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Stefan Donath: Protestchöre

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Stefan Donath: Protestchöre Störende Stimmen, störende Körper

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Sachliteratur

Methoden des Theaters können politischen Widerstand bereichern. Ob die performativen Proteste eine wirkliche Alternative darstellen, bleibt fraglich.

Strassenbibliothek in New York während den Occuppy Wall Street Protesten, 2011.
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Strassenbibliothek in New York während den Occuppy Wall Street Protesten, 2011. Foto: David Shankbone (CC BY 3.0 cropped)

Datum 28. Mai 2019
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Als sich die zahlreichen Ereignisse des aktiven Widerstands gegen die herrschenden Regime in Tunesien, Ägypten, Syrien oder auch Spanien überschlugen, lag eine massgebliche Besonderheit der Aufstände in ihrer Organisationsform. Gehör und Teilhabe lässt sich im 21. Jahrhundert am effizientesten durch die neuen, sozialen Medien verschaffen. So wurden insbesondere über Facebook und Twitter Zeugnisse von repressiver Gewalt, aber auch die Erfolge der widerständigen Aktivist*innen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Gleichzeitig ist es den User*innen heute leichter möglich, Informationen über spontane Demonstrationen und andere Aktionen zu bekommen oder die Geschehnisse zumindest zu kommentieren. Die Geschichte der globalen Proteste zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird nicht nur von zahlreichen Aktivist*innen gestaltet, sie wird auch von den Nutzer*innen der sozialen Medien aufgeschrieben, verbreitet und dokumentiert.

Chöre statt Demos?

Donaths Interesse entspringt der Dichte der Protest- und Umsturzereignisse in etwa 900 Städten und etwa 80 Ländern, die sich zwischen Sommer 2010 bis hin ins Jahr 2011 in weiten Teilen der Welt zugetragen haben. Er bezieht sich dabei im Einzelnen auf die New Yorker Occupy-Wall-Street-Bewegung (2011), den Widerstand gegen das ägyptische Regime in Kairo (2010) sowie die wütenden Bürgerchöre gegen das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ in Deutschland. So beschreibt er sehr ausführlich die eindrucksvolle chorische und ästhetische Intervention durch die sogenannten „Schwabenstreiche“.

Dabei handelt es sich um ein Protestformat, das der Theaterregisseur Volker Lösch gemeinsam mit empörten, engagierten Bürger*innen inszenierte, damit diese ihren Ärger über das Grossbauprojekt „Stuttgart 21" Luft machen konnten. Eine Art Theatralisierung des „Wutbürgers“. Ab dem 28. Juli 2010 zielte ebendieser Bürgerchor darauf ab, täglich lautstark den Stuttgarter Stadtraum zu beschallen. Als eine Form ästhetischer Intervention, machte der kollektive Stimmkörper wirkungsvoll auf sich aufmerksam. (S. 243)

Donath bezieht sich in seinen Analysen primär auf den Chor als eine Organisationsform temporärer, kollektiver Identitäten. Das bedeutet unter anderem, dass gerade der Protestchor von jeglicher Verbindlichkeit, wie einer Partei- oder Vereinszugehörigkeit entbunden ist und somit eine soziale Verpflichtung entfällt.

Der Autor verwendet für sein Vorgehen stets den Begriff des Performativen, den schon die US-amerikanische Philosophin und Gendertheoretikerin Judith Butler aufgriff und später die deutsche Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte in ihrer „Ästhetik des Performativen“ populär machte. Ein kluger Schachzug, so möchte man meinen, denn performativ bedeutet in der einfachsten Übersetzung nichts anderes als etwas hervorbringen. Genau das, was Wiederständige tun: Sie erzeugen durch ihre körper- und stimmlichen Aktionen auf radikale Weise Realität.

Das knapp eineinhalb Kilo schwere Buch liesse sich wunderbar in zwei Bände splitten. Der erste Teil beinhaltet enorm viele Informationen und Querverweise, die sich leider nur schwer im Gedächtnis behalten lassen. Ohne Vorwissen wird er zur Qual, doch selbst mit Vorkenntnissen bringt er wenig Spass. Der zweite Teil erfrischt dann mit tiefgehenden Beschreibungen der titelgebenden Protestphänomene, um so an das Wesen jenes temporären, kollektiven Körpers zu gelangen. Der Chor kann als Sprech-, als Gesangs- oder gar als stumme Körpergemeinschaft in ein Ereignis intervenieren und es dadurch stören.

Es bleibt zwar fraglich, ob dieser Protest nicht zu schnell an seine Wirkungsgrenzen stösst, da strukturelle Protestformen leider nicht betrachtet werden. Dennoch sieht Donath hier politisches Potenzial: Durch das erfolgreiche Erringen von Aufmerksamkeit wird Verwirrung gestiftet, da die Schnittstelle zwischen Kunst und politischem Handeln zusehend verschwimmt. Donaths Beschreibungen erinnern an künstlerische Aktionen bzw. Interventionen im öffentlichen Raum, bei denen die Kunstschaffenden die Beobachtenden durch ebendiese Uneindeutigkeit in die Irre geführt haben. Denken wir nur an Christoph Schlingensiefs Container Projekt „Ausländer raus!“, welches im Rahmen der Wiener Festwochen 2000 in Wien für massive Empörung seitens der zufälligen Rezipient*innen sorgte.

Die Choreografien des stillen Widerstands

Das interessanteste Beispiel für eine chorische Intervention, welche Donath beschreibt, ist der stille Widerstand, der sich im Jahr 2010 in zahlreichen Städten Ägyptens ereignete. Nachdem der Blogger Khaled Said auf offener Strasse von Geheimdienstpolizisten erschlagen wurde, löste sein Tod eine Welle der Wut und Verzweiflung aus. Über Facebook organisierte Wael Ghonim, einer der Protagonist*innen der ägyptischen Revolution, eine raffinierte Aktion: Aufgrund der hohen Gefahr, Protest laut zu äussern, musste eine andere Variante gefunden werden, um dem Unmut Ausdruck zu verleihen.

So organisierten sich tausende Menschen, um gemeinsam im stillen Gedenken in Form einer Menschenkette zu trauern und schweigend zu protestieren. Sie versammelten sich entlang der Küstenstrasse in Alexandria, in einem Abstand von fünf Metern zueinander. So wurden sie nicht als Menschenmasse gelesen, die es aufzulösen galt. Sie schauten in die untergehende Sonne Richtung Meer. Ihre stille Anwesenheit brachte den Fokus auf die Präsenz ihrer Körper. Donath schreibt:

„Die Proteste inszenierten in besonderer Weise die Körper der Protestierenden. Ihre politischen Mobilisierungen stellten zunächst friedliche Zusammenkünfte dar, die Forderungen nach demokratischen Veränderungen durch den bewussten Verzicht auf Mittel der Gewalt unterstrichen. Die Kraft des Protests entstand weniger durch Praktiken der Dominanz, als dadurch, dass die Demonstrierenden ihre Körper in koordinierter Weise öffentlich in Erscheinung treten liessen“ (S. 298).

Ein Chor muss demnach nicht zwangsläufig singen, sprechen oder rufen. Schon gemeinsam handelnde Menschen können einen Chor darstellen. Weibliche* Körper im männlichen* Protest?

Stefan Donaths Werk stellt nicht nur einen umfangreichen theaterhistorischen Abriss des Chores dar, der Autor zeigt ausserdem ein grosses Interesse an der Vielfalt globaler Protestereignisse. Donath ist sich stets der Leerstellen seiner Arbeit bewusst und versucht anhand zahlreicher Fragestellungen einen Diskurs zu eröffnen, der sich gezielt an Peter Weiss' Werk „Die Ästhetik des Widerstands“ anlehnt. Unter der Frage, ob intervenierende ästhetische Verfahren im öffentlichen Raum etwas bewirken bzw. verändern können, arbeitet er sich unermüdlich an den drei Beispielen von Stuttgart 21, dem Arabischen Frühling und der Occupy-Bewegung ab. Immer wieder bezieht er grosse Denker*innen und Wissenschaftler*innen mit ein, was ein erhebliches Vorwissen unabdingbar macht. Stimmen aus den Protestcommunities sind nur vereinzelt zu finden – die eigentlichen Protagonist*innen dieser Arbeit bleiben stumm.

Auch wenn Donaths Protestanalyse, die sich primär aus Begutachtung von Videos zusammensetzt, nur spekulativ sein kann, greift sie an einigen Stellen zu kurz. So hätte dem Blick auf chorische Verfahren gerade im arabischen Raum und bei den Occupy-Protesten im Zuccotti Park in New York eine Genderperspektive gutgetan. Denn, so begeistert wie sich Donath über die Aktivist*innen zeigt, darf nicht vergessen werden, dass es gerade bei Occupy vermehrt zu sexuellen Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen gekommen ist. Auch die Beteiligung an Protesten der „Arabellion“ stellt für Frauen* übermässige Gefahren dar. Dass es einen Unterschied macht, ob der weibliche* Körper im öffentlichen Raum Präsenz zeigt, wie es im stillen Protest für Khaled Said der Fall war, wird in Donaths Werk lediglich kurz angerissen. Dennoch lässt sich festhalten, dass die Theaterwissenschaft eine innovative Bereicherung für die zeitgenössische Protestforschung sein kann.

Paula Perschke
kritisch-lesen.de

Stefan Donath: Protestchöre. Zu einer neuen Ästhetik des Widerstands. Stuttgart 21, Arabischer Frühling und Occupy in theaterwissenschaftlicher Perspektive. transcript, Bielefeld 2019. 483 Seiten, ca. 38.00 SFr. ISBN 978-3-8376-4405-0

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