Meike Gerber / Emanuel Kapfinger / Julian Volz (Hg.): Für Hans-Jürgen Krahl Anti-Dogmatischer Marxismus

Sachliteratur

Eine Textsammlung würdigt die Person und das Werk Hans-Jürgen Krahls, eines unterschätzten Denkers der Kritischen Theorie und erzählt dabei die Geschichte der Neuen Linken.

24. März 2023
0
1
6 min.
Drucken
Korrektur
Der Sammelband „Für Hans-Jürgen Krahl – Beiträge zu seinem antiautoritären Marxismus“ ist nicht nur eine theoretische Rekonstruktion seines Werkes, sondern auch ein Ausflug in die Geschichte der Neuen Linken. Die Herausgeber*innen Meike Gerber, Emanuel Kapfinger und Julian Volz versammeln Autor*innen und Aufsätze, die ein Bild von Krahl als Theoretiker, Aktivist und Philosoph zeichnen. Auch wenn in diesem Band samt und sonders sympathisierende Stimmen versammelt werden, spart er nicht mit Kritik. Das Ergebnis ist ein Andenken, das Krahl auf theoretischer wie praktischer Ebene ernst nimmt, ohne einen linken Ahnenkult um ihn zu inszenieren.

Hans-Jürgen Krahl gilt als einziger Schüler Adornos, der ihm würdig erschien. Gleichzeitig sagte Adorno über ihn: „In Krahl, da hausen die Wölfe.“ Das Verhältnis der beiden zueinander war von einer Ambivalenz geprägt, die selbst symptomatisch für das Verständnis von Krahls Person ist. Der Sammelband wirft in insgesamt 15 Beiträgen ein Bild auf den SDS-Aktivisten und kommunistischen Praktiker, wie auch auf den Philosophen und Kritischen Theoretiker. Versammelt werden Stimmen, die sich ihm biografisch, theoretisch, praktisch und historisch annähern. Dabei entsteht ein sehr genaues Bild von dem Krahl, der trotz seinem frühen Tod im Alter von nur 27 Jahren zu einer der wichtigsten Stimmen der 68er-Bewegung avancierte und über den sein Genosse und Mitstreiter Rudi Dutschke sagte: „Er war der Klügste von uns allen.“

Get Organized! But how?

Gleich mehrere Aufsätze des Sammelbandes beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis und der daraus resultierenden Organisationsfrage linker Politik. Diese Schwerpunktsetzung ist nicht zufällig gewählt, sondern entspricht der Bedeutung dieses Spannungsverhältnisses für das gesamte Werk Krahls. Aus dieser Auseinandersetzung leitet sich der Begriff des antiautoritären Marxismus ab. Historisch werden Krahl und sein politisches Spektrum von den Autor*innen des Sammelbandes als Zwischenstimmen beschrieben, irgendwo zwischen organisationsfeindlichen Spontis und einem dogmatischen Marxismus-Leninismus. Diese immer wiederkehrenden Abgrenzungen Krahls waren kein szenetypisches kulturelles Distinktionsgehabe, sondern Resultat sehr ernsthafter Reflexion über revolutionäre Politik. So grenzt er sich vom Marxismus-Leninismus mit einer Politik ab, die letztlich leninistischer war als diejenige der Politgruppen, die Lenin zu ihrem Maskottchen erkoren haben: Krahl beschäftigte sich mit der spezifisch historischen Situation, mit der er es zu tun hatte und stellte sich die Frage, welche Schritte diese Situation von einer marxistischen Linken erfordert. Der Begriff des Antiautoritären wird so nicht zu einer moralischen Bestimmung, sondern zu einem Bestandteil materialistischer Gesellschaftsanalyse.

Auch wenn die Aufsätze im Sammelband ohne eine Definition des Krahl'schen Antiautoritarismus auskommen, entsteht ein Begriff dessen, was gemeint ist. Für eine revolutionäre Organisierung stellt Krahl die Aktivierung der Menschen als politische Subjekte in den Vordergrund. Er drückt sich dabei nicht um Fragen nach dem Verhältnis von Avantgarde und Basis und löst diese Spannungsverhältnisse nie ohne ein materialistisches Argument auf. So spricht aus seinen Argumenten eine tiefe philosophische Überzeugung, in erster Linie aber die Analyse, dass es in der postfordistischen Gesellschaft der 60er-Jahre einer Organisation bedarf, welche auf die Selbsttätigkeit der Massen zielt.

Durch die Aufsätze, die sich mit der Beziehung von Theorie und Praxis bei Krahl beschäftigen, entsteht also ein Begriff des antiautoritären Marxismus, der nicht aus moralischen Gründen ohne Autoritäten auskommen will und der auch weiterhin über Strukturen wie eine Partei verfügen darf. Denn im Mittelpunkt steht, dass kommunistische Politik auf lange Sicht nicht für, sondern nur gemeinsam mit den gesellschaftlichen Subjekten gemacht werden kann. Antiautoritarismus meint also hier keine Abgrenzung von dem, was Herbert Marcuse mit „revolutionärer Disziplin“ meinte und auch keine Distanzierung zu Verbindlichkeit und Kollektivität. Es meint ein Politikverständnis, dass die Menschen als Subjekte ernstnimmt und die Aufgabe kommunistischer Politik in der Herstellung von Kollektivität sieht, und nicht in einem politischen Dienstleistungsprogramm der Parteien oder Gewerkschaften, deren Praxis mitunter eher auf die Schaffung eines lukrativen Angebotes für potentielle Mitglieder, denn auf die Schaffung politischer Kollektivität zielt. Diese Kollektivität setzt natürlich voraus, dass Menschen sich selbst als gesellschaftliche Subjekte begreifen. Genau darin sieht Krahl die zentrale Aufgabe kommunistischer Politik.

Krahl und die Kritische Theorie

Neben seiner Tätigkeit als Aktivist im SDS Frankfurt beleuchten mehrere Aufsätze des Bandes Krahls Rolle als Vertreter der Kritischen Theorie und ambitionierten Schüler Adornos. Er bemühte sich um den Anschluss seiner politischen Praxis an die Kritische Theorie und kämpfte gleichzeitig erbittert mit seinem Doktorvater Adorno um dieses aufgeladene Spannungsverhältnis. Insbesondere die Frage nach der politischen Praxis, der Adorno bekanntlich kritisch gegenüberstand – er wahrte stets eine deutliche Distanz zur Neuen Linken –, wird als Hauptstreitpunkt zwischen den beiden beschrieben. Der Bruch fand schliesslich statt, als Adorno einen besetzten Hörsaal von der Polizei räumen liess und Krahl sich im Nachgang für die Besetzung vor Gericht verantworten musste.

Theorie und Praxis sind zwei Faktoren, die in Krahls Marxismus untrennbar zusammengehören. Dieser Umstand ist dafür verantwortlich, dass eine Darstellung von ihm als reinem Philosophen notwendigerweise unterkomplex bleibt. Seine Hoffnung in die 68er-Bewegung und die Neue Linke führten ihn im Verlauf der Debatten immer weiter von seinem Lehrer Adorno weg und näher an Marcuse heran, der die Möglichkeit emanzipatorischer Politik zum Dreh- und Angelpunkt seiner Philosophie machte und nicht deren Unmöglichkeit.

Krahl der Praktiker

Krahls theoretische Erwägungen sind leninistischer als diejenigen seiner politischen Kontrahenten aus dem Flügel der Neuen Linken, die sich mit der proletarischen Wende verabschiedeten. Damit ist gemeint, dass sich Krahl sehr ehrlich und radikal die Frage nach der historischen Situation stellte und daraus versuchte abzuleiten, welche Praxis sie für die Linke bedeuten sollte. Sein Blick bezieht in der Tradition der Kritischen Theorie immer mit ein, wie die individuellen Subjekte durch die Gesellschaft zugerichtet werden und was das für die Möglichkeit emanzipatorischer Kämpfe bedeutet. Daraus entstand ein Praxisbegriff, der den politischen Kampf nicht als ewiggültiges Dogma fetischisierte, sondern aus den realen und historisch spezifischen Bedingungen schloss.

Dieses Politikverständnis bildet eine im besten Sinne des Wortes materialistisch fundierte politische Praxis, eine Praxis, die ihre Schlüsse zieht aus dem was ist. Teil von dieser ehrlichen Bestandsaufnahme war immer, die Integration der Arbeiter*innenklasse in Vertröstungs- und vermeintliche Teilhabestrategien des Kapitals ernst zu nehmen und sich der Frage zu stellen, wie die Scheisse, die von Leuten gedacht und gemacht wird in die Köpfe kommt und wie sie dort wieder herauszuholen ist. Dabei geht es insbesondere um die Inkorporation proletarischer Klassenelemente in die Sozialpartnerschaft, die Umleitung von Wut und Antagonismus in die geregelten Bahnen bürgerlicher Glücksversprechen und die ideologischen Angebote, die solche Verrenkungen produzieren.

Der Sammelband ist eine gelungene Einführung in Krahls Denken und Handeln, in die Debatten seiner Zeit und die Schwierigkeiten, die damit verbunden waren und bis heute sind. Er macht deutlich wie die Umrisse eines materialistischen Verhältnisses von Theorie und Praxis aussehen könnten, ohne diese aber klar zu benennen. Einige der Aufsätze scheinen unkonkret und abstrakt zu sein, fügen sich aber als Puzzleteile in ein Gesamtbild mit reichlich Erkenntnisgewinn.

Christoph Zeevaert
kritisch-lesen.de

Meike Gerber / Emanuel Kapfinger / Julian Volz (Hg.): Für Hans-Jürgen Krahl. Beiträge zu seinem antiautoritären Marxismus. Mandelbaum Verlag, Wien 2022. 304 Seiten. 22.00 SFr. ISBN: 978385476-910-1.

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.