Im Schatten der Finanzindustrie Hacker vs. Banker

Digital

Das Establishment der Banken hat einen unberechenbaren Gegner: Virology, ein Verein zur Förderung der barrierefreien Internet- kommunikation.

Hacker vs. Banker: Im Schatten der Finanzindustrie.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Hacker vs. Banker: Im Schatten der Finanzindustrie. Foto: Mario Sixtus (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

13. Juni 2012
0
0
23 min.
Drucken
Korrektur
Die Hacker, die hier das Sagen haben, arbeiten im Schatten der globalen Finanzindustrie. Sie wollen etwas bewegen – und sei es nur die Stellschraube der sozialen Ungerechtigkeit. Wirtschaftsexperte und Berliner Gazette-Autor Lothar Lochmaier mischt Fakt und Fiktion:

Bertolt Brecht hat einmal sinngemäss gesagt, warum eine Bank überfallen, wenn man eine gründen kann. Erst recht nach der Finanzkrise, im grellen Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit, schien dieses Ansinnen eine Karikatur seiner selbst. Das Leitmotiv hing bei Virology in der Grösse eines Posters direkt zwischen den beiden Fensterflügeln im Altbau. Noch reizvoller als eine Bank zu überfallen, war es Mitglied in einer besonderen Aktivistengruppe zu sein, die sich erdreistete, den Grossen in Wirtschaft und Politik auf Augenhöhe gegenüber zu treten.

Es handelte sich um ein Dutzend junger Männer und zwei Frauen, die sich regelmässig in diesem verruchten, wenig einladenden Berliner Hinterhof trafen. Der miefige Standort in dem von Massenmedien zur Problemzone deklarierten Bezirk Neukölln wurde von Touristen oder Geschäftsleuten gerne gemieden, ausser wenn diese ihr Nachtquartier gerade in einem nahe gelegenen grossen Tagungshotel aufgeschlagen hatten, das sich inmitten dieses unwirtlichen Kiezes befand. Offiziell war das nicht ganz legale Treiben von Virology als Verein zur Förderung der barrierefreien Internetkommunikation e.V. deklariert.

Mit einer Hacker-Aktivistengruppe früherer Generationen hatte dies freilich nur wenig zu tun. Zwar gehörte es zum guten Ton, zwischen Hacker und Cracker zu unterscheiden. Letzt genannte, die aus der reinen Profitgier handelten, wurden von den Virologen geächtet. Man hielt sich stattdessen an den üblichen Ehrenkodex, bei dem es jedem Mitglied zur Ehre gereichen sollte, eine ausgenutzte Schwachstelle oder Lücke in einer mangelhaften Software den betroffenen Unternehmen oder Behörden sofort zu melden.

Es war politisch korrekt, daran zu glauben, dass sie zuerst die Chance erhalten sollten, ihre Schlupflöcher zu stopfen, noch bevor richtige Kriminelle dort ihr Unwesen treiben konnten. Doch seit der Finanzkrise war gerade den Neuankömmlingen in der Gruppe klar geworden, man könnte doch auch globalen Konzernen mit kreativen Mitteln einheizen, die sich keinen Deut um Umwelt oder Arbeitsplätze scherten.

Im Fachjargon bezeichneten Experten diese Kulturtechnik als Social Engineering. Im übertragenen Sinne bedeutete dies für Virology so etwas, als mit blosser Hand gegen das subjektiv als ungerecht empfundene Establishment vorzugehen, das mit grossen Kanonen auf die Spatzen zielte.

Das Feindbild, das sich die Virologen zu Recht gelegt hatten, war so gestrickt, dass man sich klar machte, dass die berechtigten Anliegen der kommenden Generation bei den derzeitigen Eliten keine Rolle spielte. Dazu waren sie zu selbstverliebt, sie bemerkten noch nicht einmal, dass da draussen im weit verzweigten Netz jemand seine Stimme gegen sie erhob. Und das schloss natürlich ein, nicht jede entdeckte Sicherheitslücke gleich brav an die willfährigen Staatsorgane der Eliten oder direkt an die Konzerne zu melden, in deren Netzwerke man nachts eingedrungen war, wenn der Apparat auf Hochtouren lief. Manche Virologen waren trotzdem in der Zwickmühle, denn sie schielten neben dem Hackerruhm auf lukrative Berateraufträge. Schliesslich hatte auch ein kreativer Hacker seine Brötchen irgendwie zu schmieren.

„Viroloy goes luna“

Einige Aktivisten unterfütterten ihr idealistisches Weltbild, in Abgrenzung zum gefrässigen Treiben auf der Erde, freilich mit der Aura von Weltraumpionieren. Vielleicht war es auch nur eine schöne Idee, in die man sich verliebte. Man träumte von eigenen Nachrichtensatelliten, die sich zu einem intergalaktischen Hackernetzwerk verbanden. Man malte, gestärkt durch die Texte russischer Science Fiction Helden, die Vision einer eigenen Mondlandung an die Wand. Virology goes luna, was für ein Poster an der Wand. Ein kleiner Schritt für uns, ein grosser für die Menschheit.

Dann würde ein Satellitennetzwerk um die Erde kreisen, das die Vision eines freien demokratisch organisierten Internets verbreitete. Und die Hackergemeinde aus aller Welt, sie waren die Macher dieser utopistischen Vision. Nichts schien in der Phantasie unmöglich zu sein, wenn die Menschheit damit begänne, ihr Geld und Wissen in vernünftige Dinge zu investieren, statt Massenvernichtungswaffen und umweltfeindliche Technologien zum Schaden Vieler zu konstruieren.

Im Zeitalter der dezentralen Kommunikationseinheiten durfte man davon träumen, eine eigene Insel der Glückseligkeit auf diesem dekadenten Planeten zu erschaffen. Manche Erdenbewohner hatten demgegenüber ziemlich handfeste Probleme, jenseits von Zensur oder staatlicher Überwachung der Datenkommunikation. Denn der tägliche Überlebenskampf für die Mehrzahl der Menschen drehte sich seit Jahrhunderten nur um sauberes Wasser, ausreichend Nahrung und ein bewohnbares Dach über dem Kopf, einen Zusammenhang, den die verschrobenen Phantasien der intergalaktischen Sternendemokraten geflissentlich ausblendeten.

Dabei gab es auch hier unten genug Herausforderungen. Die hinter verschlossenen Vereinstüren geäusserten operativen Ziele von Virology waren bereits konkret fixiert. Ins Visier rückte dabei das Establishment der Banken, das man ebenso in Frage stellte wie den militärisch-industriellen Machtkomplex, die Pharmaindustrie oder die grossen Energiemonopole, die ausschliesslich um ihren eigenen Profit besorgt waren. Die Festungen der übermässig vom Schicksal Privilegierten, so die allgemeine Stimmungslage, sie seien mit kreativen Mitteln anzugreifen.

Die Virologen empfanden, dass sie in der grossen Vertrauenskrise gegenüber einem als ungerecht empfundenen Kapitalismus nicht untätig bleiben durften. Es waren junge Männer und Frauen mit einer klaren Mission. Es war Zeit, etwas gegen das graue Establishment zu unternehmen. Wenn sich die Schwarmintelligenz der Vielen nur ernsthaft zusammen täte, dann könnte die Peanuts-Ökonomie trotz ungleicher Waffen die Oberhand gewinnen, sofern sie die Grossen mit ihren eigenen Mitteln aushebelte.

Der Klassenkampf hatte sich direkt ins Netz verlagert. Das Selbstverständnis im Umgang mit dem Geld war ebenso in Frage gestellt wie dasjenige der Banker. Wie der kreative Umsturz des Bestehenden genau vonstatten gehen sollte, das blieb freilich etwas nebulös. Aber die Virologen fassten sich wenigstens ein Herz. Denn den anderen da draussen war das akkurat sitzende Businesshemd sowieso viel zu tief in die Hose gerutscht, weil sie sich nichts zutrauten oder zu bequem waren, irgend etwas an den Verhältnissen zu ändern. Die meisten begnügten sich damit, ihre latente Unzufriedenheit gegenüber den Banken mit einem lästigen Achselzucken zu artikulieren. Alle schienen zu akzeptieren, dass das bis zur Besinnungslosigkeit geschulte Finanzabverkaufspersonal die Masse in ihr selbst geschaufeltes Grab hinein trieb.

Zwanzig Quadtratmeter für Hacktivisten

Aber auch der Begriff Hacker war zweifellos in die Jahre gekommen und taugte kaum mehr als prägnantes Unterscheidungsmerkmal. Das illegale Eindringen in fremde Computersysteme war ein soziales Klischee, ein billiger Abklatsch, hinter dessen Fassade sich reichlich unterschiedliche Gruppierungen versammelten.

Die geistigen Grenzziehungen verliefen auf der einen Seite zwischen billigen Nachahmern und Script-Kiddies. Im Zentrum der Szenerie befand die um mediale Aufmerksamkeit buhlende Schar von politischen Hacktivisten, deren genaue Zusammensetzung freilich ein buntes Völkchen darstellte. Und auf der anderen Seite gab es die professionellen Hacker mit klaren Grundsätzen und Zielen. Was unabhängig davon in der Szene am äusseren Rand heute mehr denn je als jede private Ruhmestat zählte, war es, etwas zu bewirken mit jeder durchgeführten Aktion. Eine erfolgreiche Begehung des Tatorts bestand darin, der Gesellschaft eine zukunftsweisende Denksportaufgabe zu geben.

Insofern arbeitete sich eine neue, auf den ersten Blick undogmatisch auftretende Generation, allmählich an die Neudefinition eines computerbasierten Gemeinschaftsmodells im Netz heran. Wobei jeder der bunt zusammen gewürfelten Virologen darunter vermutlich etwas anderes verstand, was dem Ganzen den Anstrich eines vielstimmigen Chors verlieh. Kurzum, es gab Anarchisten, Sozialisten, Utopisten und paramilitärisch gedrillte Operationalisten. Sie alle mussten irgendwie miteinander klar kommen, in dem engen, abgehalfterten Kabuff, das gerade einmal zwanzig Quadratmeter gross war. Eine um die Sauberkeit bemühte Putzfrau hätte bei diesem Anblick vermutlich sofort das Weite gesucht oder die Ärmel hoch gekrempelt.

Als das Vereinsmitglied mit dem Decknamen Vibr13ator37 den schmuddeligen Hinterhof betrat, in dem es gewöhnlich nach verfaultem Fastfood roch, zog sich die Sonne gerade in ihr nächtliches Ruhekissen zurück. Es war das Startsignal für den Erkundungstrip in intergalaktische Planetensysteme, wie das Eindringen in Firmennetzwerke bei Virology elegant umschrieben wurde.

Mit dem Rauchverbot war es hier so eine Sache. Man hatte es heiss diskutiert, es waren immerhin eine Handvoll Nichtraucher in der Gruppe vertreten. Aber mit den basisdemokratisch auferlegten Regeln haperte es an der einen oder anderen Stelle. Und so kamen die gesundheitsbewussten Nichtraucher nicht darum herum, zwischen dem ausgiebigen Nachtflug durch die Sternenstrasse gelegentlich die Fenster zur Frischluftzufuhr aufzureissen, selbst bei dicken Minusgraden im Winter. So blieb es allen erspart, eine langatmige Grundsatzdebatte ins Horn zu stossen. Die war jetzt sowieso nicht mehr notwendig, denn es war Anfang Juni und da standen die Türen zur nächsten intergalaktischen Sternenmission weit offen.

Einer der Virologen hatte eine heisse Fährte aufgenommen. Nimm die Hintertüre, wo dich keiner sieht, lautete die Devise beim Eindringen in ein betriebliches Netzwerk. Greife dort an, wo die Abwehrreihen es am wenigsten erwarten.

Die Umsetzung dieser schlauen Bauernregel war allerdings kein Selbstläufer. Man brauchte als virtuelle Kavallerie trotz der allerorts im Netz bereits verfügbaren Standardbaukästen schon ein gewisses Geschick und Fachwissen, wollte man sich Zugang zu den Daten in einem gut abgesicherten Unternehmen verschaffen. Geduld und Standfestigkeit waren die Voraussetzungen, um als Hacker erfolgreich zu sein. Auf der anderen Seite war die klischeehafte Schilderung in den Massenmedien masslos übertrieben, die den Hackern eine Aura von genialen Computerkindern andichtete.

Frauenquote 2.0: Die Hackse

Die meisten Angriffswerkzeuge waren alles andere als etwas Besonderes. Es waren Produkte einer durchschnittlichen Programmierleistung. Die Baukästen beschränkten sich meist darauf, durch automatisches Abtasten nach Schwachstellen in schlecht konfigurierten und mangelhaft gewarteten Systemen zu fahnden. Und die gab es reichlich. Wer sich hingegen über längere Zeit als Spion unbemerkt in einem Netzwerk tummelte, um Daten von dort abzusaugen oder zu manipulieren, der brauchte schon mehr Können, als ein Standardtyp mit ein paar Taschenspielertricks.

Mittlerweile schauten in der Gruppe ab und an zwei bis drei Hacksen vorbei. Gemeint damit waren weibliche Hacker, die sich erfolgreich in dieser Männerdomäne einnisten wollten. Für die Virologen schien mittlerweile vieles überholt, auch das Image der weltabgewandten Nerds, die nach dem gängigen Zerrbild allesamt so aussahen, als stellte soziale Kompetenz für sie ein Buch mit sieben Siegeln dar. Man war im Prinzip durchaus fähig, mit anderen Menschen normal und vernünftig zu reden, sofern man Lust dazu hatte.

Eine dieser neuen weiblichen Frischlinge war wingqueen, die Flügelkönigin. Sie beherrschte jenseits der gängigen Hackerbaukästen bereits das ganze Waffenarsenal an technischen Bauelementen, von Sicherheitslücken wie dem Buffer-Overflow in der Software, bis hin zum Design von Stealth Viren, die sich tief ins Computersystem einfrassen und dort völlig unerkannt ihr Unwesen trieben. Ganz nebenbei studierte sie noch Informatik, vorausgesetzt sie hatte ein bisschen Zeit für langweilige Uni-Seminare.

Denn sie hasste nichts mehr als den Bückling vor den allmächtigen Uniprofessoren zu machen, oder den ausufernden Small Talk mit angepassten Kommilitonen einzugehen. Den politisch korrekten aber geflügelten Begriff Kommilitoninnen nahm sie erst recht nicht in den Mund. Es erschien ihr sinnlos, mit rhetorischen Nebenschauplätzen bei der akribischen Gender-Rechthaberei kostbare Zeit zu verschwenden. Viel lieber tummelte sie sich auf der Hauptstrasse, der Datenautobahn.

Was die Flügelkönigin an der Akademie überhaupt noch reizte, war die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit professionellen Werkzeugen zur Code-Analyse bei Softwareanwendungen für das Internet. Der Grat zwischen Sicherheits- und Hackertool war wie bei einem löchrigen Schweizer Käse ausgesprochen schmal. Das schien ihr die ideale Voraussetzung dafür zu sein, um wirklich zu verstehen, was sich da draussen in der Netzwelt ereignete und was Otto-Normalverbraucher nur als die dröge Mattscheibe wahrnahm, die nur zu funktionieren hatte. Keiner da draussen sezierte wie sie die Spielregeln im Netz.

Der User war ein mit Null-Intelligenz ausgestattetes treudoofes Interface. Die Surfer auf der dümmsten Welle waren eben ohne Sinn und Verstand. Es handelte sich um „Bunti-Klickis“, die das Internet so unkreativ behandelten wie ihren Zweitfernseher, in den sie täglich völlig apathisch bis zum bitteren Sendeschluss hinein starrten.

»Es sind mal wieder jede Menge Idioten unterwegs, nur das übliche Grundrauschen,« rief die Flügelkönigin leicht unterkühlt den anderen zu. Aus der Weite des Raumes rührte sich wenig, ausser einem Kopfnicken und Rascheln. Nach einer andächtigen Kunstpause ergriff Vibr13ator37 das Wort und gab per Mausklick eine neue Losung aus, die für den Rest der Nacht Bestand haben sollte. »Ich hätte da eine interessante Einflugschneise.« Die stoischen Blicke der anderen auf ihre Monitore richteten sich plötzlich nach oben.

Zurzeit standen diverse, weltweit organisierte Hacker-Gruppen in den Startlöchern, um nach frischem Ruhm in der einschlägigen Szene Ausschau zu halten. Mit den freiheitlichen Zielen, die ob ihres naiven humanistischen Weltbilds manchmal ziemlich blauäugig daher kamen, hatten diese Protagonisten wenig gemein. Aber der gemeinsame Nenner war zumindest der Grundgedanke des freien Meinungsaustausches, also vollständig offene Kommunikationssysteme ohne jegliche Zugangsbarrieren. Diese Kompromisslinie zumindest bestand als Treibsatz bei den bunt zusammen gewürfelten Teams der neuen Hackergeneration ohne klares gesellschaftliches Leitbild weiter fort.

Die Masse im Hamsterrad

Wo aber war nach so manch gescheiterter Revolution das globale Feindbild geblieben? Seitdem Protestbewegungen wie Occupy Wall Street existierten und sich über den Globus verbreiteten, waren die Kinder des Kapitalismus aufmüpfig geworden. Sie suchten sich scheinbar – auch ohne die Banker als gesellschaftliches Feindbild anzusehen – als Freibeuter im Netzuniversum ein lohnendes Ziel, statt sich darauf zu beschränken, wie die Masse im Hamsterrad zu funktionieren, um sich dort mit anderen um jeden kleinen Brotkrümel zu streiten. Zumindest taugte der Finanzmarktkapitalismus in seiner Turbovariante dazu, von vielen als etwas wahr genommen zu werden, das es sehr wohl zu bekämpfen galt, weil er die grimmige Fratze der um reinen Systemerhalt bemühten Eliten verkörperte.

Die Old School war zweifellos privilegiert, deren Exzesse hinderte die jüngere Intelligenzija sich zu entfalten. Das war ideologische Rechtfertigung zum Handeln genug. Im Prinzip liess sich mit dieser Begründung alles attackieren, was in den weit verzweigten Machtapparaten als Herrschaft stabilisierend empfunden wurde und die blanke Aggression der Aktivisten schürte. Besonders ins Blickfeld rückten natürlich die Infrastrukturen in Politik und bei Behörden, die für den Fortbestand des Hamsterrades unverzichtbar waren.

Aber auch die grossen Tanker in der Wirtschaft waren nicht zu verachten, allen voran die Energieversorger, die aus Sicht von Virology eine Wende zur dezentralen Strom- und Wärmeversorgung massiv behinderten, durch die kleine Piranhas neben den Haifischen im Becken ein friedliches Auskommen hätten finden können. Und wem es gar gelang, einen Rüstungskonzern oder ein ähnlich glasklares Feindbild ins Visier zu nehmen und dort unbemerkt das kleine Chaos anzustiften, der stand ganz oben in der virtuellen Ruhmeshalle, von der die Weltöffentlichkeit freilich nicht allzu viel mitbekommen sollte.

Dreamteam Energiekonzern und Pharmaindustrie

Wer etwas zu verlieren hat, der unterdrückt das Neue mit allen Mitteln, sagte sich Vibr13ator37. Dies gelte nicht nur für Diktaturen, die jeglichen Protest niederwalzten, sondern auch in den vermeintlich so liberalen und aufgeklärten Demokratien. Es existierten dreierlei Navigationssysteme oberhalb den Normen der Vernunft begabten Gesellschaft, so legte sich der junge Aktivist seine Gedankenwelt sorgfältig zurecht. Diese zeichneten sich dadurch aus, dass sie gegenüber den normalen Menschen, die täglich noch einer regulären Arbeit nachgingen, gar nicht mehr „rechenschaftspflichtig“ waren. Sprich, sie konnten tun und lassen, was sie wollten, es konnte ihnen keiner was am Zeug flicken. Und Vibr13ator37 war sich sicher: Die Schlimmsten in diesem seltsamen Triumvirat, das waren neben den Banken die Energiekonzerne und die Pharmaindustrie.

Dieses so diskret hinter den Kulissen agierende Dreamteam, so kalkulierte der Aktivist vor seinem geistigen Auge durch, brauchte sich nicht durch den Dienst am Kunden zu beweisen. Es besass das ultimative Schutzdekret eines Freibeuters. Es existierte wie von Gotteshand eingesetzt, per staatlich sanktionierter Verfassung, ganz souverän von oben herab.

In heiklen Momenten geriet Vibr13ator37 bei internen Diskussionen in Rage. Gelänge es die wirtschaftlichen Schlüsselsektoren zu demokratisieren und produktiv zu restrukturieren, die jenseits der Gesellschaft operierenden Festungsmauern einzunehmen, dann hätte die Menschheit eine kleine Chance, aus ihrem ewigen Schlamassel herauszukommen. Die trübe soziale Suppe in der Gesellschaft bestand freilich aus zwei unvereinbaren Gegensätzen.

Die einen waren Leitwölfe, die anderen Schafe, die nur hinterher trotteten, bis sie irgendwann zur Schlachtbank geführt wurden. Die beiden Extreme blieben historisch gesehen in der wohl habenden westlichen Welt nur notdürftig durch die Mittelschicht zusammen gekittet. Der soziale Interessenausgleich war kaum mehr als eine Erfindung aus der Zeit des grossen Aufbruchs in den sechziger und siebziger Jahren. Heute schien das Wirtschaftswunder des vergangenen Jahrhunderts weiter denn je von der Realität entfernt. Die breite Achse der Gesellschaft in der Mitte, sie machte es sich bequem, sie igelte sich ein und hatte dadurch wenig zu melden.

Davon war der soziale Visionär zutiefst überzeugt. Die braven Funktionsnachahmer waren entweder zu bequem oder kümmerten sich, bar jeder tieferen Moral, ausschliesslich um ihr tägliches Brot. Die Zukunft spielte kaum eine Rolle bei all dem aufgehäuften Wohlstand.

Das deutsche Volk: Eine willfährige Herde

Der junge Aktivist hatte viel gelesen und so schmökerte er gelegentlich in einem der klassischen Werke herum, etwa bei Gustave Le Bon, der sich mit der Psychologie der Massen auseinandersetzte. Die grosse Triebkraft der Völkerentwicklung sei niemals die Wahrheit gewesen, sondern der Irrtum, war dort zu lesen: Nie haben die Massen nach Wahrheit gedürstet. Von den Tatsachen, die ihnen missfallen, wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern, wenn er sie zu verführen vermag. Wer sie zu täuschen versteht, wird leicht ihr Herr, wer sie aufzuklären sucht, stets ihr Opfer.

Das deutsche Volk stufte Vibr13ator37 im Sinne einer willfährigen Herde als besonders prädestiniert ein, um lieber einem falschen Leitwolf zu folgen, als selbst einen eigenen klaren Gedanken zu fassen. Man musste zum historischen Beweis dieser These sich nur ein weiteres aufschlussreiches Buch vorknöpfen, verfasst vom Börsenguru André Kostolany. Der echauffierte sich bereits in seinem 1972 verfassten Werk „Geld das grosse Abenteuer“ über eine eigenartige Mentalität, die so nur die Deutschen kennzeichne. Denn völlig unnütze Investmentfonds, initiiert durch eine erfolgshungrige Finanzindustrie, gab es bereits zu dieser Zeit, die ausschliesslich nach satten Provisionen gierten. So schrieb Kostolany: In keinem anderen zivilisierten Land ausserhalb der Bundesrepublik wurde dieser Unfug zugelassen.

Deshalb waren die Offshore-Investment- und Immobilienfonds nur auf das Ausplündern des deutschen Publikums aus. Sie trugen alle das Etikett: ‚Made for Germany'. Geändert hatte sich freilich daran bis heute nichts. Der Börsenguru verlieh zwar seiner Verwunderung Ausdruck, warum der deutsche Staat schon damals so willfährig mit der Finanzindustrie paktierte. Aber drucken wollte diese reife Frucht der Erkenntnis schon damals in den sechziger Jahren kein vom Wirtschaftswunder berauschter Zeitungsverleger.

Ein Grund für die unreflektierte passive Empfängerhaltung der Finanzverbraucher mag seit der Zeit des Nationalsozialismus darin gelegen haben, dass Deutschland von den grossen Kapitalströmen abgeschnitten blieb. Vielleicht arbeitete sich die Nation seit dem Zweiten Weltkrieg bis heute an ihrem moralischen Schuldkomplex ab. Möglicherweise tat sie das, um sich dadurch von der schweren Last der Judenpogrome zu befreien, indem sie ein giftiges Anlageprodukt nach dem nächsten stumm leidend abnickte, schoss es dem jungen Aktivisten durch den Kopf.

Aber woanders in dieser Welt lief das Spiel auch nicht nach anderen Regeln. Der zu lösende Widerspruch war doch heutzutage ein anderer, jenseits der verkappten deutschen Angstbefindlichkeit, davon war Vibr13ator37 zutiefst überzeugt. Auf der einen Seite gab es die im Luxus schwelgenden Reichen, und auf der anderen, der schmutzigen Strassenseite, verharrten regungslos die im Dreck um ihre Würde beraubten Armen, die sich vom kargen Lohn ihrer Arbeit nicht mal neue Schuhe leisten konnten.

Der junge Aktivist war sich sicher: Würde man an dieser Stellschraube der krassen sozialen Ungerechtigkeit etwas drehen, dann gelänge auch die Bewältigung von anderen Zukunftsaufgaben.

Das Internet: Die scharfe Waffe der Unterdrückten

Manchmal ertappte sich der Student der Wirtschaftsinformatik und Philosophie als phrasenhafter Weltverbesserer. Doch einer musste der Masse ja die Gehirnwindungen wieder durchspülen, wenn die sich nur mit Unterhaltung auf dem seichten Niveau zudröhnte. Der Wandlungsprozess zur indirekten Demokratie, die alsbald die kollektive Schwarmintelligenz ans Machtruder brächte, er würde allerdings nicht schmerzfrei erfolgen. Diesen Umstand machte der querköpfige Jungakademiker unter anderem an den aktuellen Geschehnissen in den arabischen Staaten fest, wo die Diktaturen mächtig unter Druck geraten waren.

Das Internet entpuppte sich dabei nicht nur als kreatives Werkzeug, um Protestversammlungen spontan auf irgendwelchen Plätzen anzuberaumen. Nein, das Netz hatte sich zu einer stummen, gleichwohl umso schärferen Waffe der Unterdrückten gegen ihre übermächtigen Herrscher entwickelt.

Doch war die kreative Gewalt der Strasse wirklich so gross? Man musste die Masse nur hierzulande kräftig aufrütteln. Er blickte in den Kreis seiner Familie und Verwandtschaft und sah ein, dass die meisten Onkels und Tanten mehr Zeit mit dem Urlaubsschnäppchen oder einem neuen Flachbildfernseher verbrachten, als sich zu überlegen, was sie mit ihrem Geld denn Vernünftiges anstellten.

Jetzt lief sein innerer Motor in höchster Drehzahl: Die künftigen Entscheidungsträger in Wirtschaft und Gesellschaft, so sprach sich Vibr13ator37 vor dem geistigen Spiegelbild selbst Mut zu, sie würden deutlich mehr vernetzt und dezentral aufgestellt sein. Man brauchte gar kein hoch dekorierter grosser Wirtschaftstheoretiker zu sein, um das leise aber stetige Aufkommen der menschlichen Schwarmintelligenz als Schlüsselkriterium für neue kooperativ geprägte Wirtschaftsmodelle zu werten. Dort war das Ganze mehr als die Summe seiner Teile. Ironisch beendete Sebastian Heilfrisch dann seinen inneren Monolog mit einem richterlichen Spruch: Gott habe diesen Entwicklung so voraus geplant, bilanzierte der Atheist.

Letzte Zweifel konnte natürlich auch er nicht ausräumen, bei seinem Höhenflug in die kollaborative neue Geistesepoche.

Würde kreative Anarchie einen Bruch mit dem alten System herbeiführen? Natürlich waren die Aktivisten bei Virology klug genug, sich einen formalen Ehrenkodex aufzuerlegen, der ihrem Handeln einige demokratische Fesseln auferlegte. Nicht alles war erlaubt, schon gar nicht, wenn durch ein Vereinsmitglied eine entdeckte Schwachstelle dazu ausgenutzt wurde, einen grösseren wirtschaftlichen Schaden anzurichten. Das verführerische Katz-und-Maus-Spiel einiger Protagonisten, die sich am Rande der Gruppe bewegten, es glich einem Formel-Eins-Rennen, bei dem sich der Erstplatzierte und sein Verfolger bedrohlich nahe kommen. Es gab eine letzte Barriere von Anstand und Moral, die selbst eine zur latenten Anarchie neigende Gruppe nicht einfach überqueren durfte. Zumindest, wenn dabei einer über die Schulter blickte.

Hackseneroberung

Vibr13ator37 ergriff kurz nach Mitternacht in der schläfrig vor sich her dümpelnden Runde das Wort: »Was geht ab, warf er der Flügelkönigin zu.« Die liess nicht lange mit der Retourkutsche auf sich warten: »Blödmann, was soll schon abgehen,« wies sie den verbalen Annäherungsversuch barsch in seine Schranken. Als Tochter aus reichem Hause bemühte sie sich um eine proletarische Tonlage, die bei den anderen etwas gekünstelt herüberkam. Die wingqueen tat alles, um in der Gruppe nicht als verwöhntes Girlie von Besserbetuchten verspottet zu werden. So wirkte sie dem Image entgegen, sie habe die Weisheit von Geburt an mit goldenen Löffeln gefressen und entfliehe hier nur ihrem gläsernen Käfig der edel ausstaffierten inneren Langeweile. Dies würde den anderen in der Gruppe fälschlicherweise den Eindruck vermitteln, dass sie es gar nicht nötig habe, irgendeinen konkreten Lebensplan ins Auge zu fassen, da sie ohnehin später viel Geld erbte.

Vibr13ator37 liess nicht locker, denn er hatte sich insgeheim bereits in die ein Jahr jüngere, optisch aber ein paar Zentimeter grössere Flügelkönigin verguckt. Noch versuchte er seine latente Nervosität geschickt zu überspielen. »Ich bin da auf eine Bank mit einer interessanten Schokoladenseite gestossen« legte er ihr den nächsten Köder zum Flirten bereit. Es schien zu klappen, das rebellische Luxusgirl erhob sich von ihrem Sperrmühlsitzgerät und näherte sich ihm mit raumgreifenden Schritten.

Vibr13ator37 hiess eigentlich Max und war der unbequeme Sprössling von Sebastian Heilfrisch. Dass er ausgerechnet der Brut eines IT-Security-Fritzen entstammte, der noch dazu in einer Frankfurter Grossbank arbeitete, diesen Umstand kreidete ihm die Gruppe zwar nicht direkt an. Aber er musste sich als waghalsiger Ritter mehr als die anderen ins Zeug legen, wollte er deren gnädige Gunst behalten. Jetzt aber waren ihm die anderen Virologen vollkommen egal. Er wusste, wollte er bei der Flügelkönigin erfolgreich landen, musste er volles Risiko gehen. »Ich habe da eine Hintertreppe in die Frankfurter Handelsbank gefunden« stiess er mit lässigem Unterton in Blickrichtung zur Hackse aus.

Das weibliche Objekt der Begierde nahm den Spielball auf und schob ihr abgehalftertes Sitzgerät direkt neben seines: »Echt, das musst du mir mal genauer zeigen« Jetzt wusste Max, er hatte zumindest ihre intellektuelle Aufmerksamkeit erregt. Sein Herz schlug schneller, denn wenn er in den nächsten Minuten nichts zu bieten hatte, dann hatte er es bei der Flügelkönigin endgültig vergeigt. Er pokerte weiter, wohl wissend, dass sein Vater, mit dem ihn ansonsten die beiderseitige Sprachlosigkeit verband, bereits die eine oder andere Spur ins Unternehmen hinein gelegt hatte.

Während der Arbeitswoche weilte Sebastian Heilfrisch in seiner Parallelwelt in der Mainmetropole. Das gab Max genug Zeit, sich in den beruflichen Unterlagen des Vaters genauer umzusehen, die dieser ziemlich achtlos zu Hause liegen liess. Für den Vater war die Familie ein sicherer Ort, dem er in seinem bisherigen Leben ohnehin nicht übermässig viel Bedeutung einräumte. So nur war es zu erklären, dass die höchste Sicherheitsstufe, die der Chief Security Officer sonst überall so routiniert walten liess, gerade in seinen eigenen vier Wänden ausgeblendet blieb.

So übersah Heilfrisch, dass sein Sprössling mittlerweile durch die Hilfe einiger fähiger Computerfreaks, die er zu Beginn seiner Hackerkarriere auf den üblichen clandestinen Szeneparties kennen gelernt hatte, zu einer beachtlichen Kunstfertigkeit beim Schreiben von Schadsoftwareprogrammen gelangt war. Max war nicht nur ein bereits erprobter Virenschreiber. Er konnte auch wie ein weiser Indianer in einem alten Hollywoodwestern an den Gleisen horchen, um den sich nähernden Zug frühzeitig zu hören. Er verfügte über eine intuitive Schnittstelle, um diverse Spuren in der Systemkonfiguration einer IT-Architektur zu entschlüsseln.

Mal hatte er die eine oder andere Homepage im Netz kreativ verunstaltet. Oder er startete eine kleine Denial-of-Service-Attacke, um mit einer künstlich generierten Flut an Seitenaufrufen die Serverparks einer grösseren Firma zu fluten und diese kurzzeitig in die Knie zu zwingen.

Im Fachjargon benutzten die Security-Experten dafür den bürokratisch verklausulierten Begriff ‚Betriebsunterbrechung'. Derartigen Schäden beugten die Betroffenen durch ein ausgefeiltes Business Continuity Management in der gesamten Unternehmenskultur vor, so das Credo der professionellen Abwehrreihen. Aber derartige Fachausdrücke klangen nach einem Marketingprospekt, der nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte, dem gerade deshalb niemand wirklich Glauben schenkte.

Die ersten kleinen Nadelstiche in fremde Netzwerke hatten Max zwar bereits den Respekt der anderen eingebracht, den ganz grossen Coup aber konnte er bis dato nicht landen. Jetzt sah Vibr13ator37 die Stunde der Wahrheit gekommen. Er musste vor der Flügelkönigin die Hosen runterlassen. Es dämmerte ihm, der Preis dafür war hoch, er hatte seinen Vater ans Messer zu liefern. Er verdrängte den Gedanken eines virtuellen Fernduells mit seinem Erzeuger, zu dem er eine Art Hassliebe empfand.

Er hatte einerseits dessen analytischen Sachverstand geerbt. Wozu sein Erzeuger diesen in der Frankfurter Handelsbank einsetzte, das rief in ihm jedoch die pure Verachtung hervor. Er tat schliesslich alles, um ein unmenschliches Bollwerk vor der legitimen Revolution von unten zu schützen. Er sah seinen Vater im Spiegel der französischen Revolution von 1789, in der der französische Landadel versucht hatte, den Kopf noch einmal aus der Schlinge zu ziehen. Der Computerhacker vermied zwar den Begriff Schweinesystem. Für solch eine plumpe Wortwahl war Max schlicht zu intelligent. Aber dass die Menschheit der Finanzindustrie letztlich wie eine dumme Melkkuh folgte, deren frische Milch man ständig abzapfte, das musste doch jedem nur halbwegs gebildeten Menschen einleuchten.

Lothar Lochmaier
berlinergazette.de

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.