Louise Michel: Die Pariser Commune Die Freiheit erwägen

Sachliteratur

Einblicke in das Innenleben der Pariser Commune – verfasst aus erster Hand von einer Protagonistin.

Kommunarden auf den Barrikaden auf dem Place Vendôme an der Einmündung der Rue de Castiglione, Paris 1871.
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Kommunarden auf den Barrikaden auf dem Place Vendôme an der Einmündung der Rue de Castiglione, Paris 1871. Foto: Bruno Braquehais (PD)

22. August 2021
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Die Textsammlung von Louise Michel zeigt die historische Episode der Pariser Commune als menschheitsgeschichtlichen Versuch, die Befreiung von der Herrschaft des Menschen über den Menschen im Hier und Jetzt umzusetzen. Sie liest sich wie eine detaillierte und historische Chronik der Geschehnisse rund um die Pariser Commune aus der radikal subjektiven Perspektive einer feministischen Kommunardin. Die Pariser Commune, also der Versuch, in Paris im Jahr 1871 eine Gesellschaft aufzubauen, die sich jenseits von Staat und Kapital organisiert, war und ist für die Linke weltweit ein Bezugspunkt utopischen Denkens. Dabei inspirieren die Tage der Commune nicht alleine durch ihre rätedemokratischen Elemente, wie imperative Mandate in den Ausschüssen, sondern auch durch ihre Orientierung auf die unmittelbare Verbesserung der Lebensumstände in Paris und darüber hinaus.

Michels Werk beginnt mit einer ausführlichen Beschreibung der politischen Situation in Paris während des Kaiserreiches, sie erzählt die Geschichte einer politisch polarisierten Gesellschaft im Krieg. Sie zeichnet den Politisierungsweg der Kommunard*innen nach und spart dabei auch die unschönen Aspekte, wie beispielsweise deren Kriegspatriotismus, nicht aus.

Die militärische Auseinandersetzung vor und nach den Tagen der Commune beschreibt Michel aus ihrer subjektiven Perspektive und vermittelt so einen eindrucksvollen Einblick in die Geschehnisse. Sämtliche Kapitel werden durch Anekdoten und Gespräche aus der Zeit ergänzt. Durch dieses Wechselspiel aus Berichten, scheinbaren Trivialitäten und politischen Analysen entsteht ein differenziertes Bild der Situation. Dabei wird immer wieder deutlich, wie sicher sich die Kommunard*innen fühlten, den Rückenwind der Geschichte – auch international – auf ihrer Seite zu wissen.

Schönheit der Revolte – Grausamkeit der Reaktion

Auch wenn die Tage der Commune im Vergleich zu den anderen Abschnitten weniger Raum einnehmen, als man annehmen sollte, gelingt es Michel, einen Eindruck von der Stimmung dieser Tage zu vermitteln. Ihre Situationsbeschreibung ist stark geprägt von ihren subjektiven Erfahrungen und ihrem Enthusiasmus. Immer wieder betont Michel dabei den stark moralischen Selbstanspruch der Kommunard*innen auch im Angesicht drohender Gefahr, die Ideale der Solidarität und Sanftmütigkeit nicht aufzugeben. Und die Gefahr wartete nur wenige Kilometer von Paris entfernt: die Geschichte der Commune ist von Anfang bis Ende geprägt von militärischen Auseinandersetzungen mit der Armee der Konterrevolution, die in Versailles den Gegenschlag vorbereitete.

So beschreibt Michel das Ende der Commune als ein Massaker der französischen Armee an den Aktivist*innen der Commune und an Teilen der Pariser Stadtbevölkerung. Dabei werden die Bürger*innen von Paris nicht idealisiert, vielmehr beschreibt Michel scharfzüngig ihre Haltungslosigkeit und ihren Verrat im Angesicht der drohenden Niederlage gegen die Reaktion. Aus ihrer Beschreibung spricht eine fundamentale Enttäuschung über die eigene Niederlage und Unzulänglichkeit, den Bürger*innen von Paris das gesellschaftliche Gut der Solidarität nicht nahe genug gebracht zu haben. Der Verrat der Bevölkerung der Stadt an den Kommunard*innen scheint für sie schwerer zu wiegen, als jener der bewaffneten Reaktion.

Meilenstein linker Geschichte

Die Geschichte der Commune – also jener 72 Tage in Paris, in der die Möglichkeit einer anderen Gemeinschaftlichkeit demonstriert wurde – ist ein Fluchtpunkt der Hoffnung dafür, dass eine Gesellschaft jenseits von Staat, Nation und Kapital möglich ist. Nicht umsonst würdigten Marx und Lenin in berühmten Texten den Versuch der Kommunard*innen, eine andere Gesellschaft Wirklichkeit werden zu lassen. Die Geschichte der Pariser Commune mahnt, ein linkes Geschichtsbewusstsein zu entwickeln, dass nicht in die bürgerliche Falle tappt, dem Siegreichen die Vernunft zu- und dem Scheiternden abzusprechen. Die Schönheit im historischen Versuch der Commune lag gerade in ihrer Naivität und wunderbaren Grosszügigkeit.

Dabei geht es nicht darum, der Commune einen weltfremden Idealismus zu unterstellen, sondern zu würdigen, dass sie den Versuch unternahm, im Angesicht des Krieges gegen die Reaktion nach innen die Moral zur Grundlage ihrer Politik zu machen. Linke Geschichtspolitik muss dieses Erbe verteidigen und daran anknüpfen: „Glaubt ihr wirklich, dass alle Erinnerung unter der Erde begraben bleibt, dass das vergossene Blut nie Blüten treibt, wenn der Kampf wieder aufgenommen wird?“ (S. 259)

Wer in Michels Werk eine historisch korrekte oder gar an Objektivität orientierte Chronik der Epoche sucht, wird wohl enttäuscht werden. Wer es aber liest, um einen leidenschaftlichen, empathischen und durch und durch parteilichen Eindruck des Geschehens von einer Kommunardin selbst zu studieren, kommt in diesem Buch auf seine*ihre Kosten.

Christoph Zeevaert
kritisch-lesen.de

Louise Michel: Die Pariser Commune. Übersetzt von: Veronika Berger. Mandelbaum Verlag, Wien 2020. 416 Seiten. ca. 32.00 SFr. ISBN 978-3-85476-882-1

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