Uwe Sonnenberg: Von Marx zum Maulwurf Revolution und Raubdrucke

Sachliteratur

Eine lesenswerte Kulturgeschichte der radikalen Linken in den 1970er Jahren.

Buchladen in Berlin-Schöneberg.
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Buchladen in Berlin-Schöneberg. Foto: Fridolin freudenfett (CC BY-SA 4.0 cropped)

27. Oktober 2016
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Die 1970er Jahre gelten als ein durch tiefgreifende gesellschaftliche Transformationen geprägtes Jahrzehnt – für viele Linke sind die Jahre nach dem Aufbruch 1968 eine Zeit zwischen revolutionärer Sehnsucht und romantischer Verklärung. Der Historiker Uwe Sonnenberg wirft in seiner in der renommierten Reihe „Geschichte und Gegenwart“ erschienenen Dissertation einen kulturhistorischen Blick auf die Linke dieser Zeit und setzt den Verband des linken Buchhandels (VLB) ins Zentrum seiner überaus gründlich recherchierten, facettenreichen Analyse.

Dabei gelingt ihm in seiner packend geschriebenen Darstellung die schmale Gratwanderung zwischen wissenschaftlichem Nischenthema und gesamtgesellschaftlicher Einordnung: Immer wieder weitet er den Blick und schreibt so nicht nur eine Geschichte des VLBs, sondern eine politische Kulturgeschichte der (radikalen) Linken in den 1970er Jahren.

Den mehr als 500 Seiten umfassenden Text gliedert Sonnenberg in fünf Hauptkapitel, die chronologisch aufgebaut den Zeitraum von etwa Mitte der 1960er Jahre bis zum „variantenreichen Entschlafen“ (S. 478) des VLB zu Beginn der 1980er Jahre umfassen. Nach einem knappen Verweis auf die Geschichte des sozialistischen und kommunistischen Buchhandels in Deutschland geht Sonnenberg auf den Entstehungskontext der Neuen Linken ein und berichtet von der mehr oder minder zufälligen Gründung der „Neuen Kritik“ als Buchverlag des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) im Oktober 1965.

"Markt für Marx"

Etwa gleichzeitig entstanden in dessen Umfeld weitere „subversive Untergrundverlage“ (S. 55) wie etwa die Westberliner „Oberbaumpresse“ oder der „Trikont Verlag“ in Köln, der aus dem Dritte-Welt-Arbeitskreis des SDS hervorging. Dabei vergisst Sonnenberg nicht, auf die Bedeutung von Offset-Druckmaschinen, insbesondere der Marke ‚Rotaprint', hinzuweisen, die erst eine kostengünstige und schnelle Vervielfältigung von Druckerzeugnissen in kleinen Auflagen ermöglichten. Aber es waren nicht nur kleine, explizit linke Verlage, sondern auch etablierte Verlage wie Rowohlt oder Suhrkamp die den „Markt für Marx“ (S. 77) entdeckten und die theoriebegeisterte Neue Linke mit Lesestoff versorgten.

Die „Enteignet-Springer-Kampagne“ stellte gegen Ende des Jahrzehnts den Höhepunkt der SDS-Kampagne zur „Demokratisierung der Öffentlichkeit“ dar, deren Ziel es war „eine aufgeklärte Gegenöffentlichkeit zu schaffen“ (S. 84). Während die Frankfurter Buchmessen alljährlich zum öffentlichkeitswirksamen Aktionsort linker Literaturproduzent_innen wurden, stellte die Selbstorganisation des linken Literaturbetriebs auch eine ökonomische Notwendigkeit dar. Allein zwischen 1968 und 1970 gründeten sich in der Bundesrepublik knapp einhundert linke Buchläden, von denen einige bis heute bestehen. Damit folgte auch der linke Literaturbetrieb der neuen Ausrichtung der linken Studierendenschaft nach dem Slogan: „Weg von der Hochschule, rein in die Städte und Betriebe“ (S. 137).

Unstimmigkeiten in Fragen von Lizenzrechten und Raubdrucken sowie der Wunsch nach besserer Koordination und Organisation des linken Buchhandels führten im Anschluss an die Frankfurter Buchmesse 1970 schliesslich zur Gründung des Verbands linker Buchhandel (VLB). Damit begann der Verband seine Tätigkeit just zu einem Zeitpunkt, als sich die radikale Linke in einem tiefgreifenden Differenzierungsprozess befand.

Wege des linken Buchhandels

Sonnenberg vermag es hier, die Irrungen mancher damaliger Wege offen anzusprechen. Er schreibt von „geheimbündlerischen und sektenhaften Zügen“ (S. 173) marxistisch-leninistischer Zirkel, bleibt dabei jedoch trotz aller Kritik erfrischend solidarisch. Aber nicht nur diese grundlegenden politischen Differenzen, sondern auch Fragen der „sozialen Praxis“ (S. 336) führten mitunter zu Austritten aus dem VLB. So etwa Diskussionen um Mitbestimmungsrecht, Kollektivität und der weiter schwelende Konflikt um den Umgang mit Raubdrucken. Ausführlich erzählt Sonnenberg vom anfangs nicht immer einfachen Verhältnis der Linken zum entstehenden alternativen Milieu und beschreibt wunderbar anschaulich diese „Tendenzwenden“ (S. 278) mitsamt ihrer inhaltlich-programmatischen Schwerpunktverlagerung und stärkeren Differenzierung einzelner Verlage.

Metaphorisch deutlich wurde dieser Wandel hin zu „neuen Erfahrungsräumen jenseits marxistischer Bezugspunkte“ (S. 329) in der Neugestaltung der VLB-Einkauftüten: Ab 1976 schmückte diese nicht mehr ein Karl-Marx-Kopf, sondern ein lässig rauchender Maulwurf mit Nickelbrille, das „beharrlich-subversiv wühlende [...] Wappentier der Revolution“ (S. 329f.). In diesem Kontext verzeichnet Sonnenberg auch einen „signifikanten Anstieg belletristischer Literatur in den Regalen“ (S. 309), die er als mögliche Folge der „proklamierten neuen Sinnlichkeit und neuen Subjektivität“ (S. 309) interpretiert.

Für die gesamte radikale Linke in Deutschland stellten die Jahre 1976/77 eine deutliche Zäsur dar, in denen auch im VLB das Verhältnis zum bewaffneten Kampf hitzig diskutiert wurde. Insbesondere die Anfrage, die „Gesammelten Texte der RAF“ als Verband kollektiv herauszugeben, führte auf dem VLB-Treffen 1977 angesichts der massiven staatlichen Repression zu einem „erhitzten ‚Schlagabtausch'“ (S. 434).

In den darauffolgenden Jahren entstanden insbesondere im Umfeld der Neuen Sozialen Bewegungen zahlreiche selbstverwaltete Alternativprojekte als kleine ökonomische Experimente. Der damit einhergehende Verlust der Alleinstellungsmerkmale linker Buchläden zu Beginn der 1980er Jahre beschleunigte den Zerfall des VLB als zentrale Koordinationsplattform des linken Literatur- und Buchbetriebs.

Was bleibt?

Mit „Vom Marx zum Maulwurf“ eröffnet Sonnenberg eine neue Perspektive auf die Geschichte linker Bewegungen in den 1970er Jahren. Indem er einen sonst wenig beachteten, abseits der politischen Organisationen stehenden Akteur ins Zentrum seiner Untersuchung rückt, vermag er es, die politischen Transformationen (mitsamt ihrer Irrwege und Verschrobenheiten) sowie den theoretischen Paradigmenwechsel vom Marxismus zum Poststrukturalismus lesenswert darzustellen.

Trotzdem - ein Wermutstropfen bleibt: Schon allein aufgrund seines hohen Anschaffungspreis von 44,00 Euro richtet sich dieses überaus lesenswerte Buch leider vornehmlich an ein wissenschaftliches Fachpublikum und nicht an eine (radikale) Linke, der es mitunter gut täte, sich ab und zu mit ihrer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen.

Auch für aktuelle Kämpfe und linke Debatten gibt es dort viel zu lernen. Die Etablierung einer „Gegenöffentlichkeit“ war eines der zentralen politischen Anliegen der entstehenden Neuen Linken Mitte der 1960er Jahre und führte unter anderem zum Aufbau von eigenen, explizit linken Strukturen auf dem Buch- und Theoriemarkt. Zahlreiche Gründungen von Verlagen, Buchläden und Zeitschriftenprojekten waren die sichtbarsten Folgen. Wie diese Strukturen einer „Gegenöffentlichkeit“ in Abgrenzung zum medialen Mainstream und abseits von kapitalistischen Marktzwängen konkret zu gestalten wäre, wurde bereits vor 50 Jahren innerhalb der Linken ausführlich diskutiert und bietet noch heute wichtige Anknüpfungspunkte für linke Diskurse.

Philipp Grehn
kritisch-lesen.de

Uwe Sonnenberg: Von Marx zum Maulwurf. Linker Buchhandel in Westdeutschland in den 1970er Jahren. Wallstein Verlag, Göttingen, 2016. 568 Seiten, ca. 54.00 SFr. ISBN 978-3-8353-1816-8

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