Robert Castel: Die Krise der Arbeit Paternalismus, Lohnarbeit & Staatsfetisch
Sachliteratur
Ein Buch, das zur Entwicklung einer Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation oder zur Befreiung von Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnissen nur wenig beiträgt.


Robert Castel: Die Krise der Arbeit. Foto: © CEphoto, Uwe AranasCC BY-SA 3.0 unported - cropped
Castel schreibt aus einem Blickwinkel, der weder grundsätzliche Kritik an der Lohnarbeit noch an kapitalistischer Staatlichkeit zulässt, noch einer solchen Kritik zumindest wissenschaftlich brauchbare Argumente liefern könnte. Der Sozialstaat war gut, sein Abbau durch den Neoliberalismus ist schlecht, die historische ArbeitERbewegung gut, die Verbände des Kapitals schlecht, Vollzeitarbeit gut, Prekarisierung schlecht usw.
Früher war alles besser, so einfach kann in diesem Fall eine Zusammenfassung eines 380-seitigen Buches sein. Dass gesellschaftlicher Widerstand, dass soziale Bewegungen wenn schon nicht die ausschlaggebende, so doch zumindest eine wichtige Rolle in Prozessen sozialer Veränderung einnehmen, dass zumindest bestimmte Aspekte des Prozesses der Prekarisierung auch befreiende Wirkungen gegenüber der homogenen Geschlossenheit des fordistischen Sozialstaats haben könnten, dass MigrantInnen wie auch ArbeiterInnen überhaupt auch eigensinnig Handelnde und nicht lediglich interessensverbandlich bzw. repräsentativ-politisch zu Behandelnde sein könnten, all das kommt Castel tatsächlich nicht in den Sinn.
Überwiegend von Frauen geleistete Reproduktions- und Care-Arbeit als zentrale Aspekte neuerer Diskussionen zur Transformation von Arbeit und emanzipatorischer Strategien? Fehlanzeige! Soziale Bewegungen als Triebkräfte gesellschaftlicher Transformationsprozesse? Nicht die Spur! Dabei ist in erster Linie nicht die mangelnde „Radikalität“ der politischen Position kritikwürdig, sondern der nicht vorhandene Blick auf die feinen Veränderungen „von unten“ im Rahmen der „Krise der Arbeit“. Wenn diese ausschliesslich durch die fordistisch-korporatistische Brille betrachtet wird, so wird tatsächlich Staatsideologie produziert. Zitat gefällig?
„Die Möglichkeit ein Individuum zu sein, wurde zumindest für die ‚Nichteigentümerklasse‘ durch den Sozialstaat geschaffen (…) Manche seiner heutigen Kritiker haben offenbar keine Vorstellung davon, wie eine ‚Gesellschaft der Individuen‘ ohne Staat aussehen würde; man lese dazu noch einmal den ‚Leviathan‘ von Hobbes.“ (S. 366)
Daher weht der Wind also! Dementsprechend befinden sich alle Veränderungsvorschläge von Castel strikt im nationalstaatlichen Rahmen, ihre Durchführung wird in schlechtester sozialtechnischer Manier den Regierungen überlassen – die ja bekannter Weise schon seit Jahren nichts Besseres zu tun haben als Reformen durchzuführen, die die Situation der breiten Masse der Bevölkerung verbessern…
Deshalb habe ich das Buch nicht zu Ende gelesen. Und deshalb werde ich auch nicht allzu viel Zeit für weitere Facetten meines Ärgers in diese Nicht-Rezension fliessen lassen. Zwei Dinge seien jedoch abschliessend noch erwähnt: Wer heutzutage tatsächlich noch glaubt, dass Formen des klassischen sozialdemokratischen Reformismus eher umsetzbar sind als andere – ja, durchaus auch revolutionäre – Strategien gesellschaftlicher Transformation, der, so viel Arroganz muss sein, ignoriert schlicht die gegenwärtige gesellschaftliche Realität. Und wer zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch glaubt, dass nationalstaatliche Formen der Re-Regulierung in Europa eine brauchbare politische Strategie befeuern können, der war auch schon vor der Krise auf dem Holzweg.
2012 hingegen ist das nur mehr absurd. Wer allerdings heute noch immer auf den Beweis dafür wartet, dass die Sozialdemokratie am Ende ist, dem beziehungsweise der sei das Buch nachdrücklich empfohlen – denn damit lässt es sich fröhlich weiter warten; oder auch Bankenrettungs- und Bevölkerungsbelastungspakete beschliessen, Abschiebungen organisieren und Leute „fit“ für miserabel bezahlte Scheiss-Jobs zu machen!
Robert Castel: Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums. Hamburger Edition, Hamburg 2011. 383 Seiten. ca. 39.00 SFr, ISBN 978-3-86854-228-8
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