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Oskar Lubin: Postanarchismus. Glossen mit Fussnoten.

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Oskar Lubin: Postanarchismus. Glossen mit Fussnoten. Gelungene postanarchistische Glossen

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Sachliteratur

Eine schöne Textgattung entfaltete Oskar Lubin in seiner Sammlung Postanarchismus. Glossen mit Fussnoten. Darin finden sich ganze 39 kurze Aufsätze, die er fast alle über einen längeren Zeitraum in der Graswurzelrevolution veröffentlicht hat.

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Datum 14. Juni 2025
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Ihre Zusammenstellung in einem eigenen Bändchen lohnt sich dennoch und bieten eine kurzweilige Lektüre für Strassenbahnfahrten oder ähnliche Gelegenheiten.

Wie im Titel bereits angedeutet wird, verfolgt der Autor einen postanarchistischen Ansatz. Mit dem Inhalt und Nutzen postanarchistischer politischer Theorien habe ich mich selbst intensiv beschäftigt und erhielt insbesondere durch Richard Days Gramsci is dead (2005) und Saul Newmans The Politics of Postanarchism (2010) wichtige Impulse, die ich unter anderem in einem postanarchistischen Ansatz zur Untersuchung sozialer Bewegung (2019), der theoretischen Figur der (Anti-)Politik und einem Denken in Paradoxien und Spannungsfeldern verarbeitet habe.

Zum einen scheint die begrenzte akademische Debatte um Postanarchismus weitgehend abgeschlossen zu sein. Andererseits sind poststrukturalistische Denkweisen durch dekoloniale und queerfeministische Theorien in vielen anarchistischen Kreisen mittlerweile weitgehend verbreitet. Dabei erhalten sie gelegentlich noch Widerspruch durch Befürworter*innen materialistischer Klassentheorien und insurrektionalistische Fundamentalist*innen. Die Themen, welche im Postanarchismus stark gemacht werden – wie beispielsweise die subjektive Prägung durch Herrschaftsverhältnisse, die Relationalität im gesellschaftlichen Gefüge, die Konstruktion von Begriffen und die Verhandelbarkeit ethischer Grundlagen – sind nach wie vor aktuell. Lubin verarbeitet sie in anschaulichen, kurzweiligen Erzählungen.

Damit leistet er eine Übersetzungsarbeit von teilweise umfangreiche und komplizierten, akademischen Kulturtheorien und politischen Theorien, hin zu Ansatzpunkten, unsere eigene Gedanken- und Gefühlswelt zu hinterfragen. Eine Stärke liegt dabei in Lubins Fokussierung auf einzelne Schlüsselbegriffe wie Solidarität, Minderheiten, Institutionen, Volk, Kommunismus, Moral, Subversion, Utopie oder Politik. Wer pauschal kritisiert, dass dies zu abstrakt sei, wehrt sich meines Erachtens nach gegenüber den wichtigen Impulsen, welche durch intellektuelle Tätigkeit angestossen werden. Beispielsweise sind Kritiken an der Verwendung leerer Phrasen, die Bezugnahme auf abstrakt-utopische Zielvorstellungen, die Idealisierung von Unterdrückten, dem Moralismus in linken und der Verweigerung strategischen Denkens in anarchistischen Kreisen weiterhin angebracht und erforderlich.

Dennoch gibt es einige Punkte, die ich an Lubins Perspektive kritisieren möchte. Zunächst scheint die intellektuelle Beschäftigung und Distanz teilweise zu einem Biedermeier-Anarchismus zu verkommen. In diesem gibt es zwar eine tiefgreifende Einsicht in und Kritik an Herrschaft. Doch zu realen Organisationen und Aktionsformen besteht eine starke lebensweltliche Distanz, die eher als eine Erinnerung an die wilde Jugendzeit daher kommt. Dagegen lässt sich wiederum sagen, dass die Gedankengänge und Beispiele trotz dieser Positionierung erstaunlich aktuell und kenntnisreich sind.

Zweitens irritiert mich, dass Lubin sich selbst als „Postanarchist“ beschreibt. Denn immerhin handelt es sich dabei erklärtermassen um einen bestimmten Ansatz und Blickwinkel zur Hinterfragung und Erneuerung des Anarchismus. Der Postanarchismus ist hingegen keine Positionierung, die mit bestimmten Strategien, Organisationsansätzen oder Methoden einhergeht (wie der syndikalistische, kommunitäre oder kommunistische Anarchismus). Somit entsteht – wider der erklärten Absicht des Autors – der falsche Eindruck, es würde sich dabei tatsächlich um eine Verortung „nach“ dem Anarchismus handeln.

Drittens wird Lubin nicht müde zu betonen, dass aus unterdrückten und ausgebeuteten Positionierungen (ob hinsichtlich Klasse, Geschlechtsidentität, ethnischer Zuschreibung oder Herkunft) keineswegs per se (sozial-revolutionäre) Handlungsfähigkeit und ein Wille nach Veränderungen erwachse, noch, dass dieses zwangsläufig emanzipatorisch wäre. Wenngleich ich dieser Ansicht zustimme, lese ich darin doch eine recht privilegierte Absage an die Notwendigkeit der Beschäftigung mit sozialen Kämpfen und den Möglichkeiten, diese zu unterstützen. Klar, als Anarchist will Lubin offensichtlich nicht führen und gute Hinweise geben. Für engagierte Intellektuelle ist aber meines Erachtens nach dennoch geboten, mit ihrem Denken, Schreiben und Sprechen zumindest eingreifen zu wollen, statt es sich in der Beobachter*innen-Rolle bequem zu machen.

Die angebrachten Kritikpunkte stelle insofern eine Würdigung dar, als dass Oskar Lubin mit einem gelungenen, kurzweiligen Textformat gute Anstösse gibt. Um konkreter auf die Inhalte einzugehen, müsste ich mir einzelne Glossen herausgreifen und meine Gedanken dazu entfalten. Beispielsweise erscheint mir seine Verwendung des Politikbegriffs zu alltagsweltlich, kommen mir die Klassenverhältnisse und Eigentumsverteilung zu kurz, meine ich, dass Feindbestimmungen nötig und sinnvoll sind usw.. Doch dies übersteigt hier den Rahmen und dürfen sich die Lesenden gern selbst erschliessen…

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Oskar Lubin: Postanarchismus. Glossen mit Fussnoten. edition assemblage 2024. 192 Seiten, ca. 21.00 SFr. ISBN: 978-3-96042-112-2 / 2-973.