Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt Ambiguität gegen modernen Fundamentalismus und Gleichgültigkeit

Sachliteratur

Wenn man sich wie ich vorrangig auf die politische Theorie und Ideengeschichte des Anarchismus spezialisiert hat, stellt sich die Frage, warum das hier vorgestellte Werk einer Besprechung lohnt.

Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Foto: Elizabethdemaray (CC BY-SA 4.0 cropped)

27. August 2021
5
0
6 min.
Drucken
Korrektur
Rezensiert, honoriert und diskutiert wurde es bereits ausgiebig. Und auch wenn Thomas Bauer eine eindeutige Kritik am Kapitalismus formuliert, mit der er insbesondere die Dimensionen von Kultur, Lebenswelt und Weltbeziehung in den Blick nimmt, ist seine Schrift nicht im Gebiet herkömmlicher, wie auch immer gearteter, linker Theorien zu verorten.

Dies ist auch der Fall, weil Bauer Islamwissenschaftler ist, wobei er für eine differenzierte Sichtweise des historischen und auch zeitgenössischen Islams als religiöser und kultureller Gemeinschaft eintritt. Damit kritisiert er den religiösen Fundamentalismus, wie er freilich seit vielen Jahren verstärkt auch im Christentum zu beobachten ist, entschieden.

Beachtenswert ist, dass Bauer mit Die Vereindeutigung der Welt der Form des intellektuellen Essays zu neuem Leben verhilft. So lesen sich die von ihm formulierten zehn Kapitel kurzweilig und beinhalten doch einen überzeugenden Tiefgang, den so manches akademisches Werk vermissen lässt. Wie der Titel schon sagt, entfaltet der Autor die These, dass unsere Welt und Gesellschaft keineswegs vielfältiger und pluraler, sondern ganz im Gegenteil leerer und homogener wird.

Die erkennbare Tendenz zu Vereindeutigung der Welt besteht dabei in so unterschiedlichen Bereichen, wie der Religion und der massenkulturellen Popkultur, ebenso wie in Hinblick auf das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten im Anthropozän und die Einförmigkeit politischer Kommunikation, etwa von Parteien.

Aus der kapitalistischen Vergesellschaftung ergibt sich die Sogwirkung zu dieser Reduktion unserer Welt. Die angebliche Pluralität und Vielfältigkeit stellt sich dahingehend als ein Schein dar, der konsumierbar und verdinglicht wird. Man kennt dies aus sozialen Milieus, in denen es besonders wichtig ist, sich selbst als besonders und individuell zu inszenieren: Im Streben danach, besonders individuell zu sein, entsteht paradoxerweise eine Gleichförmigkeit von Stilen, Gefühlen und Gedanken ohnegleichen. Das wirklich Andere wird dabei oftmals höchstens toleriert, gelegentlich romantisiert, kulturell angeeignet, manchmal positiv-rassistisch überhöht. Letztendlich haftet ihm aber weiterhin ein Unbehagen an, wird auf das Andersartige mit Abwehrreflexen reagiert, weil seine Befremdlichkeit und Unberechenbarkeit nicht akzeptiert wird.

Die meisten Menschen der Gegenwartsgesellschaft haben ein verständliches Bedürfnis, sich die Welt zu erklären, sie zu vereinfachen, irritierende Momente zu ignorieren oder sie einzuordnen. Es ist nicht leicht, sich der Vielfalt der Welt auszusetzen oder gar sie wohlwollend zu begrüssen und zu suchen. Damit aber verschenken wir uns und anderen letztendlich Lebensqualität.

„Denn genau dies ist unsere Welt: uneindeutig. Menschen sind ständig Eindrücken ausgesetzt, die unterschiedliche Interpretationen zulassen, unklar erscheinen, keinen eindeutigen Sinn ergeben, sich zu widersprechen scheinen, widersprüchliche Gefühle auslösen, widersprüchliche Handlungen nahezulegen scheinen. Kurz: Die Welt ist voll von Ambiguität“ (S. 12), schreibt Bauer. Mit ihr führt er einen zumindest in der deutschen Sprachen selten verwendeten Begriff ein. Ambiguität bezeichnet „alle Phänomene der Mehrdeutigkeit, der Unentscheidbarkeit und Vagheit, mit denen Menschen fortwährend konfrontiert werden“ (S. 13).

Im Folgenden unterscheidet Bauer zwischen Ambiguitätstoleranz und Ambiguitätsintoleranz, die bei Menschen individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt sind, darüber hinaus jedoch ganz entschieden von den kulturell-historischen Umständen einer Gesellschaft abhängen. Letztere, die Intoleranz gegenüber Vieldeutigkeit und Vagheit weise die Grundzüge von Wahrheitsobsession, Geschichtsverneinung und Reinheitsstreben auf, wie sie im religiösen Fundamentalismus ebenso zu finden sind, wie in totalitären politischen Ideologien. Dagegen bedeutet Ambiguität „Mehrdeutigkeit, Vieldeutigkeit, bedeutet also das Potenzial, viele verschiedene Bedeutungen und Assoziationen zu vermitteln“ (S. 50).

Besonders spannend ist ein Abschnitt, in welchem Bauer eine Kritik an der „Authentizität“ formuliert, die zweifellos einen Trend unserer Zeit darstellt. Das Besondere wird dabei inszeniert und gespielt und stellt damit gerade das Bestreben Eindeutigkeit in einer komplexen Welt herzustellen dar, die oberflächlich und künstlich bleibt. Dass wir „authentischen“ Bedürfnissen unbedingt folgen und sie erfüllen müssten, etwa, weil mit ihnen gesellschaftliche Konventionen aufgebrochen werden würden, ist ein Trugschluss, dem auch zahlreiche Menschen in emanzipatorischen Szenen verfallen.

Der Druck „authentisch“ leben zu wollen führt nicht selten sogar zu Rücksichtslosigkeit, Gewaltexzessen und hermetisch abgeschlossenen Weltbildern (vgl. S. 60-72). Die Dystopie bildet dabei das Bild des Maschinenmenschen, der sich in jeglicher Hinsicht optimiert, anpasst und jegliche Widerständigkeit aufgibt. Dies schliesst ein, dass alle eine „Meinung“ haben, während zugleich das Vertrauen in Wissenschaften und kollektive Erfahrungsschätze schwindet (vgl. 87-97).

Interessant für den Anarchismus ist, dass dieser mit dem Konzept dezentraler autonomer Kommunen eine Gesellschaftsform zu realisieren beabsichtigt, welche Ambiguität wie sie Bauer beschreibt, zulässt, ja hervorruft. Verschiedenheit und Vielfältigkeit sind Werte, die wir schätzen sollten, weil sie Lebensqualität bedeuten und die in einem umfassenden Sinn mit sozialer Freiheit korrespondieren. Unterschiedlichkeit ist dahingehend keineswegs die Ursache der Konflikte zwischen verschiedene Menschen und Gruppen. Diese sind vielmehr der Weise geschuldet, wie wir sie wahrnehmen und mit ihr umgehen.

Schliesslich ist auch der libertäre Sozialismus als gesellschaftliche Vision keine Reissbrett-Utopie, sondern ein vages, widersprüchliches, irritierendes und offengehaltenes Streben nach einer solidarischen, freiheitlichen und egalitären Gesellschaftsform. Der Anarchismus ist in sich eine eminent pluralistische Strömung statt ein kohärentes politisches Theoriegebäude oder eine klar umrissene emanzipatorische soziale Bewegung. Von seinen Kritiker*innen erfährt er dafür Unverständnis und auch Aktive in ihm selbst geraten damit gelegentlich an den Rand der Verzweiflung.

Folgen wir Bauers Argumentation ist der Grund dafür in der Ambiguitätsfeindschaft der modernen Lebens- und Denkweise zu suchen. Tatsächlich gab und gibt es Kontexte, in denen Mehrdeutigkeit und Vagheit akzeptiert, ausgehalten und sogar als Bereicherung empfunden wird, in denen Wahrheiten parallel zueinander existieren und eine Demut vor der Gültigkeit der eigenen Überzeugungen gegeben ist. Dies bedeutet nicht einem gleichmachenden Relativismus oder einer postmodernen Beliebigkeit zu verfallen, sondern sich ganz im Gegenteil auf die Mannigfaltigkeit einzulassen, die sich aus dem menschlichen Leben selbst ergibt.

Mit dem Anarchismus werden ebenso wenig wie in Bauers Ausführung vormoderne Lebensbedingungen verklärt oder idealisiert. Es geht mit ihnen nicht um die reaktionäre Ablehnung moderner Errungenschaften, sondern um die Gestaltung einer vielfältigen, alternativen Moderne. Um diese realisieren zu können, gilt es allerdings mit der faschistischen Vorstellung, voneinander getrennter, homogener Kulturen ebenso aufzuräumen, wie mit jener der liberalen Pseudo-Vielfalt, die durch die kapitalistische Verwertungslogik alle anderen Werte nivelliert.

Andere sein lassen zu können, selbst anders und widersprüchlich sein zu können, ohne zu bewerten, in Kästchen einzuordnen und pauschal zu Positionierungen aufzufordern, ist in diesem Zusammenhang nicht allein oder vorrangig als ein ethisches Gebot besserer Verständigung zu sehen. Es geht hierbei eben nicht um eine Aufforderung zu mehr „Toleranz“, sondern um die Akzeptanz des Vagen, Unverfügbaren, Uneindeutigen, die uns menschlich sein lässt.

Dies ist kein individuelles Programm, um die Vielfältigkeit der Welt gelten zu lassen und sie in ihrer Widersprüchlichkeit als schön und freundlich empfinden zu können. Keine Achtsamkeitsübung, um Entfremdung soweit zu ignorieren oder produktiv zu wenden, um in einer gleichmachenden, reduzierenden, instrumentellen gesellschaftlichen Logik weiter mitspielen zu können. Stattdessen gilt es eine Gesellschaftsform zu erkämpfen, in denen ambige Lebens-, Denk- und Verhaltensweisen möglich und selbstverständlich werden können.

Jonathan Eibisch

Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Reclam 2018. 104 Seiten, ca. 9.00 SFr, ISBN 978-3150194928