Das Drama der Diskurs-Hipster und der verordnete Abschied von der Volksbühne Fiktive Todesanzeige

Gesellschaft

Das Drama unserer historischen Erfahrung besteht darin, tiefere Wertschätzung, Respekt und Liebe immer häufiger nur noch im Zustand des Abschiednehmens kennen zu lernen.

Fiktive Todesanzeige: Das Drama der Diskurs-Hipster.
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Fiktive Todesanzeige: Das Drama der Diskurs-Hipster. Foto: Mario Sixtus (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

22. Oktober 2015
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Besonders anfällig dafür sind Diskurs-Hipster und eine Generation, die gelernt hat, sich über Grenzen hinweg mit allem und allen zu verbinden. Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki nimmt den von der Politik verordneten Abschied von der Volksbühne zum Ausgangspunkt für seine Überlegungen. Ein Essay:

Sie tanzen zu Bob Marleys “Get Up, Stand Up”, unterstützen die LGBT-Bewegung, gehen gegen ACTA und TTIP auf die Strasse und können sich auch für die Palästinenserfrage erwärmen. So in etwa beschrieb kürzlich ein Freund von mir die neuen Generationen der Diskurs-Hipster. Es war als Karikatur gemeint: Leute, die überall mitreden können, an allen erdenklichen Widerstands- und Befreiungsfronten mit dabei sein wollen – aber letztendendes doch nur Poser bleiben.

Schliesslich, wie soll es möglich sein, all diese unterschiedlichen Anliegen wirklich zu verstehen und zu unterstützen? Ist es nicht zuviel von allem? Ja, zu viel Welt? Wer so drauf ist, kann doch nur an der Oberfläche bleiben und allenfalls die Haltungen mimen, die zum jeweiligen Kontext passen. Aber vom ganzen Herzen dabei sein? Nein. Das ist unmöglich!

Doch ich glaube, dass dies eine unfaire Unterstellung ist. Viele, so auch mein Freund, können sich nicht vorstellen, dass wir im Kielwasser der Globalisierung und Digitalisierung etwas Neues gelernt haben. Dass wir Kompetenzen erworben haben, die es uns ermöglichen über den eigenen Tellerhand hinaus zu blicken. Dass wir uns in neuer Weise öffnen und Neugier entfalten können. Dass wir Grenzen als Schnittstellen begreifen und eben dort Empathie sowie Solidarität entwickeln können – all das in historisch präzedenzloser Form.

Das steinzeitliche Höhlen-Modell der Familie überwinden

Wir können vielleicht als Erste in der Geschichte von uns behaupten, das steinzeitliche Höhlen-Modell der Familie wahrhaft überwunden zu haben. Das heisst, wir können so etwas wie Gemeinschaft, nicht nur in der Familie, sondern über Grenzen hinweg erfahren: Ob nun über die Grenzen von Klasse, Nation, Geschlecht oder Religion. Im Zuge dessen können wir neuartige zwischenmenschliche Verbindungen und kulturelle Allianzen eingehen.

Viele, die die Globalisierung und Digitalisierung als Bereicherung empfinden, können solche Konnektor-Kompetenzen ihr eigen nennen. Also nicht nur jene nachrückenden Generationen, die generell als Projektionsfläche für Bilder des Kulturverfalls oder eben für irgendwelche Karikaturen herhalten müssen. Sondern auch viele, die wie ich auf die 50 zusteuern oder sogar schon im Rentenalter sind. Damit das alles nicht als Romantizismus abgetan wird, kommt gleich ein Aber.

Denn bei all dem Zugewinn an Horizonten und Welten machen sich auch Dilemmata bemerkbar. Beispielsweise fehlen uns Methoden oder kognitive Werkzeuge, um aus all den Anschlüssen und Bruchstücken ein grosses Ganzes zu bilden. Das Fehlen eines Big Picture macht sich immer dann besonders stark bemerkbar, wenn wir uns zwischen den einzelnen Bewegungen zu verlieren drohen. Und damit auch uns selbst. Es kann ein regelrechtes Drama spürbar werden, wenn eine Bewegung und die Communities um sie herum untergeht. Es ist das Drama einer historischen Erfahrung, die tiefere Wertschätzung, Respekt und Liebe immer häufiger nur noch im Zustand des Abschiednehmens kennt.

Wildheit, Unangepasstheit und Widerspenstigkeit

Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, wenn ich den von der Politik verordneten Abschied von der Volksbühne vor Augen habe. Das Theater ist seit 25 Jahren eine Mischung aus subkultureller Bewegung und dissidenter Community, die mit dem Mauerfall entstand und massgeblich mit ihrem post-heroischen Intendanten Frank Castorf assoziiert wird. Es ist ein anarchisch-ekklektischer Ort von magnetischer Anziehungskraft – speziell für Diskurs-Hipster und Grenzgänger sowie Freidenker jeder Art. Ein Ort, der mitten in der neu entstehenden Hauptstadt gegen fast alle Regeln der Repräsentationskultur gewagt hat, so etwas wie Wildheit, Dissidenz und Unangepasstheit, aber auch “Widerspenstigkeit” (Paoli) zu kultivieren – in kritischer Auseinandersetzung mit den ideologischen sowie parteipolitischen Zwängen des Kommunismus und dem ganzheitlichen Anspruch des Kapitalismus.

Nun heisst es also Abschiednehmen. Erzwungenermassen. Startschuss für den Umbau des Hauses ist der Sommer 2017. Ich fühle mich in meiner “Konnektor”-Haut wie jemand, der etwas verpasst hat. Der zu spät kommt. Weil ich immer überall dabei war, aber eben hier an dieser eminent wichtigen Stelle nicht präsent genug. Kann man irgendwo präsent genug sein? So präsent zumindest, dass man im Moment des Abschiednehmens sich vom Selbstvorwurf der Abwesenheit befreien kann? Vermutlich ist dieses Genug nicht möglich, wenn man die Hegelsche “Unendlichkeit” von Wertschätzung, Respekt und Liebe zum Massstab macht.

Dabei steigert der besagte Konnektor-Hang den Schmerz, weil man sich auch beim Abschiednehmen um weitere und tiefere Verbindungen in alle erdenklichen Richtungen müht – ein inneres Streben, das einen eigentlich nur überfordern kann. Und so fühle ich mich in diesem Augenblick wie Tim Renner sich fühlen müsste. Also so schlecht und unzulänglich wie jemand, der mit einem Komplex konfrontiert wird, der eigentlich nicht sein Steckenpferd ist. Internet, Musik und Kultur im Allgemeinen: Ja. Aber Theater? Also das, was die Volksbühne neben all den interessanten Dingen in dem vergangenen Vierteljahrhundert in erster Linie und in besonderem Masse zelebriert hat: Von Theater habe ich trotz zahlreicher begeisternder Premierenbesuche ehrlich gesagt nicht allzu viel Ahnung.

“West” als Betriebssystem für das gesamte Land

Nun habe ich in den Zeitungen gelesen, dass sich Tim Renner in seiner Eigenschaft als Staatsekretär für Kultur beraten liess, als es um die Zukunft der Volksbühne ging und er vor ungefähr diesen Fragen stand: “Soll ich den Castorf weitermachen lassen? Soll ich mit ihm über eine Nachfolge reden? Oder soll ich einfach einen neuen Intendanten berufen und damit einen Startschuss für einen Neubeginn in Berlin setzen?”

Beratung, so schön das klingt, ist kein Allheilmittel. Deshalb geht es auch nicht darum, ob es nun die richtigen oder falschen Leute waren, die Renner beraten haben. Zuallerst hätte er die Neuordnung des Theaters transparent gestalten sollen – also eine Findungskomission einsetzen sollen, dessen Besetzung, Kriterien und Prozesse öffentlich nachvollziehbar und rechenschaftspflichtig sind.

Das ist freilich das demokratische Ideal, das wir uns nicht nur in der Kulturpolitik, sondern in der Politik im Allgemeinen wünschen. Im Falle der Volksbühne stimmt sein Nicht-in-Kraft-treten besonders nachdenklich. Schliesslich hatten viele Prozesse, die nach dem Mauerfall ihren Lauf nahmen, nicht nur einen intransparenten und undemokratischen, sondern zu allem Überfluss auch noch einen kolonialen Anstrich. Insbesondere dann, wenn im Zuge der Wende “West” als Betriebssystem für das gesamte Land installiert wurde, ohne Respekt für das, was im vermeintlichen Niemandsland so los war – etwa an den Schnittstellen von Ost und West und an den Orten der Vermischung.

Ein “völlig eigenes Theater erschaffen”

Die Volksbühne war von Anfang so ein Ort – genau genommen ein Bastard. Schliesslich konnten weder Ost, noch West die Elternschaft bestätigen. Hier entsteht 1991 etwas völlig Neues und in vielerlei Hinsicht auch etwas absolut Modellhaftes für das gesamte Deutschland: Ein Bild der Nation, das aus einer heftigen Reibung mit der Geschichte beider Deutschlanderfahrungen entsteht und das eine Grundlage für etwas Darüberhinausweisendes bildet. Das war damals einzigartig. Und das ist es auch heute noch in einem Land, in dem um Kanzlerin Angela Merkel ein Kult der Fehlervermeidung gedeiht – derweil Selbsterkundungen im Zeichen des Nationalen sich in gefährlich bequemen Gemeinplätzen suhlen.

Als der Staatssekretär für Kultur Tim Renner eine Neuordnung der Volksbühne verordnete, hatte er ein neues Berlin vor Augen – vermutlich auch eines, das den Kult der Fehlervermeidung hinter sich lässt. Eines, das neu aufblüht, indem es Risiken eingeht und Scheitern als Chance begreift. Hat Renner nicht gewusst, dass Scheitern als Chance in der Volksbühne als Motto des kreativen Schaffens kultiviert wird? Hat er sich aus diesem Unwissen heraus womöglich den falschen Ort für die Verwirklichung seiner Vision ausgesucht? Einiges deutet darauf hin. Doch die eigentlichen Ursachen scheinen in einer weitgehend fehlgeschlagenen Kommunikation zu liegen.

Denn noch im Jahr 2014 soll es einen Dialog zwischen Frank Castorf und Tim Renner über die Zukunft des Theaters gegeben haben. Dessen Gegenstand war die Übergabe der Volksbühne an einen Nachfolger, sowie der Zeitpunkt der Übergabe und das Konzept für die “Vererbung”. Klingt irgendwie logisch: Castorf hat im Zuge seiner kreativen Theaterarbeit eine eigene Schule begründet. Er hat, wie ein mit mir befreundeter Theatermacher sagt, ein “völlig eigenes Theater erschaffen”, was beispielsweise analog zu der Rolle von Stanley Kubrick oder Andrei Tarkowski in der Filmgeschichte zu deuten wäre, von denen es heisst, sie haben mit ihrem Kino ein eigenes Genre kreiert.

Halb inspiriert, halb indigniert, halb informiert, halb kritisch

Soll man so eine Schule, die zwischen Kanada und China bekannt und geschätzt ist, einfach so in die Tonne treten? Der Ansatz, den der Intendant der Volksbühne und der Staatsekretär für Kultur vor einem Jahr noch verfolgten, hört sich vernünftig an: Castorf, der das Haus ein Vierteljahrhundert lang geprägt hat, ist dabei, wenn seine Nachfolge besprochen und beschlossen wird.

Doch dann flatterte im Frühjahr 2015 ein Brief der Senatsverwaltung ins Haus: Frank Castorf geht 2017, Chris Dercon kommt. Basta. Keine Transparenz. Keine Beteiligung. Keine Kriterien für diese Entscheidung werden bekannt, keine Details über die Zukunftspläne des neu designierten Intendanten. Nichts über das Programm. Nichts über den Erhalt der über 200 Arbeitsplätze und die Weiterführung der bühneneigenen Werkstätten.

Die Presse reagiert wie üblich: halb inspiriert, halb indigniert, halb informiert, halb kritisch. Im Kielwasser der lauwarmen Berichterstattung, die sich häufig mit Äusserlichkeiten beschäftigt, startet eine durch die Zuschauerin Cordula Giese-Kache initiierte Unterschriftenaktion. Sie trägt rund 4.000 Unterschriften zusammen, die sich gegen Form und Inhalt des Intendantenwechsels aussprechen. Frank Castorf derweil schweigt. Seine Form des Protests ist es, die Kunst sprechen zu lassen.

Anarchistisch-retro-futuristischer Look

Doch dann kommt der nächste Schock. In der Sommerpause stirbt für alle völlig unerwartet Bert Neumann. Er hat als Bühnenbildner das Haus massgeblich geprägt. Alle Poster, Schriftszüge, Skulpturen, alles was in irgendeinerweise mit dem anarchistisch-retro-futuristischen Volksbühnen-Look in Verbindung zu bringen ist – all das stammt aus Bert Neumanns Labor. Sein Einfluss auf Frank Castorf aber auch auf Regisseure wie René Pollesch ist unermesslich, ebenso wie auf die visuelle Kultur in Deutschland und darüber hinaus. Der Verlust dieses einzigartigen Künstlers wiegt schwer. Wir müssen uns sein Werk jetzt retrospektiv erschliessen.

Es ist ein erzwungener Abschied innerhalb eines verordneten Abschieds. Ein Drama, das seinesgleichen sucht. Nur durch diesen Filter kann ich den Satz des Dramaturgen Carl Hegemann verstehen, den er in seinem Nachruf für die FAZ an den Schluss gestellt hat: “Mit Bert Neumann ist die Volksbühne schon zwei Jahre vor ihrem von der Politik verfügten Ende gestorben.” Zugegeben, dieser Satz hat mich zunächst irritiert und auch verärgert. Was soll es schliesslich heissen, dass ein Ort, eine Community, eine Bewegung, die noch rund zwei Jahre weitermachen wird, schon jetzt tot ist?

Ein makaberer Scherz? Ein pathetisches, wütendes Auf-den-Tisch-hauen? Doch mit ein wenig Abstand kann ich diesen Satz jetzt auch anders lesen. Als ironisch gebrochenen Appell zur Auseinandersetzung und zum Dialog – adressiert an eine Öffentlichkeit, die erst nach dem Tod und nach einer Flut von Nachrufen anfängt, einem Gegenstand das nötige Mass an Wertschätzung, Respekt und Liebe entgegenzubringen.

Wann handeln wir?

Wir, die mit Konnektor-Kompetenzen ausgestattet sind und Tim Renner, der es bislang nicht geschafft hat, eine eigene Perspektive zum Stellenwert der Volksbühne unter Castorf zu präsentieren – wir müssen uns die folgenden Fragen stellen: Wann beginnen wir uns mit der spezifischen Geschichte dieses Theaters und seiner besonderen Position auseinanderzusetzen? Wann beginnen wir einen Dialog mit den Leuten vor Ort und ihrer künstlerisch-politischen Arbeit einzugehen?

Tun wir das jetzt, da wir Hegemanns “fiktive Todesanzeige” als Appell und Startschuss begreifen? Oder erst Sommer 2017, wenn es wirklich zu spät ist? Handeln wir heute schon, können wir nicht nur in überraschender Weise Einfluss auf den Lauf der Dinge nehmen. Sondern auch das Dilemma unserer historischen Erfahrung überwinden, immer nur dann an einem Ort verweilen zu wollen, wenn der Zug bereits abgefahren ist. Doch doch, es ist möglich, wir können mehr als Diskurs-Hipster sein.

Krystian Woznicki
berlinergazette.de

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