „Wir suchten nach Alternativen“ sagt Marianne Ebel, „behielten aber den Willen bei, so bald wie möglich symbolisch die Grenzen zu besetzen. Wir gründeten ‚Toutes Aux Frontières' mit Pilar Senek, die aus der Türkei geflohen war, und dank ‚Zoom' und unserer gemeinsamen Entschlossenheit gelang es uns, am 5. Juni 2021 eine beeindruckende Demonstration in Nizza zu organisieren.“

In Nizza marschierten, sangen und tanzten 8.000 Frauen fünf Stunden lang durch die Strassen der Stadt. Marianne Ebel: „In Nizza werden alle Entscheidungen über die Grenze Menton-Ventimiglia getroffen. Ich hatte das Glück dabei zu sein, mit anderen Delegierten aus mehreren europäischen Ländern, es war unglaublich, mitten in der Pandemie! Anlässlich dieser Demonstration haben wir die Idee der Europäischen Feministischen Petition veröffentlicht.“ Und sie betont: „Diese Petition für die effektive Anerkennung der besonderen Asylgründe von Frauen, Mädchen und LGBTIQA+ Personen kommt ‚von unten', von Frauen, die für ihr Recht auf Asyl kämpfen und von Frauen wie mir, die sich mit den Prekärsten und Bedrohtesten unter uns solidarisieren.“

Die Istanbul Konvention: „Bislang nur eine Sammlung toter Buchstaben“

Marianne Ebel führt weiter aus: „Wir wissen es alle, die Istanbul-Konvention wurde von der Mehrzahl der europäischen Länder und von den Regierungen des Schengen-Raums ratifiziert. Frauen, die Gewalt erlitten haben, haben einen Rechtsanspruch auf internationalen Schutz. Doch bislang ist dieses Recht nur eine Sammlung toter Buchstaben. Das ist unannehmbar. Unsere Petition soll helfen, diesen Zustand zu ändern.“

Die Istanbul Konvention wurde als Übereinkunft des Europarats am 11. Mai 2011 unterzeichnet. Zur Überprüfung ihrer Umsetzung wurde eine „Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence (GREVIO) eingesetzt. Nachdem die Konvention in Deutschland im Februar 2018 Gesetzeskraft erlangt hatte, berichtete die Bundesregierung im September 2020 an GREVIO über die Situation in Deutschland. Ergänzend verfassten PRO ASYL, einige Flüchtlingsräte und die Universität Göttingen im Juli 2021 einen Schattenbericht „Zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in Bezug auf geflüchtete Frauen und Mädchen in Deutschland“.

Sie stellten fest: „Es wird sichtbar, dass das Asyl- und Aufenthaltsrecht an vielen Stellen in einem eklatanten Widerspruch zum Gewaltschutz steht. Es besteht umfangreicher Handlungsbedarf.“ Die geschlechtsspezifische Gewalt, die Geflüchtete in ihren Herkunftsländern erfahren, geht nicht nur auf der Flucht weiter, sondern auch in Deutschland. Frauen, Mädchen und LGBTIQA+-Personen sind bei der Unterbringung in Sammelunterkünften von Gewalt bedroht, im Asylverfahren werden ihre Fluchtgründe oft nicht mit ausreichender Sensibilität erfragt, sie bekommen keine bedarfsgerechte medizinische Versorgung und keine angemessene Beratung und Unterstützung.

„Sie wollen angstfrei, selbstbestimmt, informiert, geschützt sein“

„Das deutsche Asylsystem ist so aufgebaut, dass Frauen und LGBTIQA+ Personen ununterbrochen unter immensen Druck stehen und sich oft ohne Sicherheitsgefühl durchkämpfen müssen. Für einige von uns kann dieser Zustand mehrere Jahre andauern“, erklärt Aigün Hirsch vom niedersächsischen Flüchtlingsrat. Sie hat sowohl aus der Referent*innenperspektive als auch durch ihre persönliche Fluchterfahrung Expertise gesammelt.

„Der Kampf endet nicht mit einem sicheren Aufenthaltstitel“, so Aigün Hirsch. „Vielmehr können wir uns ab diesem Zeitpunkt dem manchmal weniger überlebenswichtigen, dennoch lebenswichtigen Kampf gegen erlebte sexistische Diskriminierung und Gewalt nicht mehr entziehen. Aus meiner Beratungsarbeit mit Schutzsuchenden versuche ich hier die Stimmen der Frauen und LGBTIQA+ Angehörigen einzubringen. Sie wollen angstfrei, selbstbestimmt, informiert, geschützt vor rassistischer und geschlechtsspezifischer Gewalt sein; respektiert, gehört und gesehen werden, auf allen Etappen des Asylverfahrens und danach, sowie in ihrem alltäglichen Leben.“

Eine auf die Bedarfe und mögliche Einschränkungen der Schutzsuchenden abgestimmte Anhörung zu den Fluchtgründen sei eine notwendige Grundlage, um ein faires Asylverfahren zu schaffen. „Von Anfang an muss allen schutzsuchenden Frauen und LGBTIQA+ Personen menschenwürdiger Wohnraum, Privatsphäre, Zugang zu gesundheitlicher Versorgung sowie Zugang zu Bildungs- und Sprachlernmöglichkeiten, und nicht zuletzt zum Arbeitsmarkt gewährt werden. Und das unabhängig von ihrer Herkunft!“, betont Aigün Hirsch.

Ein Europäisches Feministisches Netzwerk des Widerstands

Die Petition soll am 11. Mai 2022, dem Jahrestag der Istanbul Konvention, den europäischen Institutionen übergeben werden. „Natürlich reicht es nicht aus, Unterschriften zu sammeln und sie einzureichen, damit sich etwas ändert. In der Schweiz wissen wir das nur zu gut“ sagt Marianne Ebel. „Bei uns gibt es beispielsweise seit 1981 das verfassungsmässige Recht auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit, aber ein Arbeitgeber kann dieses Recht noch heute ungestraft ignorieren. Eine Petition ist ein Instrument, das uns hilft eine Kampagne aufzubauen und uns um eine gemeinsame Aktion zu versammeln.“

Die Unterschriften sollten dazu dienen, die öffentliche Meinung zu alarmieren und eine Debatte in der gesamten Gesellschaft anzuregen, Politiker*innen aufzufordern, in den Parlamenten zu intervenieren und Druck auszuüben, damit sich die Dinge ändern. Marianne Ebel: „Am Anfang waren wir nur ein paar feministische Aktivistinnen, die sich für Migrantinnen einsetzten, insbesondere für Frauen, die Asyl beantragten. Wir waren – und sind noch immer – schockiert darüber, dass diejenigen, die in ihren Herkunftsländern misshandelt wurden, die auf dem Weg ins Exil, aber manchmal auch bei ihrer Ankunft in Europa vergewaltigt wurden, ohne Versorgung und ohne Rechte bleiben und in ein anderes Land zurückgeschickt werden. Das ist nicht hinnehmbar.“

Sie ist sich sicher, dass die Aktionen des Bündnisses nicht am 11. Mai enden werden. „Der Krieg in der Ukraine verleiht unserer Petition eine hohe Aktualität“ so Marianne Ebel, „und wir brauchen jetzt Tausende von Menschen, die die Petition online unterzeichnen. Eine einfache und kleine Geste, aber von grosser Bedeutung. Sie bedeutet ‚Ja, ich stimme zu, wir müssen diese Forderungen in die Tat umsetzen'. Die Unterschrift kann aber auch der erste Schritt zu einem grösseren Engagement sein. Wer unterzeichnet, wird eingeladen, sich der Kampagne von Feminist Asylum anzuschliessen, wenn gewünscht. So wird, Schritt für Schritt, das Europäische Netzwerk des Widerstands und des Kampfes für die Rechte von Flüchtlingen und Migrantinnen gestärkt.

8. März 2022: Flucht und Asyl aus feministischer Sicht

Am 8. März um 18 Uhr beginnt eine Online-Veranstaltungsreihe der Evangelischen Akademie zu Berlin: „Flucht und Asyl aus feministischer Sicht – Geschlechtsspezifische und sexuelle Gewalt in Asylverfahren“ (Anmeldung: https://www.eaberlin.de/). Zu Beginn gibt es einen kurzen Film von Anne Frisius von Cooperativa-Film, anschliessend diskutiert Andrea Kothen von Pro Asyl, die den Schattenbericht mitverfasst hat, mit der Rechtsanwältin Barbara Wessel vom Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV). Es moderiert Victoria Lies, Podcasterin von der Refugee Law Clinic Berlin.

Es ist nicht einfach, in diesen Zeiten feministisch und antirassistisch aktiv zu sein. Das Anliegen und die Petition brauchen noch viel mehr Unterstützung und Öffentlichkeit. Darum geht Feminist Asylum am Internationalen Frauenkampftag in die Offensive. Es soll der Beginn einer grossartigen feministischen Zusammenarbeit werden – Mitstreiter*innen jeden Geschlechts sind hochwillkommen!

Hinweise

Die Petition kann hier unterzeichnet werden.

Die Pressemappe von „Feminist Asylum“ gibt es hier in mehreren Sprachen.

Transparenz: Das NETZ für Selbstverwaltung und Selbstorganisation e.V., dessen Vorstand die Autorin angehört, ist eine der unterzeichnenden Organisationen der Petition und Kooperationspartner der Veranstaltungsreihe der Evangelischen Akademie zu Berlin.

Elisabeth Voss