Volkmar Sigusch: Die Mystifikation des Sexuellen Kapitalismuskritische Perspektiven im Anschluss an Volkmar Sigusch

Sachliteratur

Volkmar Siguschs 1984 erschienenes Buch „Die Mystifikation des Sexuellen“ bietet gute Anknüpfungspunkte, um die Eingebundenheit der Kategorien „Geschlecht“ und „Sexualität“ in die kapitalistische Produktionsweise verstehen und Ableitungen für emanzipatorisches Streiten treffen zu können.

Queer-Ikone Judith Butler, April 2018.
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Queer-Ikone Judith Butler, April 2018. Foto: Miquel Taverna (CC BY-SA 4.0 cropped)

25. Januar 2021
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Zusammen mit weiteren – auch neueren – Arbeiten Siguschs ergeben sich Anschlussmöglichkeiten für die kapitalismuskritische und antikapitalistische Fortentwicklung feministischer und queer-feministischer Ansätze.

Nach dem Zusammenbruch „des Ostblocks“ seit dem Ende der 1980er Jahre setzte sich zunächst eine breite Enttäuschung und Lethargie bezüglich gesellschaftlicher Alternativen durch. Eine Alternative zum kapitalistischen Wirtschaftssystem erschien vielen als quasi unmöglich. Gleichzeitig brachen auch „im Westblock“ – insbesondere in den „alten Bundesländern“ der dann um die „neuen Bundesländer“ vergrösserten Bundesrepublik Deutschland – grosse Teile der linken, sozialistischen Infrastruktur weg, die zuvor über Unterstützung aus dem Lager sozialistischer Staaten mitfinanziert worden war.

Ergebnis auch dieser beiden Entwicklungen war es, dass es um kapitalismuskritische oder gar antikapitalistische Ansätze zunächst still wurde. Waren in den 1980er Jahren in der DDR und der BRD Alternativen zum kapitalistischen Wirtschaftssystem auch feministisch (und teilweise schwul) erdacht wurden, die auf Gleichberechtigung von Frauen und Männern zielten und sich gegen eine staatliche Reglementierung von Sexualität wandten, so kamen nun feministische Ansätze diesbezüglich zahnlos daher, fand lediglich noch eine Beschreibung des Lebens von Frauen und Männern auf Basis der derzeitigen Wirtschaftsordnung statt.

Diese Entwicklung betraf auch die einsetzenden queer-feministischen Überlegungen, die sich gegen die Grundannahme binärer Geschlechtlichkeit wandten (und die die Kritiken an heterosexuellen Normen und Zwängen befeuerten). Ist zwar schon in dem Begriff der „Performativität“ im Anschluss an die „Queer-Ikone“ Judith Butler deutlich angelegt, wie das stete Aufgreifen von Zeichen und Symbolen durch die Menschen selbst erst zur steten Herstellung von Geschlecht führt und wie den Menschen dieser Zusammenhang aber nicht klar wird, weil ihnen der Zusammenhang ihrer eigenen Tätigkeit und ihres eigenen Zusammenleben als „vom Wollen und Laufen der Menschen unabhängige, ja dies Wollen und Laufen erst dirigierende“ (Karl Marx, „Die deutsche Ideologie“) Erscheinung vorkommt, so gelingt es vielen Rezipient_innen von Butlers Theorien nicht, an diesen kapitalismuskritischen Fingerzeig anzuschliessen. Geschlecht ist – und das macht Butler in „Gender trouble“ („Das Unbehagen der Geschlechter“) klar – eben nicht einfach da, sondern ist gesellschaftlich eingebunden und entsteht erst durch das stete und ständige Tun der Menschen.

Sexualität und Geschlecht als eingebunden in kapitalistische Produktionsweise

Dass Kapitalismus nicht „nur“ Wirtschaftsordnung ist, sondern alle Bereiche des Zusammenlebens der Menschen, alle Bereiche der Gesellschaft erfasst, haben Wissenschaftler wie Volkmar Sigusch auch bezüglich Sexualität (und Geschlecht) auf den Punkt formuliert. In dem 1984 im Campus-Verlag erschienenen Buch „Vom Trieb und von der Liebe“ schreibt Sigusch klar:

„Schauen wir uns um, betrachten wir die Voraussetzungen: Überall Herr und Knecht, oben und unten. Überall Unvernunft, Chaos, Zerstörung. Die Menschen von kleinauf erniedrigt, gedümpelt, entwertet, genötigt, isoliert, leer, voll Angst und ohne Würde. Wer tagein, tagaus als Maschine drei Handgriffe machen, wer Jahr um Jahr als Maske nutzlose Waren an den Käufer bringen, wer ein Leben lang als Handlanger tote Akten gegen Menschen führen muss, wer so im allgemeinen Leben zurechtgestanzt wird, der kann nicht einfach im Liebes- und Geschlechtsleben das Gegenteil von Maschine, Maske, Handlanger sein - plötzlich er selber, unverstellt, die Seele ganz gelöst.“ (S. 14)

In dem im gleichen Jahr erschienenen Band „Mystifikation des Sexuellen“ vertieft Sigusch diese Perspektive und stellt anhand der Theorien von Karl Marx dar, wie Sexualität in der kapitalistischen Gesellschaft in der heutigen Form erst herausgebildet wird. Sigusch führt aus, wie Gefühle, das Geschlechtliche und das Sexuelle lediglich in den engen vorgesteckten Grenzen in einer durch Waren strukturierten Gesellschaft erlebt werden und erlebt werden können.

Die sexuelle Revolution seit den 1960er Jahren bedeutete so auch, dass selbst die zunächst von der bürgerlichen Gesellschaft verworfenen Sexualitäten und Lebensweisen – wie Homosexualität, Transsexualität und Sadomasochismus – zu einem direkten Ziel kapitalistischer Produktion werden konnten.

Für Geschlecht weitergedacht, deutlicher als es Sigusch macht (und will), heisst dies, dass Weiblichkeit und Männlichkeit – und die individuelle Versicherung derselben – durch Konsum sichergestellt werden: Kleidung, Parfüms (mit weitgehend eindeutig konnotierten geschlechtlichen Duftnoten und Aufschriften), Fitness, Trainings, biographische Erlebnisse (Reiseerlebnisse wie Abenteuerreisen, „Mut“ in Freizeitparks, in einer eigenen Peergroup akzeptiert sein) und teilweise und zunehmend selbst medizinische Operationen (so insbesondere Penislängenveränderung, Brustveränderung bzw. Schamlippenverkleinerung oder -vergrösserung) werden genutzt, um sich anhand der gelernten Geschlechtsstereotype eindeutig und sicher als „weiblich“ oder „männlich“ herzustellen.

Mit dieser kapitalistischen Durchdringung des Geschlechts noch nicht genug, werden zahlreiche Stereotype selbst massiv durch Werbung für Produkte – sei es in Fernsehen, in Zeitschriften, auf Plakatwänden – bestätigt und hervorgebracht.

Zunehmende ökonomische Unfreiheiten, zunehmende sexuelle Freiheiten

„Queer“ – in welcher der derzeitigen populären und wissenschaftlichen Definitionen auch immer – bedeutet in jedem Fall eine Vervielfältigung von in der Gesellschaft zumindest tolerierten Lebensweisen. So ist es gut, dass 1994 auch in der Bundesrepublik Deutschland die massive Verfolgung und Benachteiligung von Homosexuellen zumindest in den Gesetzen weitgehend endete. Menschen können vielfältiger leben und tun dies auch. Doch bereits hieraus direkt ein kapitalismuskritisches Wirken abzuleiten, liefe fehl. Vielmehr ist seit dem Zusammenbruch „des Ostblocks“ offensichtlich, wie soziale Sicherungssysteme massiv zurückgebaut werden, wie Erwerbsarbeit immer deregulierter wird und immer flexibler geleistet werden muss.

Auffällig ist, wie die Deregulierung und Enthemmung des Kapitalismus parallel dazu verläuft, dass auch Forderungen der Frauenbewegung und der Schwulenbewegung umgesetzt werden. Dabei werden nur einige der Forderungen dieser sozialen Bewegungen übernommen und beispielsweise in entpolitisierten Gender-Mainstreaming- und Management-Diversity-Programmen umgesetzt. Auch solche Programme sind zwar wichtig, weil sie dazu führen können, dass Menschen weniger diskriminiert werden. Gleichzeitig sollte aber wahrgenommen werden, dass eben nicht die herrschafts- und patriarchatskritischen Forderungen der Feministinnen und Schwulen übernommen wurden. Volkmar Sigusch drückt das in seinem 2005 erschienenem Band „Neosexualitäten: Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion“ folgendermassen aus:

„Die Freiräume waren noch nie so gross und vielgestaltig. Das Paradoxe daran ist: Je brutaler der Kapitalismus ökonomische Sicherheit und soziale Gerechtigkeit beseitigt, also Unfreiheiten produziert, desto grösser werden die sexuellen und geschlechtlichen Freiräume. Offensichtlich bleibt den Mechanismen der Profit- und Rentenwirtschaft vollkommen äusserlich, was die Individuen tun, solange sie nur ihre sexuellen Orientierungen, ihre geschlechtlichen Verhaltensweisen, überhaupt ihre kleinen Lebenswelten pluralisieren. Vor allem Personen, die selbst nach den sexuellen Revolutionen des 20. Jahrhunderts als abnorm, krank, pervers und moralisch verkommen angesehen worden sind, profitieren von dieser Freistellung.“ (S. 7)

Ein Kapitalismus, der ökonomische Unfreiheiten in immer stärkerem Masse produziert, in dem die durch soziale Kämpfe errungenen sozialen Standards gestrichen werden und in dem Menschen in zunehmendem Masse gezwungen werden in ungesicherten, befristeten, wechselnden Beschäftigungsverhältnissen zu arbeiten, kommt gut mit sexueller und geschlechtlicher Pluralität aus. Er orientiert sogar auf Individualität und Flexibilität auch in Beziehungsverhältnissen, weil Menschen so variabler einsetzbar und entlohnbar sind.

Sexuelle und geschlechtliche Pluralität stehen offenbar nicht im Gegensatz zu kapitalistischer Produktionsweise. Vielmehr werden flexibilisierte Lebensweisen auch durch die aktuellen – postfordistischen – Veränderungen der kapitalistischen Produktionsweise angereizt und erzwungen. Andersherum ausgedrückt – und auch das ist eine mögliche Perspektive – erweist sich der Kapitalismus als äusserst anpassungsfähig und in der Lage, auch Gegenbewegungen in Teilen zu integrieren.

Und hier ergibt sich ein weiteres Paradox: Die Emanzipation von Frauen/Lesben und Schwulen erweist sich sogar aus nationaler Perspektive als äusserst hilfreich, um das militärische Eingreifen in anderen Ländern zu rechtfertigen und die eigenen Interessen hierfür zu verschleiern.

Zeigten und zeigen sich die Bevölkerungen in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland als äusserst skeptisch gegenüber dem militärischen Engagement in Afghanistan, so empfahl die CIA – wie über Wikileaks öffentlich gemachte Protokolle zeigen –, die Skepsis der Menschen zu überwinden, indem man in öffentlichen Begründungen des Krieges explizit Emanzipation fokussierte. Neben der rassistischen Komponente, die in verschiedenen aktuellen Arbeiten sehr gut aufgearbeitet wurde (vgl. Klauda 2008; Yilmaz-Günay 2011), ergibt sich der Nebeneffekt, dass die „eigene“ Gesellschaft – also die Bundesrepublik Deutschland – als emanzipatorisch erscheint und die massive gesellschaftliche Benachteiligung und Gewalt unter anderem gegenüber Frauen/Lesben und Schwulen aus dem Blick gerät.

Sigusch legte in diesem Jahr nach und zumindest der von ihm mitherausgegebene Band „Sex tells: Sexualforschung als Gesellschaftskritik“ (2011) trägt zu einer Bestandsaufnahme bei, mit der Lehren für das weitere emanzipatorische, kapitalismuskritische und antikapitalistische Streiten gezogen werden können. Diese und die übrigen benannten Arbeiten sollten aktuell neu zur Kenntnis genommen und in feministische und queer-feministische Analysen einbezogen werden. Sie geben einen guten Einstieg, um die enge Verwobenheit von Sexualität, Geschlecht und kapitalistischer Produktionsweise zu verstehen und theoretische und praktische Ableitungen zu treffen.

Heinz-Jürgen Voss
kritisch-lesen.de

Volkmar Sigusch: Die Mystifikation des Sexuellen. Campus Verlag, Frankfurt/New York 1984. 132 Seiten, ca. SFr 24.00, ISBN 3593334194

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