Milo Probst: Anarchistische Ökologien Anarchistische Ökologien

Sachliteratur
Mit grosser Freude las ich Anarchistische Ökologien von Milo Probst, der in Basel wissenschaftlich tätig ist.


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Sein Fokus richtet sich dabei auf die ökologischen Diskurse unter Anarchist*innen, womit er kenntnisreich aufzeigt, dass diese sich intensiv Gedanken über die Gestaltung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses machten.
Die Zerstörung der Natur durch Menschen, ihre Entfremdung von ihr, die Diskussion um Lebensgrundlagen und die Verortung des Menschen in Zeit und Raum geschah demnach nichtzeitlich später und wurde nicht sekundär z.B. zu Kämpfen gegen die Lohnarbeit und das Privateigentum betrachtet. Ökologie meint in diesem Zusammenhang allerdings nicht „Nachhaltigkeit“ im Sinne einer effektiveren Ressourcennutzung, sondern das Verständnis der Interaktion und Konnektivität verschiedener Entitäten, in selbstorganisierten, fluiden, sich permanent entwickelnden Systemen. Der Autor betont, dass er den historischen Anarchismus nicht als Vorläufer späterer Ökologiebewegungen darstellen möchte, um ihn rückwirkend linear einzureihen. Meinem Verständnis nach thematisiert er vor allem das Nachdenken über gesellschaftliche Naturverhältnisse und deren Gestaltbarkeit.
Die moderne Gesellschaft wurde in diesem Sinne bereits wesentlich früher „reflexiv“, als Ulrich Beck konstatierte. Hierbei zeigt Milo Probst insbesondere in den Werken Élisée Reclus und Peter Kropotkin auf, dass der „klassische“ Anarchismus – und hierbei insbesondere der kommunistische Anarchismus – weder einer naiven Fetischisierung von Technik, Industrie und Produktivkraftentfaltung verhaftet war, noch einer reflexhaften Ablehnung dieser Entwicklungen verfiel. Gustav Landauer, der im Buch allerdings nicht einbezogen wird, hätte dahingehend noch einmal eine leichte Perspektivverschiebung ermöglicht. Dies ändert allerdings nichts grundsätzlich daran, dass formuliert werden kann, dass Anarchist*innen sich für eine alternative und pluralistische Moderne einsetzen. Wenn die anarchistische Bewegung als grundlegende Kritik an kapitalistischer und staatlicher Aneignung, Verfügung und Regulierung von menschlicher Arbeitskraft, Bedürfnissen, Beziehungen, dem Boden, der Mitwelt, verstanden wird, liegt der Schluss nahe, dass sich in Überlegungen zu libertär-sozialistischen Gesellschaftsalternativen dezidiert ökologische Aspekte wiederfinden. Dies wird im Buch entlang von vier Hauptkapiteln nachgezeichnet, in denen erstens Kollektivismus und der Gebrauch von Gemeingütern (ca. 1865-1880) dargestellt und zweitens die Neugestaltung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses im Anarchokommunismus (ca. 1880-1910) besprochen werden. Im dritten Kapitel widmet sich Probst der anarchistischen Pädagogik (ca. 1880-1910), in deren Anspruch einen selbstbestimmten, „neuen Menschen“ zu schaffen, verständlicherweise auch dessen Beziehung zu nicht-menschlichen Tieren und der Mitwelt thematisiert wird. Schliesslich verlässt der Autor Europa und blickt nach Argentinien (ca. 1890-1920), das als Zufluchtsort europäischer Migrant*innen auch als Projektionsfläche für utopische Entwürfe diente und damit koloniale Denkweisen und Bezugnahmen aufweist, die zu verstehen und zu kritisieren sind.
In der Einleitung nimmt der Autor die Lesenden auf eine Reise bei der Erforschung seines Gegenstandes mit, weckt damit gleich die Lust am Weiterlesen und das Interesse, sich auf die Spuren unserer Vorgänger*innen zu begeben. Im Epilog zeigt sich seine Identifikation mit dem Thema, passenderweise am Beispiel von Max Nettlau, der als zeitgenössischer Historiker des Anarchismus, in diesem involviert und vernetzt war. Die fokussierte Schreibweise zeugt angesichts des Umfangs des Themas von einem hohen Verarbeitungsgrad. Besonders gelungen erscheinen mir Überlegungen darüber, wie wir Geschichte überhaupt wahrnehmen und beschreiben können. In diesem Zusammenhang nimmt Probst eine kritische Perspektive auf die Reproduktion z.B. rassistischer und patriarchaler Vorstellungen und Annahmen ein, macht diese also weder unsichtbar, noch relativiert er sie mit dem Verweis auf den Kontext ihrer Zeit.
Im Unterschied zu anderen – etwa meiner Arbeit – stützt sich die Studie auf eine umfangreiche Recherche von französischen und spanischen Quellen. Dazu dient insbesondere die detaillierte Lektüre verschiedener anarchistischer Zeitungen (wie L'Humanité Nouvelle, L'Education intégrale, La Révolte, Les Temps Nouveux, Mother Earth, La Protesta, um nur einige zu erwähnen). Die Einbeziehung klassischer Anarchist*innen (Michail Bakunin, Sebastién Faure, Jean Grave, James Guillaume) geschieht, wo diese für die vorliegende Arbeit notwendig sind, aber nicht überbordend und wird mit aktuellen Forschungsarbeiten zu Anarchismus (etwa von Federico Ferretti, Gaetano Manfredonia, Kristin Ross, Carlos Taibo usw.) verbunden. Schliesslich knüpft das Buch an Autor*innen der zeitgenössischen Politische Theorie und Ideengeschichte an, wenn es um das Verständnis des modernen gesellschaftlichen Naturverhältnisses geht (dazu etwa Pierre Charbonnier, Philippe Descola, Bruno Latour, John Bellamy Foster und Donna Haraway).
Es folgen Auszüge aus den Zusammenfassungen der Hauptkapitel.
„Die anarchokollektivistische Emanzipation war erdgebunden. Sie liess sich nur verwirklichen, wenn die Menschen kollektiv und solidarisch die Welt anders zu gebrauchen begannen. Mit dem Privateigentum war diese Überzeugung nicht kompatibel, denn es schnitt die Welt in Stücke und trennte die Naturparzellen von der Gemeinschaft ab. Indem die Anarchisten der späten 1860er und der 1870er Jahre diese zentrale Institution der Moderne infrage stellten, problematisierten sie zugleich andere Gegensatzpaare wie jene zwischen Natur und Kultur, Kollektiv und Individuum, Vergangenheit und Gegenwart oder ‚Primitiven' und ‚Zivilisierten'. Die kollektivistische Ökologie war somit eine, die die Natur zweifach integrierte: einmal verwalterisch als ontologisch homogene, stumme, ressourcenartige nicht-menschliche Natur in den kollektiven Produktionsprozess, ein anderes Mal als kosmische Naturgesetze in die Aushandlung der Regeln für ein gemeinschaftliches Zusammenleben.
Herausfordernd für das Verhältnis dieser kollektivistischen Ökologie ist nun, dass sie die modernen Dualismen bis zu einem gewissen Grad voraussetzte, um sie zu überwinden. Es brauchte die moderne Wissenschaft, um die nicht-menschliche Natur vernünftig zu gebrauchen, es brauchte den ‚Zivilisierten', der mit dem ‚Primitiven' gemeinsame Sache machte, es brauchte ‚Fortschritt', um den Sozialismus als ‚Naturgesetz' vollends zu realisieren. Eine Umweltgeschichte der anarchistischen Befreiungsbegehren muss dieser Dialektik auf die Spur gehen – vor allem ihren technischen Voraussetzungen, die nämlich ein Umgraben der Erde erforderten“ (S. 75). „Für die Anarchokommunisten war die Eisenbahn […] ein regelrechtes Fundament der Freiheit, da sie langsam vermochte die Handels- und Migrationswege von den Rauheiten des Geländes zu befreien. Dank ihr solidarisierten sich Völker, abgeschiedene Territorien würden erschlossen und verbunden. Die durch Infrastrukturen herbeigeführte Transformation war somit sowohl gesellschaftlich als auch kosmologisch […]. Der Mensch machte sich daran, Berge, Atmosphäre, Meere und Kontinente zu einem ‚irdischen Garten' zu arrangieren, sosdass jedes Wesen Teil einer pulsierenden organischen Ganzheit werde.
Ersichtlich wird die Affinität zwischen den Anarchokommunisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und den französischen Frühsozialismen […]. Zwar wirkten die Anarchisten um 1900 weitaus nüchterner […] Für beide standen jedoch menschengemachtes Umgestalten des Planeten und organizistische Philosophie nicht im Widerspruch zueinander. […]
[Reclus'] viel zitierte Kritik an der Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten oder an der menschengemachten Versteppung und Veränderung lokaler Klimata [darf] nicht darüber hinwegtäuschen, dass er die Transformation des Menschen in ‚geologische Akteure' nicht grundsätzlich bedauerte. Ganz im Gegenteil: Erst durch die Erlangung einer territorialen Ungebundenheit könne jener Sinn für natürliche und gesellschaftlichen Harmonie entstehen, der aus den vergeschwisterten Menschen voraussehenden Agenten des planetaren Organismus mache. […]
Ausgehend von einer kritischen Analyse der historischen und gegenwärtigen Verunstaltung der Landschaften hoffte Reclus auf die Entstehung eines weitsichtigen Wissens und einer Ästhetik, denen die Aufgabe zufiel, die Organe des Erdkörpers in ein ausgewogenes Gleichgewicht und auf eine höhere künstlerische Schönheit zu heben. […]
[Doch damit schloss] Reclus an Diskurse an, welche die Erweckung einer Sorge für die Natur an bürgerlichem männliche und koloniale Praktiken und Sterotype knüpften. Deren historische und anthropologische Bedingung war […] die Herausbildung einer Dichotomie zwischen Stadt und Land, freizeitlicher und arbeitender Interaktio mit der Natur, Ästhetik und Nützlichkeit, Wissen und Praxis, Mobilität und Verwurzelung. Dass Reclus solche Gegensatzpaare wieder zu vereinen versuchte, änderte nichts an der Tatsache, dass er sie implizit als intellektuelle und materielle Bedingungen für das emanzipatorische Naturgefühl in seine Kosmologie einflocht. Das von ihm ersehnte Naturgefühl hing von Mobilität, körperlicher Kraft, Geschicklichkeit und geistiger Unabhängigkeit ab. Sein ökologisches Befreiungsverständnis war nicht universell, es beruhte vielmehr auf einem historischen und anthropologischen Partikularismus“ (S. 108ff.).
„Die utopische Gesellschaft des Anarchismus um 1900 war eine 'naturwüchsige'. […] [Die anarchistische Utopie sollte sich] durch die die Beseitigung aller Hemmnisse ergeben, die sich dem natürlichen Bedingungen erwächst und der Mensch erwachsen wird. In diesem Übergang vom Verb zum Adjektiv lässt sich eine fundamentale Spannung anarchistischer Ökologien freilegen. Es ist die Spannung zwischen Prozess und Zustand, Ausgangsoffenheit und Vorgegebenenheit, Eingriff und Automatismus, Politisierung und Entpolitisierung. Die anarchistischen Pädagog:innen standen genau an der Schwelle. Sie griffen als ‚Vermittler zwischen Kind und Natur' ein und machten sich zugleich unsichtbar, um die 'spontane' Entwicklung des Kindes nicht zu stören.
Politisch war die Ökologie des Organismus dann, wenn es um die Beseitigung von Wachstumshemmnissen ging, unpolitisch gab sie sich, nachdem die Bedingungen der freien Entfaltung gegeben waren. Ganz plötzlich schien nichts mehr dem Erreichen eines ‚gesunden' Zustandes im Weg zu stehen.
Der anarchistische Entwicklungsbegriff war somit teleologisch so wie es für das 19. Jahrhundert typisch war. Auf dem schmalen Grad zwischen dem Erziehen als spontanem, ausgangsoffenem Prozess und dem Erziehen in eine ersehnte Richtung siedelten sich normierende Diskurse an, die nicht als peinliche Reste einer ansonsten politisch progressiven Philosophie verstanden werden dürfen, sondern vielmehr direkt aus der Logik einer politischen Ökologie des Organismus abgeleitet werden müssen, die dem Leben und der Natur einen immanent emanzipatorischen Zweck verlieh“ (S. 145f.)
„In Quiroules anarchistische Utopie existiert keine Notwendigkeit, das gemeinschaftliche Leben, Produktion und Verteilung politisch auszuhandeln – das Leben plätschert in erschreckender Langeweile vor sich hin. […] Ebendiese zeitliche Kluft zwischen der vor- und der postrevolutionären Zeit kommt in Quiroules Erzählung deutlich zum Ausdruck: Nur die Hauptfigur der Geschichte hat den revolutionären Übergang miterlebt und mitgestaltet, während alle seine Gefährt:innen in die neue Gesellschaft hineingeboren wurden. Der ‚Super', ‚Physiker' oder ‚Alte', wie er wahlweise genannt wird, ist als nietzscheanischer Übermensch der Einzige, der den Sprung aus dem Gestern in das utopische Morgen auszuhalten vermochte.
Zudem wird bei Quiroule die zeitliche Kluft mit einer räumlichen überlagert, denn ‚Super' hat einen Exodus hinter sich. Als Teil einer Gruppe von zweihundert europäischen Revolutionären siedelte er nach Amerika über, nachdem er die Aussichtslosigkeit eines revolutionären Umsturzes in Europa feststellen musste. […] Hier war das Eigentum nicht durch althergebrachte Rechtstitel und generationenübergreifende Erbfolgen verstetigt, zumal die herrschenden Klassen Amerikas erst vor Kurzem die Indigene Bevölkerung ‚eliminiert' und gewaltsam an sich gerissen haben. […] Quiroules Utopie war somit nicht nur feudal, sondern auch kolonial, weil sie auf ein entleertes und ‚unkultiviertes' Territorium angewiesen war. Anders als in Europa, wo die Landbevölkerung über Generationen eine ‚Verbundenheit' mit dem Boden entwickelt habe, könnten die Eigentümer der amerikanischen Pampa keine vergleichbare affektive Bindung geltend machen. Die Rückkehr zur Erde, der Aufbau solidarischer Beziehungen zu den Tieren und ‚allen natürlichen Schönheiten' war nur ausgehend von einem Zustand der Beziehungslosigkeit möglich“ (182ff.).
Milo Probst: Anarchistische Ökologien. Matthes & Seitz 2024. 296 Seiten. ca. SFr. 47.00. ISBN: 978-3-7518-2044-8.