Bürgerliche Wissenschaft und ihre Fehler (Teil 4) Der Materialismus der dummen Kerle oder Denunziation als Wissenschaft

Sachliteratur

1. Oktober 2016

Diese Rezension ist Teil der Reihe „Bürgerliche Wissenschaft und ihre Fehler“.

Büste von Karl Marx in Berlin.
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Büste von Karl Marx in Berlin. Foto: Ralf Roletschek (CC BY-NC-ND 3.0 cropped)

1. Oktober 2016
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In den Universitäten wird Wissenschaft betrieben, die sich in ihren sozial – und geisteswissenschaftlichen Abteilungen für die offene Gesellschaft und gegen ihre Feinde ausspricht. In dieser kurzen Reihe werden ausgesuchte Veröffentlichungen dieser Wissenschaften rezensiert und sich die Zeit für einen genaueren Blick auf diese Ergebnisse dieser Wissenschaften genommen.

Wer in einer Diskussion Argumente bemüht die, zu Recht oder Unrecht, als marxistisch entlarvt werden, hat es nicht selten mit einer ganz besonderen Art der Kritik zu tun. Neben den Evergreens von der „Natur des Menschen“, die der alte Theoretiker leider nicht berücksichtigt hätte, sowie der falschen Anerkennung „das der Kommunismus auf dem Papier ja super sei, aber leider so nicht funktioniert“ tritt dabei auch ab und an eine andere Form der wissenschaftlich anerkannten Kritik: So wird in dicken Büchern der Beweis geführt, was für eine Sorte Mensch dieser Dr. Marx eigentlich war.

1.) So präsentierte Richard Friedenthal uns Postum 1981 eine Biographie des Theoretikers des Kommunismus, wobei er sehr bescheiden Auftritt: „Die vorliegende Biographie von Richard Friedenthal will weder eine neue Exegese des Marxschen Werkes sein noch Kritik an seiner Philosophie und Lehre üben“ (623). Wer so bescheiden ist, kann danach natürlich umso wilder mit „Dr. Marx“ abrechnen: „Unbequeme Tatsachen zu übergehen und von vornherein als gar nicht existent zu betrachten war eine seiner Eigenheiten, die er auch im Politischen anwandte“ (39). Das zu beweisen ist allerdings gar nicht nötig, weil es um eine Kritik an seiner „Lehre“ ja gar nicht geht – einzig der Mensch Marx soll so charakterisiert sein.

Diese Methode lässt sich dann lässig auf alles anwenden. Egal, welche noch so kleine biographische Notiz, welche persönliche Marotte oder Unzulänglichkeit; alles dient dazu, etwas über die Theorie auszusagen, über die man nichts auszusagen hat. Selbst das betrunkene Randalieren wird da zum Ausdruck einer „grundsätzlichen Überzeugung, die Deutschen seien doch im Grunde grenzenlos überlegen an politischer Intelligenz“ (63).

Zu ihrem gerechten Ende kommt die Floskel, dass man die Theorie des „Dr. Marx“ ja nicht kritisieren wolle, mit dem immer wieder verwendeten Verweis: „Es wäre leicht, ihm seine Mängel darin nachzuweisen, aber ich will nicht hüstelnd den Kritiker des Kritikers spielen“ (156) oder gleich der Behauptung, es handele sich beim Marxismus um so etwas wie ein in sich geschlossenes Wahngebäude: „Es beruht auf bestimmten „Voraussetzungen“ und kann nur innerhalb dieser verstanden und diskutiert werden“ (284) Der Inhalt wird also verworfen, ohne ihn überhaupt an einer einzigen Stelle zu widerlegen, denn auch hier folgt stante pede: „Kritik der Marxschen Lehre ist nicht mein Thema“ (284). Das wäre nämlich viel zu „leicht“ für einen Biographen, der sich einer viel schwereren Aufgabe verpflichtet hat:

2.) Die schwere Frage, die sich ein Richard Friedenthal gestellt hat und auf über 600 Seiten zu beantworten sucht, ist nämlich die Vulgärmaterialistische, welche Bedingungen dazu geführt haben, dass Marx mit seiner Theorie gar nicht richtig liegen konnte. Den Fehler selbst nachzuweisen wäre ja viel zu einfach! Statt dessen soll untersucht werden, was der gute Marx alles unterlassen hat, was er selbst für Schrullen und Seltsamkeiten hatte, und so eine Kritik formuliert, die ohne ein einziges Argument gegen die Theorie auskommt.

So findet der fleissige Biograph heraus, dass jemand mit so einem Leben ja eigentlich nur falsch liegen kann: „Wie eine Handelsfirma, eine Fabrik, ein kaufmännisches Büro arbeitet, hat er lediglich aus der Literatur entnommen oder allenfalls Gesprächen mit dem Freund Engels. Selbst eine kleinere, bescheidene Kaufmannsfirma hat er kaum je betreten“ (516). Ja, wie soll so einer denn auch etwas Richtiges über die Arbeit in den Fabriken schreiben, wenn er sie nur vom Hörensagen kennt?! Und dann die schlechte Quellenlage der damaligen Zeit: „Marx verfügte lediglich über sehr zufällige Daten und Fakten und schritt mit Siebenmeilenstiefeln über die Jahrhunderte hinweg“ (519).

Der Fehler dieses Materialismus ist, dass alle diese Verfehlungen am Stoff zu finden sein müssten, wenn sie denn tatsächlich die Theorie verzerren würden. Die fehlende Quelle müsste eine Schlussfolgerung blamieren, die Marx gezogen hat, der fehlende Fabrikbesuch ein Argument widerlegen, dass im Kapital formuliert ist. Dieser Nachweis wird allerdings gar nicht geführt, sondern schlicht als „einfach“ behauptet. Somit wird die Kritik durch Denunziation ersetzt: „So einer“ kann ja keine richtige Theorie abgeliefert haben!

3.) Nebenbei fallen dann immer wieder falsche Bestimmungen von dem, was das Buch zwar nicht behandelt, aber eben doch Denunzieren will: die Theorie von Marx. So soll die „Arbeitsteilung […] für Marx der Grund allen Unheils [sein]; ihre Aufhebung eines der Hauptziele des Kommunismus“ (281). Tatsächlich hält Marx bereits im ersten Kapitel des Kapitals fest, das zwar Arbeitsteilung „die Existenzbedingung der Warenproduktion, obgleich Warenproduktion nicht umgekehrt die Existenzbedingung gesellschaftlicher Arbeitsteilung“ [MEW 23/56] ist. Seine Kritik gilt also explizit nicht der Arbeitsteilung, sondern der spezifischen, eben warenproduzierenden: denn „nur Produkte selbstständiger und voneinander unabhängiger Privatarbeiten treten einander als Waren gegenüber“ [MEW 23/57]. Nun allerdings jeden Fehler aufzuzählen, wäre doch zu leicht...

P.s.: Dieser Materialismus der dummen Kerle ist keineswegs den Biographen vorbehalten, sondern findet seine Entsprechung in der kritischen Wissenschaft (die sich oft als Links empfindet). Ganz jenseits des Inhalts werden da Seilschaften offenbart, Verhältnisse offengelegt und Geldflüsse aufgezeigt, ganz so, als ob ein Gedanke schon widerlegt sei, nur weil sein Autor denunziert wurde. In der aktuellen Debatte um die Industrie 4.0 sieht eine solche „Argumentation“ dann so aus: „Der BITKOM – bei dem wir die Interessen seiner Mitglieder an Industrie 4.0 kennen – gab eine interessante Studie in Auftrag. Bis dahin recht unspektakulär. Das Neue daran ist, dass sich ein Frauenhofer-Institut zu wissenschaftlich fraglichen Blicken in die Glaskugel hinreissen liess.

So geschehen im Jahr 2014, als der BITKOM das Frauenhofer IAO beauftragte, genau das zu tun. Anders ausgedrückt: Ein Nutzniesser von Industrie 4.0 beauftragt einen anderen Nutzniesser von Industrie 4.0 damit herauszufinden, welcher Nutzen mit Industrie 4.0 denn verbunden ist“ (90). Oh, du wunderbare Welt der Wissenschaft! In dir kann eine Studie direkt als „wissenschaftlich fraglich“ identifiziert werden, ohne deinen Inhalt überhaupt zu kennen. Und selbst wo noch eine inhaltliche Befassung folgt: Wo die Argumente widerlegt werden, ist die Seilschaft obsolet, wo die Argumente stimmen erst Recht. In jedem Fall soll also Skepsis erzeugt werden, ohne den Inhalt zu prüfen.

Berthold Beimler

Richard Friedenthal: Karl Marx. Sein Leben und seine Zeit. Piper Verlag GmbH, München 1988. 652 Seiten, ca. SFr 14.00. ISBN 978-3492111720