Lars Distelhorst: Kulturelle Aneignung Wider das Indianerkostüm

Sachliteratur

Die Debatte um „kulturelle Aneignung“ hat jetzt ein deutschsprachiges Referenzwerk.

New Orleans, Mardi Gras, 2006.
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New Orleans, Mardi Gras, 2006. Foto: Infrogmation (CC-BY 2.5 cropped)

19. April 2023
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Der Potsdamer Sozialwissenschaftler Lars Distelhorst hat das gleichnamige Buch bei der Edition Nautilus veröffentlicht.

Theoretische und Alltagsdebatten

Der Autor gibt einen guten Überblick über die theoretischen und die Alltagsdebatten zu diesem umstrittenen Phänomen. Er analysiert es im Kontext des europäischen Kolonialismus, anhaltender rassistischer Strukturen und kapitalistischer Ungleichheitsverhältnisse (wobei er letztere eher in der Sphäre der Konsumtion sieht als in jener der Produktion). Er diskutiert Phänomene kolonialen Kunstraubs ebenso wie kapitalistische Konsumwelten. Wohltuend an seiner Argumentation ist die Betonung, dass bei der Betrachtung kultureller Sachverhalte nie die Dimension der Machtverhältnisse ausgeblendet werden sollte. Ebenso wichtig erscheint, dass er seine eigene Rolle als „Weisser“ in diesem Problemfeld selbstkritisch reflektiert und Einblicke in seinen mühsamen Erkenntnisprozess gewährt.

Mit Blick auf Pippi Langstrumpf und das dort verwendete „N-Wort“ steht der wichtige Satz: „Wir sind heute ebenso gut antirassistisch wie Astrid Lindgren zu ihrer Zeit und haben noch einen weiten Weg vor uns, wenn wir diesen Anspruch ernst nehmen und entsprechende Wahrnehmungsmuster aufbrechen wollen.“ (S. 39) Aber bei jedem Aufbrechen stellt sich die Frage: Wohin? Wenn etwa „Cancel Culture“ schon immer eine Realität für Menschen gewesen ist, die von Rassismus betroffen sind, aber erst skandalisiert wird, seit sie Menschen der dominanten Kultur trifft – dann plädiert Distelhorst entschieden dafür, Beschränkungen in die Dominanzkultur einzuziehen. Wäre nicht die Frage fruchtbarer, wie man die gegen Underdogs gerichtete „Cancel Culture“ auflösen kann?

Erst den Betroffenen zuhören

Um herauszufinden, ob das eine blauäugige Frage war, könnte Distelhorsts guter Ansatz helfen, man solle erst mal den Betroffenen zuhören, statt stur auf selbstverständlichen Privilegien zu beharren. Dementsprechend werden Intellektuelle mit nichtwestlichen Biografien in diesem Buch vielfach zitiert. Aber auch hier zeigt sich: „Die“ Betroffenen sind niemals eine homogene Community. Der eine beschwert sich vielleicht über „weisse“ Dreadlocks als kulturelle Aneignung; die andere freut sich über die Hochschätzung ihrer kulturellen Tradition, die in der Übernahme liegt. Man sollte beide nicht in den Käfig einer gemeinsamen kulturellen Identität zusammensperren. Aber man sollte auch nicht gruppenbezogene Ungleichheitsverhältnisse in einem Chaos von Individualitäten verstecken.

Distelhorst erkennt und diskutiert dieses Problem, aber ebenso wie wir alle kommt er an ad-hoc-Essentialisierungen und Stereotypisierungen nicht vorbei. Wenn er z. B. von dem „US-amerikanische[n] Kritiker Edward Said“ (S. 74) spricht, so ist die nationale Zuordnung nicht ganz falsch – beraubt Said aber diskursiv seiner palästinensischen Wurzeln, die so zentral für die Entwicklung seines „Orientalismus“-Konzepts waren. Solche Vereinfachungen des Komplexen sind okay, weil sie unvermeidlich sind. Auch wenn Distelhorst an mehreren Stellen die Hautfarbe essentialisiert, indem er z. B. alle weissen Menschen als „Urheber*innen und Profiteur*innen“ des Rassismus (nicht nur als in diesen Verstrickte) anspricht (S. 182), entwertet das seine Analysen kaum. Es sollte aber etwas mehr Zurückhaltung nahelegen, wenn es um die Essentialisierungen und Stereotypisierungen geht, die anderen antirassistisch Bemühten unterlaufen.

Diskriminierend oder gegenkulturell?

Ein „Indianerkostüm“, meint Distelhorst, sei geeignet, „Kinder auf diskriminierende Stereotype zu eichen“ (S. 20). Aber was für Stereotype sind das denn? Ist es nicht eine Ahnung von Freiheit, von Staatsfeindschaft? Ja, der „edle Wilde“ ist zweifellos ein Stereotyp (wie übrigens notwendigerweise jedes Kostüm und wie alles, was Kindern möglich ist, deren Differenzierungsvermögen ja erst langsam wächst). Immerhin drückt das Karnevalskostüm des Kindes aus, dass es noch ein Mehr an Möglichkeiten gibt. Was sind denn, neben dem „Indianer“, beliebte Kostüme? Hexe, Pirat, Clown, auch das Z-Wort könnte hier fallen.

Es sind alles auf ihre Weise ExponentInnen einer Gegenkultur. Überall findet man die Negation der Staatlichkeit, die Ahnung eines anderen und besseren Lebens. Wollen wir das den Kindern (bzw. dem Karneval) wegnehmen und nur noch „unpolitische“ Verkleidungen erlauben? Oder allenfalls noch die Kostümierung als Ritter oder Burgfräulein? Für mich bestätigt Distelhorsts Buch: Alles, was an der Kritik an kultureller Aneignung richtig ist, lässt sich zurückführen auf die Kritik an den Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen, unter denen kulturelle Übernahmen stattfinden.

Mir scheint, man sollte – bei aller Sensibilität für kulturelle Verletzbarkeiten – kulturübergreifend vor allem diese Verhältnisse bekämpfen. Vorwärts in eine Welt, in der man sich über jedes Individuum und über jede Kultur lustig machen kann, weil sie alle stark und gleichberechtigt sind und mitlachen können! Das Buch „Kulturelle Aneignung“ hat bei mir viel Zustimmung, aber auch mancherlei Widerspruch ausgelöst. Das heisst: Es ist ein gutes Buch!

Rüdiger Haude / graswurzel.net

Lars Distelhorst: Kulturelle Aneignung. Edition Nautilus, Hamburg 2021. 245 Seiten. ca. 19.00 SFr. ISBN: 978-3-96054-268-1.