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Margot Overath: Verbrannt in der Polizeizelle. Die verhinderte Aufklärung von Oury Jallohs Tod

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Die verhinderte Aufklärung von Oury Jallohs Tod im Dessauer Polizeirevier Margot Overath: Verbrannt in der Polizeizelle

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Sachliteratur

Seit 2014 beobachtet der Züricher Forensiker, Toxikologe und Kriminalist Dr. Peter X. Iten die Aktivitäten der Justiz, im Fall „zum Nachteil Ouri Jallow“ zu einer Lösung zu kommen.

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Datum 18. Juni 2025
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Er tauschte sich mit Brandsachverständigen, Kriminalbeamten und Medizinern aus, beriet die Nebenklage und legte 2018 ein eigenes forensisches Gutachten vor. Im Schlusskapitel zeigte er mögliche Tatabläufe und Varianten auf, von denen jede einzelne alle bisherigen spurenkundlichen Erkenntnisse berücksichtigt. Den Endzustand von Zelle und Leiche versuchte er dabei möglichst lückenlos und widerspruchslos in Einklang zu bringen.

Mögliche Tatvariante „Brandlegung durch Oury Jalloh selbst“

Iten beginnt mit der gerichtlich angenommenen Selbstanzündung. Diese scheidet für ihn aus verschiedenen Gründen mit Sicherheit aus. Ein Grund sei allein schon die Ausführung eines solchen Tatablaufs, schreibt der Gutachter.

„Dass Oury Jalloh mit angeketteten Händen und einem nach unten gerichteten Feuerzeug Feuer auf der Matratze entfachen kann, obwohl der Matratzenüberzug brandgeschützt ist und er sich dabei laufend die Finger verbrennt, ist kaum vorstellbar. Und wie soll er dann auf die Idee kommen, den Matratzenüberzug zu öffnen, um den darunter sich befindenden Schaumstoff zu entzünden? Und woher soll er wissen, dass der Schaumstoffkern besser brennbar ist? Und das alles nach einer durchzechten Nacht, todmüde und mit annähernd drei Promille Alkohol im Blut? Und ohne Messer, ohne Schere und mit grösster Wahrscheinlichkeit auch ohne Feuerzeug? Denn alle Fachexperten halten es heute für praktisch ausgeschlossen, dass O.J. in der Zelle ein Feuerzeug besass.“

Iten schreibt weiter: „Die Brandversuche haben gezeigt, dass die Feuer sehr langsam grösser werden und die Flammen oft wieder selbst erlöschen. Jalloh hätte die Öffnung in der Matratze erweitern, den Schaumstoff erneut anzünden und viele Minuten warten müssen, bis die Flammen gross genug geworden wären, um einen ausreichend grossen Feuerball aufzubauen, der imstande gewesen wäre, einen tödlichen Hitzeschock auszulösen. Während dieser Minuten müssten die Flammen seine angekettete Hand angesengt und ihm immer grössere Schmerzen bereitet haben. Er müsste sich aufgerichtet und seinen Kopf von oben in die Flamme gehalten haben, und die heisse Luft eingeatmet haben. Und er müsste die natürlichen Reflexe überwinden können, um sich nicht vor der unerträglichen Hitze der Flammen wegzudrehen. Der Reflex ist aber nervengesteuert, das heisst vom eigenen Willen schwer beeinflussbar. Schliesslich müsste er sich auf die Aussenseite der Matratze bewegt haben, obwohl er das nach einem rasch eintretenden Hitzeschocktod gar nicht mehr kann. Ein solcher Ablauf“, konstatiert der Gutachter, „wirkt so ‚crazy', dass ich mir lange überlegt habe, ob ich das so stehen lassen darf. Ich muss es aber tun, weil man nur so Schritt für Schritt realisiert, wie weit weg von der Wirklichkeit diese Version liegt […] Und wie lange es dauern würde, bis der Tod eintritt.“ (…)

So viele Sachverständige und Gutachter haben übereinstimmend ihre Bedenken gegen die höchstrichterlich bestätigte Selbstentzündungsversion vorgebracht, dass alle an der Lösung des Kriminalfalls Interessierten überzeugt sind: Es muss etwas ganz anderes passiert sein. Peter Iten versucht zu erklären, was sich tatsächlich ereignet haben könnte an jenem 7. Januar 2005. Auf der Suche nach möglichen Tatvarianten kam er zu verschiedenen Antworten, die sämtlich im Einklang mit den bisherigen brandtechnischen, spurenkundlichen, medizinischen und toxikologischen Erkenntnissen stehen.


Mögliche Tatvarianten bei „Brandlegung durch Dritte Personen“

Der Aussage der Streifeneinsatzführerin ist zu entnehmen, dass aus dem Keller Geräusche zu hören waren, die für sie nach einer Auseinandersetzung klangen. „Im Rahmen einer Auseinandersetzung“, schreibt Iten, „oder aus welchen Gründen auch immer kommt es in der Zelle zwischen Drittpersonen und O.J. zu physischer Gewalt. Variante 1: Um die Schreie von O.J. zu unterdrücken, oder aus anderen Gründen, werden ihm Mund und Nase von Hand oder mit einem Tuch zugehalten. Dadurch wird die Sauerstoffzufuhr gestoppt und nach etwa ein bis eineinhalb Minuten tritt Bewusstlosigkeit ein.“

Ob die Beteiligten kein Ende des Streits fanden, ob die Auseinandersetzung aus dem Ruder lief, ob Oury Jalloh Anstalten machte zu schreien, ob er um Hilfe rufen wollte, ist unbekannt. Wenn, dann wären seine Hilferufe über die Gegensprechanlage zu hören gewesen. Und das hätte auf jeden Fall verhindert werden müssen. Für die Tatvariante „Ersticken“ spräche ein Stoffteil, das die Rechtsmediziner der Uniklinik Halle am Freitagabend am Hals der Leiche gefunden und sichergestellt hatten.

Es ist schon auf den Videoprints der Tatortgruppe zu sehen und wird als ein 13 cm langer Streifen eines verkohlten Stoffrestes bezeichnet. Das Sektionsprotokoll beginnt mit den Sätzen: „Der Leichnam ist unbekleidet. Am Hals ein 13 cm langer Streifen eines verkohlten Stoffes (Bündchen eines T-Shirts?)“ Sie übergaben den Stoffrest den anwesenden Kriminaltechnikern. Die es aber weder im Übergabeprotokoll vermerkten noch auf die Spuren- und Asservatenliste setzten, die sie am Montag, den 10.1.2005, erstellten.

Der Streifen verschwand. Dem Sektionsprotokoll zufolge war der Leichnam unbekleidet, auf der Bauchhaut liess sich kein textiles Gewebe nachweisen, nur am Hals dieser Streifen.
In der Magdeburger Hauptverhandlung beantragten die Anwälte der Nebenklage, Gabriele Heinecke und Philipp Napp, die Rechtsmediziner als Zeugen zu hören, die den Stoffrest gefunden hatten, sowie den Leiter der Tatortgruppe, der ihn in Empfang, aber nicht zu den Asservaten genommen hatte. Er gebe „Anlass zu der Annahme“, heisst es im Antrag der Anwälte, „dass Oury Jalloh zum Zeitpunkt der Brandverursachung sein T-Shirt über den Kopf gezogen [bekommen] hatte“.

Wurden mit dem T-Shirt seine Atemöffnungen verschlossen? Der glatte Stoff wäre verbrannt, der doppelt liegende Stoff des Bündchens nicht. Dafür spreche, „dass die Textilreste auf der rechten Seite des Halses in kopfseitiger Richtung und nicht – wie zu erwarten – in bauchseitiger Richtung stehen“ (Zitat aus dem Beweisantrag der Nebenklage) Die Kammer lehnte den Antrag ab.

„Als Variante 2 wäre denkbar“, schreibt Iten, „dass O.J. aufgrund anderer physischer Gewalt durch Drittpersonen bewusstlos wird. Diesbezüglich verweisen wir auf die von Dr. Boris Bodelle festgestellten Knochenbrüche des Nasenbeins, der knöchernen Nasenscheidewand sowie einem Bruchsystem in das vordere Schädeldach, einen Bruch der 11. Rippe rechtsseitig, Veränderungen des Weichteilgewebes um die Knochenbrüche im Gesicht und Verdickungen der Muskulatur über den Rippen, die er vor seinem Tod erlitten haben muss.“

Oberlandesgericht und Bundesverfassungsgericht massen dem Bodelle-Gutachten keine Beweiskraft zu, weil sich Oury Jalloh ihrer Meinung nach die Brüche selbst beigebracht habe oder weil seine Leiche unsachgemäss behandelt worden sein könne. Rechtsmediziner bewerten dieses Verletzungsbild dagegen als zweifelsfreies Argument für Attacken gegen Oury Jallohs Körper.

Iten schreibt weiter: „Dann wird Feuer auf der Matratze gelegt, aus welchen Gründen auch immer. O.J. lebt in dieser Phase noch. Er bewegt sich bewusst oder im Übergang in die Bewusstlosigkeit, willentlich oder reflexartig, vom Feuer weg auf den äusseren Rand der Matratze. Auch atmet er noch geringe Mengen Russ ein, die nach dem Tod medizinisch nachweisbar sind. Hingegen reicht die kurze Zeit von sehr wenigen Minuten bis zum Todeseintritt nicht aus, um nachweisbare Mengen der Brandgase Kohlenmonoxid und Cyanid im Blut zu akkumulieren, oder das stressbedingte Adrenalin/Noradrenalin im Urin nachweisbar zu machen.“

„Dann wird O.J. im Bereich des Kopfes einem Feuerball ausgesetzt, z.B. mithilfe eines leichtflüchtigen Brandbeschleunigers oder mit einem damit getränkten brennenden Gegenstand. Oder seine Atemöffnungen werden im bewusstlosen Zustand durch Drittpersonen in den Bereich der Flammengedrückt. Der Tod tritt sehr schnell ein.“

„Als Variante 3 wäre denkbar, dass Drittpersonen in der Zelle erscheinen und ohne vorausgehende physische und/oder psychische Aggressionen auf der Matratze Feuer legen, so dass O.J. auf die äussere Seite ausweicht. Dort wird er wenige Minuten später mit einem mit Brandlegemittel getränkten, brennenden Lappen im Bereich des Kopfes beworfen oder sein Kopf in die Flammen gehalten.“

(…) „Um die Spurenvernichtung voranzutreiben, wird bei allen Varianten an mehreren Orten auf der Matratze Feuer gelegt. Das Feuer wird später noch durch das Offenlassen der Zellentür stark gefördert, so dass an der Leiche ungewöhnlich massive Verbrennungen feststellbar waren. Die Matratze selbst war ganzflächig verbrannt bzw. verkohlt, was bei keinem der Brandversuche in diesem Ausmass zu beobachten war.“

Margot Overath

Epilog aus dem Buch von Margot Overath: Verbrannt in der Polizeizelle. Die verhinderte Aufklärung von Oury Jallohs Tod im Dessauer Polizeirevier. Metropolo Verlag 2024. 281 Seiten. ca. 24.00 SFr. ISBN: 978-3-86331-754-6.