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Steffen Mau: Das metrische Wir

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Steffen Mau: Das metrische Wir Vermessenes Vermessen oder: Das metrische Ich

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Sachliteratur

„Die Inventarisierung der Ausgaben ist die einzige Möglichkeit zu beweisen, dass ein Leben existiert hat.“ (Dragan Velikić)

Steffen Mau: Das metrische Wir.
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Steffen Mau: Das metrische Wir. Foto: Eddie Kopp (PD)

Datum 24. April 2018
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Vorweg ein ausgesprochenes Kompliment: Steffen Mau erklärt viel und er erklärt es schlüssig in einer sehr zugänglichen Sprache. Die Information ist kompakt, die Analyse profund, die Interpretation plausibel. Die Unterkapitel sind komprimiert gehalten, auch einzeln und ohne grössere Vorkenntnisse lesbar. Es ist ein sozialwissenschaftliches Stück, das Niveau hält, sich zudem nicht verriegelt. Weder schwerfällig noch leichtgewichtig. Ein feines Handbuch, jenseits des ironischen Diktums: „Wissenschaftler lesen Wissenschaftler, die Wissenschaftler lesen.“

Wir leben in Zeiten eines „Bewertungskults“ (S. 140), einer „umfassenden Quantifizierung des Sozialen“ (S. 10). Kennzeichen ist die „Universalisierung von Wettbewerb“ (S. 17), Modus die „Dauerinventur“ (S. 12). Daten befeuern diese Konkurrenz, und wer mehr davon besitzt resp. anzubieten oder zu suggerieren hat, hat einen Vorteil. Alles hat gemessen zu werden. Kaum jemand hält die ritualisierte Vermessung für vermessen. Im Prinzip ist sie anerkannt, auch wenn aktuelle Erweiterungen stets Protest hervorrufen. Dieser verebbt schnell, schon steht die nächste Okkupation auf der Tagesordnung. Zonen unvermessenen Lebens schwinden. Alle Sphären des Daseins sollen zu Mass und Zahl finden. Alles wird messbar. Mittlerweile gibt es sogar einen „United Nations Human Development Index“, kurz HDI genannt oder einen HPI gerufenen „Happy Planet Index“. Das Mass wird zum Mass der Dinge.

Das Toteste

„Die Zahl“, schrieb Hegel, „ist die toteste, begrifflose, gleichgültige, unentgegengesetzte Kontinuität.“ (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke 18, S. 237) Diskontinuitäten werden in ein Kontinuum gezwungen. Zahlen machen alles gleich, begreifen nichts, sind leblos. Dass Daten rohe Resultate mathematischer Verfahren sind und nicht einfach gültige Urteile, diese Erkenntnis ist in unserem Alltagsverständnis alles andere als präsent. Ganz frei von Dialektik wollen sie sich behaupten und hinterlassen. Daten erscheinen als gesichert, nicht als diffus. Ihre Relevanz ist unstrittig, sehen wir von plumpen Fälschungen ab.

„Die Zahlen sprechen für sich“, heisst eine viel zitierte Alltagsweisheit. Sie sind da und verfügen, alleine aufgrund ihrer Existenz. Kompetenz braucht Zahl. Mit Zahlen untermauern wir unsere Argumente, ohne Zahlen schauen wir ziemlich nackt aus. Unsere Meinungen haben verpackt zu sein in Fakten, alles andere fällt schnell unter das Verdikt der Unsachlichkeit. Schon allein dass Daten als „hard facts“ firmieren, somit als die Tatsachen erscheinen, die anzuerkennen sind, ist reine Zumutung, aber akzeptiert. „Soft skills“ kommen dagegen nicht an. Sinnliche Fülle und geistige Potenz werden durch Daten korrumpiert und amputiert.

Daten gelten als scharf und präzis. Sie werden geliefert und gespeichert, von ihrer Konstruktion und Produktion erfahren wir wenig. Es hat uns auch nicht wirklich zu interessieren. Montur und Montage sollen nicht gesehen werden. Zahlen und Zählen drängen uns ein additives Verhältnis zur Welt auf. Man hat dazuzuzählen. Jene bestimmen unser Verhalten, bevor wir überhaupt über so etwas wie Selbstbestimmung nachdenken können. Im ehernen Gehäuse von Wert und Werten sind sie vorgegeben.

Daten kodifizieren eine Weltsicht. Dass „Zahlen“ „zählen“ und „zahlen“ eng verwandt sind, ist offensichtlich. Sie können jedem Anliegen dienen, jedem Herrn eine Dirne sein. Grundform all dessen ist das Geschäft, also der Tauschakt in Form von Kaufen und Verkaufen. Das Geschäft, sofern es gelingt, ist immer ein Vergleich, wo sich „Tauschgegner“ (Max Weber) via Gleichsetzung bei einer Zahl treffen, wenn es ans Zahlen geht. Wenn wir einen Preis festlegen oder aushandeln, werden die Parameter auf einen einzigen reduziert: den Wert. Wert und Wertung machen gleich und ungleich. Gleich machen sie, weil sie alles auf eine Substanz beziehen und ungleich machen sie, weil sie Quanta auf deren Skala messen. Gleichheit ist die Bedingung von Ungleichheit. Gleichheit und Ungleichheit sind Ausdruck einer Egalisierung und Uniformierung.

Die Zahl kann immer nur sagen wie viel. Es ist schon so, dass Relationen zwischen Personen und Dingen, Zuständen und Ansichten bestehen, zweifellos, aber es ist nicht so, dass diese vorrangig als mathematische Quanta beschrieben werden müssen. Qualität ist kein blosser Ausdruck von Mass und Zahl, Wert und Preis. Wir tun aber geradewegs so. Aus „Jedes steht in Relation zu …“ wird ein „Jedes ist eine Relation von …“. A wird zu einer Grösse von B. Oder wie Marx sagte: „x Ware A = y Ware B oder: x Ware A ist y Ware B wert.“ (MEW 23, S. 63) Relation muss fortan als Relativität wahrgenommen werden. Wir sprechen hier einmal mehr von der Matrix.

Die Durchsetzung der Buchführung, das wissen wir spätestens seit Weber und Sombart, war kennzeichnend für den Kapitalismus und seine Rationalität. So meint Buchführung auch nicht aufschreiben, was wir denken und fühlen, tun und unterlassen, sondern festhalten, was wir einnehmen und ausgeben. Das Ich wird zur Recheninstanz seiner selbst. Überlegt wird nicht was ist, sondern was kostet. Dieses Leben, das fälschlicherweise „unser“ genannt wird, ist stets kontaminiert durch Kalkulationen von Zeit und Aufwand, vor allem aber von Geld. Ökonomie meint Berechnung und Berechenbarkeit. Aus allen Poren tropft die Kostenrechnung. Darauf sind wir trainiert und konditioniert. Von Kindesbeinen an. Wir sind die Buchhalter unserer monetären Existenz. So werden wir „zu Gläubigen in der Kirche der Zahlen“ (S. 47). Zahlen werden als korrekt anerkannt, sie besitzen über diesen Vertrauensvorschuss ein „kaltes Charisma“ (S. 28). Zahlen zählen, insbesondere wenn es ans Zahlen geht.

Reputation und Index

In Wirtschaft und Politik, Kultur und Wissenschaft dreht sich vieles um die „Bewirtschaftung von Reputation“ (S. 87). Nach dem H-Index geht es in der Wissenschaft um „die Anzahl von Publikationen, die mit einer bestimmten Häufigkeit in anderen Publikationen zitiert werden“ (S. 127). Der Wettbewerb um Aufmerksamkeit tritt „an die Stelle des Ringens um Erkenntnisse“ (S. 127). „Zitierdatenbanken“ (S. 129) werden angelegt, Seilschaften und Zitierkartelle sind die logische Folge. Jedes Zitat ein Inserat. Der und das Gehalt sind Konsequenzen von Verkaufswert und Index. Rating-Agenturen überwachen dieses Treiben, wo Anmerkungsapparate, Literaturverzeichnisse und Personenregister mehr bestimmen als die Inhalte. Unten und hinten, da wird gewogen.

Aus „Was spreche ich?“ wird unweigerlich ein „Wie entspreche ich?“. Renommee und Reputation, Erfolg und Karriere folgen den Kriterien des Marketings. Substanz wird subordiniert, oftmals substituiert. Wissenschaft gerät so zu einem seltsamen Zitierwettbewerb. Anstatt sich zu fragen, wie wir da rauskommen, fragen sich angehende Forscher wie sie da reinkommen und arrivierte wie sie da drinnen, d.h. letztlich im Geschäft bleiben. Das Performative schlägt das Argumentative um Längen. Es beeindruckt unmittelbar. Ist eingängiger. Erfordert weniger geistige Kapazität. Ein Blick in Tabelle oder Statistik genügt.

Gegen Reflexion wirken Daten resistent. Schon in den ersten Gehversuchen diagnostischer Sozialforschung wurde diese Richtung eingeschlagen. Für die Verfasser der Marienthal-Studie (1933) etwa war klar, dass sie „alle Impressionen wieder verwarfen für die wir keine zahlenmässigen Belege finden konnten“ (Marie Jahoda et. al., Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch, Frankfurt am Main 1975, S. 25). Erkenntnissen, die nicht bezifferbar sind, droht in solchen Verfahren die Ausscheidung. Das Benennbare wird auf das Zählbare reduziert. Kein Beleg ohne Rechnung. Fakten, die für sich sprechen, sprechen statt unser. Dass Daten höchstens Indizien sind, aber keine Urteile setzen, will diesem beschränkenden und daher auch beschränkten Denken nicht kommen. Der Schatten der Daten schwebt über uns: „Wir können ihnen nicht entkommen.“ (S. 107)

Das Unmessbare wird abgeschnitten, als nicht relevant befunden und somit für inexistent erklärt. Gerade die moderne Wissenschaft hat dieser Entsorgung sowohl des Sinnlichen als auch des Geistigen durch das Empirische massiv Vorschub geleistet. Wissenschaft und Verwertung sind synchronisiert. „Die Leugnung jeder der je einzelnen Sache innewohnenden Qualität zeichnete von Anfang an die Wissenschaft wie die Verwertung aus, also die Reduktion der qualitativen Vielfalt auf blosse Quantitäten einer gleichförmigen Substanz, im einen Fall der Arbeitswert, im andern Fall die mathematisierte Raum-Zeit.“ Vor allem die Gentechnologie habe, so Anselm Jappe weiter, „der Vorstellung von einem manipulierbaren Kontinuum Platz gemacht, wo die Gene einer Art auf eine andere Art und sogar zwischen verschiedenen Reichen (Pflanzen,Tieren, Bakterien, Viren) übertragen werden können.“ (krisis 24, S. 95)

Uns interessieren die diversen Werte, die eins auszuweisen und vorzuweisen hat, keineswegs das einzelne Exemplar in seiner Komplexität. Ein billiges Ich (S. 167f.) erscheint als kombinierbarer Datensatz (Kaufgewohnheiten, Bankkonten, Einkommen, Karriere, Versicherungspolizzen, Leberwerte, Gewicht, Blutdruck, u.v.m.) „Du bist Deine Daten“ (S. 169), sagt ein im Buch zitierter Vermessungsenthusiast. So sind wir auch angehalten, uns selbst zu vermessen, zu berechnen, zu bewerten und gegebenenfalls die Daten herauszurücken, sollten sie nicht abrufbar oder verfügbar sein. Kennen wir uns, wenn wir unsere Werte nicht kennen? Wohl kaum. Das Du kommt nicht sprechend zu uns, sondern entsprechend. Das Ich detto.

„Nur wer sich zählen lässt, zählt auch dazu“ (S. 234), sagt der Autor. Indes wäre das noch fundamentaler zu fassen: Nur wer gezählt wird, zählt. Aus den Dateien rauszufallen, ist oft schlimmer als von ihnen behelligt zu werden. Daraus folgt die Bereitschaft, ja der Wille, gezählt zu werden. Daraus folgt keine Flucht aus der Zählung, die ist wirklich ein Minderheitenprogramm. Wir wissen: Wer nicht erfasst ist, kommt nicht vor. Man steht dann ausserhalb der Community, wird ideell und oft auch reell ausgebürgert. Wer kann sich das schon leisten? Die Membran der Daten schützt auch vor Übergriffen und befähigt zu ebensolchen. Sie ist gar nicht so dünn, besteht sie doch aus mit Haut verwobener Gallerte. Als Ameisen der Verwertung haben wir diese dicke Schutzschicht auch bitter nötig.

Totale Optimierung

Gewechselt haben aber Kategorisierung und Positionierung der Einzelnen. Leute werden nicht mehr als Klassensubjekte wahrgenommen sondern als „sozial statistische Solitäre“ (S. 271). An dieser „Hyperindividualisierung“ (S. 272) ist freilich nichts individuell. Sie kommt „nicht als Befreiung und Emanzipation daher sondern als Separierung des Einzelnen durch statistische Erkennung“ (S. 272). Nach wie vor wird man identifiziert, aber lediglich als lediges Subjekt. Früher wurden Leute in Kollektive (z.B. die Arbeiterklasse) gedrängt, heute werden sie aus ihnen rausgepresst, vereinzelt, atomisiert. Gemeinschaften, gar Solidargemeinschaften gehört man nicht mehr an, man müsste sie selbst setzen. Das funktioniert allerdings kaum, da ist die Flucht ins Autoritäre, die ein gewichtiger, aber irrer Schritt zur Ermächtigung Ohnmächtiger ist, näher. Da kann man sich noch anhalten, so fiktiv die Haltegriffe auch sein mögen.

Tatsächlich ist es so, dass „die Individuen eine gemeinsame Klassenlage in der Vereinzelung gar nicht mehr zu erkennen vermögen. Das metrische Wir ist eine Masse aus Individuen, die im Wettstreit miteinander stehen, kein solidarisches oder kooperatives Wir.“ (S. 274f.) Das Gefühl, das vermittelt werden soll und auch um sich greift, lautet: Wir sind nichts, aber ich kann es schaffen. So wird einmal mehr jeder zu seines Glückes Schmied und betätigt sich mit Eifer als Schmiedemeister. Dem metrischen Wir „entkommt“ das metrische Ich durch praktizierte Affirmation. Wichtiger als das Bekenntnis ist der Vollzug allemal.

Fortan heisst es fleissig „Statusarbeit“ (S. 283) zu leisten. Dazu müssen wir uns stets upgraden und updaten, um auf dem erforderlichen Level mitspielen zu dürfen. Gefordert ist permanentes Partizipieren. Modus ist das Partizip I – updatend, Ziel ist das Partizip II – upgedatet. Da zweiteres nicht zu erreichen, tagt ersteres in Permanenz. Selbstoptimierung wird zur Pflicht. Sie ist eine Zumutung, der mit einer adäquaten Zurichtung entsprochen wird. Dem durchgestrichenen Ich geht es nicht um sich selbst, sondern um seine Rolle, um die stets fällige Behauptung auf Märkten oder Quasi-Märkten. Es gilt konkurrenzfähig zu werden oder zu bleiben. Optimierung meint jedoch Minderung, nicht Entfaltung. Du musst alles aus Dir rausholen! Was soll dann noch drinnen sein?

Schutzgesetze für Subalterne sollen der Vergangenheit angehören, gleich allen anderen bürgerlichen Bürgern treten sie nun ganz frei in diesen zusehends globalen „Wettbewerb der Individuen“ (S. 274) ein. Was alle können, vermögen die wenigsten. Liberale Nachtwächter träumen bereits das bürgerliche Märchen vom Ende des Kollektivvertrags. Freie Rechtssubjekte vereinbaren mit freien Rechtssubjekten freie Verträge. So viel Freiheit war noch nie. Die Welt ist so frei wie abgefeimt. Immer loser wirkt die befreite Masse, immer mehr gleicht sie einer verlorenen Herde. Noch haben sie zwar die Staatsbürgerschaft, die Bürgschaft ihres Staates, aber auch die könnte prekär werden. Den Zugelaufenen will man sie erst gar nicht erst gönnen.

Vergleich als Bewertung

Natürlich stimmt es, dass Menschen sich vergleichen, um sich zu unterscheiden. Doch diese Sichtung oder Begutachtung ist a priori noch keine Bewertung, sie schuldet sich vielmehr sinnlicher Synthetisierung wie geistiger Reflexion. So einfach sie erscheint, so komplex ist sie in ihrer Komposition. Sie ist Aussage. Gegenüberstellungen laufen (vorerst) nicht auf einer messbaren Skala ab, sie behaupten keine Objektivität, sie sind Schätzung, nicht Wertung. Skalen vermögen überhaupt nicht mehr wiederzugeben als empirische und nummerische Relative.

Dass etwas höherwertig oder minderwertig ist, ist nicht vorgegeben. Das „Anders“ ist nicht unmittelbar an ein „Besser“ oder „Schlechter“ gekoppelt. Damit „grösser“, „schneller“, „fester“ und vor allem „mehr“ als besser erscheinen, dazu bedarf es schon einer speziellen Aufladung. Die monetären und mathematischen Massstäbe, von denen wir sprechen, sind allesamt soziales Diktat. Sie folgen bestimmten benennbaren Mustern der Kapitalherrschaft. Da aber Usus, fallen sie gar nicht erst als besondere auf. Bewertung beschreibt einen Filter, wo alles, was abweicht, je nach Methode, Aufgabenstellung und Zielvorgabe ausgesiebt und entsorgt wird. Keine noch so differenzierte Berechnung kann taxieren, was kompetente Affekte erfassen.

Identifizieren und Differenzieren sind noch keine Bewertung, sondern eine Einschätzung. Die „sozialen Grammatiken von Höher- und Minderbewertungen“ (S. 52), sind nicht impliziert, sondern werden oktroyiert. Der Unterschied macht noch keine Wertigkeit. Diese verlangt ausdrücklich eine dezidierte Benotung und Platzierung auf einer Skala. Status und Statusgefühl, werden notwendig, wenn Eingebundenheit und Aufgehobenheit keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern erst durch hierarchische Rangordnungen vermittelt werden. Ansehen und Anerkennung sind demnach nicht gegeben, sondern müssen erworben werden. Status und Modus gehören zusammen.

Ranking und Rating sind logische Konsequenzen. Sie sind natürlich nicht freiwillig, wir sind schliesslich bei keinem Sportwettbewerb. Man nimmt teil, ob man will oder nicht. Man spielt nicht bloss mit, es wird einem geradezu mitgespielt. Verbunden sind Ranking und Rating mit Blaming und Shaming. (Vgl. S. 78) Fordern geht vor Fördern. „Ergebnisse von Rankings werden desto ernster genommen, je mehr man davon überzeugt ist, dass sie auch von anderen ernst genommen werden; und je ernster man sie nimmt, desto ernster nehmen sie auch die anderen. Interne und externe Beobachtungen und Relevanzvermutungen schaukeln sich gegenseitig auf.“ (S. 86)

Blinder Fleck

Sie sind keine Synonyme. Im Gegensatz zur Wertschätzung ist Anerkennung keine Kategorie der Konkurrenz. Wertschätzung ist kapitalistisch kanalisierte Anerkennung, sie konstituiert diese stets als Analogon des Marktes. Dass „jeder nach Wertschätzung strebt“ (S. 68), wie Mau behauptet, ist so nur bedingt richtig, nicht allgemein gültig. Der empirische Befund gerät zu einer ontologischen Grösse. Deskription und Norm kommen durcheinander. Aus dem unentwegten Müssen wird ein ehernes Sollen und aus dem Sollen ein Wollen, das einfach Dasein behauptet und keine Renitenz dulden möchte. Da ist ein blinder Fleck. Sozialwissenschaften verfahren mit den Begriffen Wert und Werte so salopp, als hätte der gemeine Menschenverstand dazu bereits alles Nötige gesagt. Der Charakter dieser Immanenzkategorien wird nicht erkannt. Erst die kapitalistische Globalisierung betreibt eine, d.h. ihre Universalisierung auf der Linie des Werts und seiner Werte.

Am schwächsten sind (wie so oft) auch bei Mau die beiläufigen Passagen zu Wert oder Wertigkeit ausgefallen. Und zwar weil der Autor sich aus naheliegenden, aber folgenreichen Umständen weigert, die Terminologie der Werte zu prüfen. Seine Kritik beginnt erst danach. Er verschont das Zentrum, obwohl er alle Resultate einer nüchternen, scharfen und treffenden Beurteilung zuführt. Weshalb sollen unterschiedliche Logiken unbedingt „Wertigkeitslogiken“ (S. 67) sein? Warum pickt der Begriff so automatisch vorne an? Wohl nicht weil es so ist, sondern weil wir bloss in der Sprache dieses Vokabulars und seiner Vorgaben denken können. Weil Anerkennung und Aufgehobenheit heute lediglich als Wert und Werte transkribiert werden. Unsere Kategorien schwimmen und verschwimmen allesamt in der bitteren Sauce der Verwertung.

„Benennung zeigt sich, wo es gelingt, bestimmte Kategorien und Klassifikationen zu etablieren, die dann wiederum als ‚strukturierende Struktur' die Gesellschaft prägen.“ (S. 186) Doch diese Kritik der Benennungsmacht wirkt hilflos. Der Kampf um Begriffe ist keiner der Diskurse. Ihre schlichte Attraktion ist eine praktische, keine des theoretischen Streits. Grundbegriffe sind stets Realabstraktionen, nicht Gedankenabstraktionen, sie stellen sich synthetisch und nicht analytisch her. Sie herrschen sich uns auf, entspringen der Vehemenz wie der Penetranz des bürgerlichen Alltags, seinen ständigen Repetitionen.

Im Mittelpunkt des bürgerlichen Wortschatzes stehen die grassierenden Wertworte. Die Etagen dieses Vokabulars (Wert, Preis, Gehalt, Lohn, von den unzähligen Verba und Adjektiva ganz abgesehen) sind schier zahllos. Sprache vollzieht Sozietät reflexiv, nicht reflektiert. Man kann und soll dieser Terminologie die Stirn bieten, aber überwinden und zersetzen lässt sich dieser Jargon nur, wenn die gesellschaftliche Entwicklung ihm den Boden entzieht und das Zentrum der sprachlichen Schlüsselkategorien selbst angreift.

Franz Schandl
streifzuege.org

Steffen Mau, Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, edition suhrkamp, Berlin 2017. 308 Seiten, ca. 24.00 SFr. ISBN 978-3518072929