Klaus Dörre: Die Utopie des Sozialismus Ein Weichensteller namens Sozialismus

Sachliteratur

Für die Nachhaltigkeitsrevolution braucht es eine Linke mit Plan, aber auch den utopischen Sozialismus.

Klaus Dörre (Universität Jena).
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Klaus Dörre (Universität Jena). Foto: Stefan Roehl - Heinrich-Böll-Stiftung (CC BY-SA 2.0 unported - cropped)

29. Mai 2022
2
0
5 min.
Drucken
Korrektur
Seinen neuen Essay „Die Utopie des Sozialismus“ beginnt Klaus Dörre mit einer Selbstverortung: Die „Students For Future“ hatten der Jenaer Soziologieprofessor zu einer studentischen Vollversammlung im Mai 2019 eingeladen, an der auch der Rezensent teilnahm. Wir erleben eine ökonomische und ökologische „Zangenkrise“, lautete Dörres Diagnose. Mehr als tausend Studierende stimmten darauf bei tosendem Beifall einer in Teilen radikalen Beschlussvorlage zum Klimastreik zu. Es handelte sich für Dörre um einen Wendepunkt der Klimabewegung.

Nun setzt Dörre seine soziologischen und klimapolitischen Überlegungen systematisch fort. Im Buch ergänzt er sie um weitere Eckpfeiler eines Sozialismus, der sich neben der sozialen Frage vornehmlich einer „Nachhaltigkeitsrevolution“ verschreibt. Dörre zufolge sind das die drängendsten Fragen unserer Zeit, die politisch und besonders von der Linken adressiert werden müssen. Als Intellektueller verortet sich Dörre in der Bewegung und steht ihr mehr zur Analyse- als zur Strategieentwicklung Rede und Antwort. Mit Begriffen wie der „Zangenkrise“ und der „Landnahme“ trug er schon vor „Fridays For Future“ zur Debatte um die Naturzerstörung auf Grundlage der kapitalistischen Verwertung bei.

In der Zange

Die herrschende Art zu wirtschaften und zu leben (in dieser Reihenfolge) bringe laut Dörre die Erde an den Rand ihrer Belastungsgrenzen und somit an ihren Abgrund. Die Natur wird als Lieferantin für Ressourcen, Energie und Nahrungsmittel vorausgesetzt, aber ist in der kapitalistischen Rechnung dennoch ausgenommen. Sie wurde sich zu grossen Teilen umsonst angeeignet, um sich das gesellschaftliche Fortleben wie auch ein Mehr an Kapital zu sichern. In seinem Verwertungsdrang agiert das kapitalistische System längst global – und muss dennoch weiter expandieren und mehr Profit generieren. Das wird ein Knackpunkt der notwendigerweise globalen Transformation im Angesicht der Klimakrise sein. Wirtschaftswachstum, wie wir es kennen, ist nach Dörre nicht mehr möglich, ohne die Klimakrise und ökologische Bedrohung zu verschärfen.

Aus mehreren Gründen ist das ewige Wachstum allerdings noch nicht am Ende: Für Teile der Welt ist wirtschaftliches Wachstum gegenwärtig gar der erfolgversprechendste Weg aus der Misere. Wie die Klimakrise muss auch ihre Bewältigung daher nicht nur geografisch mehrdimensional gedacht werden. Zur Erklärung dieser Zusammenhänge und zur Schärfung seines Sozialismusbegriffs bedient sich Dörre bei den Ikonen Luxemburg und Engels; Zugleich verarbeitet er Debatten seines Forschungskollegs „Postwachstum“ und moderne sozialistische Theorien. Dörre ist damit ein solides theoretisches Gerüst gelungen und er hat keine Scheu, einige Ideen von Engels zum Sozialismus umzukrempeln.

Auch wenn man nicht in allen Belangen mit Dörres Wegmarken für „sozialistische Handlungsfähigkeit“ (S. 46) übereinstimmt (z.B. wie so oft die Staatsfrage), so macht er klar: Für den sozial(istisch)-ökologischen Umbau braucht es einen Plan. Und das im doppelten Sinne. Im Ringen um eine bessere und zukunftsträchtige, daher notwendig nachhaltige Gesellschaft ist die Linke aktuell nicht die verlässlichste Ansprechpartnerin und der Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus nicht glaubwürdig genug. Dieser Verlust des Utopischen – verbunden mit der andauernden Hegemonie der fossilen, kapitalistischen Ordnung – macht eine grosse Schwäche der Linken aus und schlägt sich realpolitisch nieder.

Von der Wissenschaft zur Utopie

Vielerorts vergegenwärtigt sich die Klimakrise, Kassandrarufe schallen durch die Gesellschaft. ZEIT-Redakteur Bernd Ulrich fragte sich vor Kurzem, warum sich die Literatur angesichts der existenziellen „Krise im Mensch-Natur-Verhältnis“ so wenig mit der Klimakrise auseinandersetze (Nr. 43/ 2021). Die verdrängte Zukunft müsse erzählt werden. Der scheinbare Widerspruch weist auf das neu auszurichtende Denken und Handeln der Gesellschaft hin. Man darf sich nicht dem Dystopismus hingeben. Aber was ist das Schreiben der Utopie inmitten einer blühenden Sachbuchlandschaft zum Klimawandel? Hatte man sich in der Linken bereits vom theoretischen Ballast des anti-utopischen Bilderverbots befreit – gleichzeitig vermied man den selbstbewussten Gebrauch des Sozialismusbegriffs – so schafft gerade die Klimakrise einen Raum zum Denken und Handeln. In ihr bietet sich die Gelegenheit, die Utopie des Sozialismus zu konkretisieren. Der Marxismus und die Sozialwissenschaften haben längst begonnen, sich verstärkt der Krise des Klimas zu widmen. Was fehlt, ist nicht mehr die Analyse, sondern die strategische Perspektive innerhalb der Krise zur Organisierung einer anderen Zukunft.

Klaus Dörre wagt den Blick in die Zukunft und liefert überzeugende Argumente und den Anfang eines Konzepts zur Abwehr der drohenden Katastrophe. Auch das ist utopisches Schreiben, oder vielleicht eher die Ausformulierung einer Art Zwischenutopie. Die befreite Gesellschaft braucht man sich für die konkreten transformatorischen Aufgaben gar nicht en detail auszumalen.

Der Griff nach dem Kompass

Es ist fraglich, ob das für einen Essay doch sehr wissenschaftlich verfasste Buch seinem Untertitel gänzlich gerecht wird. Kann es auch der Klimabewegung, der Dörre das Buch widmet, als „Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution“ dienen? Müssen die Bewegungen nicht womöglich einen anderen als den von Dörre vorgezeichneten Weg gehen? Die drängenden strategischen Fragen der Klimabewegung erscheinen bei Dörre nur am Rande, auch wenn er wiederholt die unmögliche Umsetzbarkeit ohne Druck der Bewegungen betont. Zwischen Bewegung und Wissenschaft bleibt der Austausch weiterhin nötig, um sich der Utopie statt der drohenden Katastrophe anzunehmen.

Wenn der Klimawandel menschengemacht ist, so ist es auch der Mensch, der sich dem Abwenden der Katastrophe zu widmen hat. Klaus Dörre zeigt, dass es dafür den Sozialismus braucht. Er müsste für die Bewältigung der ökologischen Krise aber mehr sein als der oft zitierte Benjaminsche Griff nach „der Notbremse“. Er müsste nämlich ein Weichensteller sein und den sozial-ökologischen Umbau in die Wege leiten. Dörre weist nachdrücklich auf diese Herausforderung hin. Um sich Aussicht auf Erfolg und nicht zuletzt Hoffnung in diesem grossen gesellschaftlichen Konflikt zu sichern, braucht die Linke Handlungsperspektiven. Sie muss sich dieser Herausforderung annehmen. Schon zu viele Signale wurden vom rasenden Zug ignoriert.

Thore Freitag
kritisch-lesen.de

Klaus Dörre: Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution. Matthes & Seitz, Berlin 2021. 345 Seiten. ca. 29.00 SFr. ISBN 978-3-7518-0328-1

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.