Jean-Philipp Kindler: Scheiss auf Selflove, gib mir Klassenkampf Politik – mimimi

Sachliteratur
Der folgende Beitrag ist übermässig polemisch. Denn wer so wie Kindler austeilt, soll auch Gegenwind ernten dürfen.


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Buchcover.

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Nichtsdestotrotz trifft er mit seinem Verlangen nach einer Vereindeutigung der Verhältnisse und einem Bruch mit dem neoliberalen Spektakel-Kapitalismus den Puls der Zeit einer jüngeren Generation, die es statt hat, fragend voranzuschreiten, sondern nach orientierenden Antworten verlangt. Und solche liebt Kindler offensichtlich gerne zu formulieren – gegen die Larifari-Hin-und-Hergerissenheit unter dem er selbst zu leiden scheint, setzt er auf Allerweltsweisheiten, auf die er sich verlassen kann.
Ein wesentliches Problem des Autoren scheint zu sein, dass er selbst zu lange auf social media versackt und die bei Instagram oder X abgesetzten posts, die Profile auf Tinder oder Beiträge, die er bei einer google-Suchanfrage findet, für bare Realität nimmt. Damit entspricht seine Realitätsdeutung gerade jenen Phänomenen, die er zu kritisieren glaubt. Dass sich dies auf den Lesebühnen der Bundesrepublik gut macht und verkaufen lässt, versteht sich dabei von selbst. Immerhin gilt es ein Publikum zu adressieren, dass sich in der Zuhörer*innen-Rolle noch von jenen Linken abgrenzen möchte, zu denen es selbst im Grunde genommen nie zählte. Kulturinteressierte Bauchgefühlslinke wollen gerne hören, was andere alles verkackt hätten, warum Dreadlocks schon immer hässlich waren und Selbstorganisation langweilig ist.
Kindler bedient Klischees, so weit das Auge reicht. Die wiederholt angeprangerten „unterbesetzten“, vermeintlich verrauchten, Plena in lokalen AZs hat er doch niemals besucht. Viel zu mühselig und zu langwierig wäre ihm die aktivistische Basisarbeit. Vor allem würde diese seinem unermüdlichem Geltungsdrang zuwider laufen. Daher wertet er engagierte Menschen lieber ab, versteht aber über seine oberflächlichen Betrachtungen hinaus kaum etwas, was diese wirklich bewegt. Eine opportunistischere Haltung als Personen, die man gar nicht kennt, die Radikalität, Ernsthaftigkeit und Überzeugung abzusprechen, gibt es wohl kaum. Von sozialdemokratisch-konservativen Linken wird Kindler allerdings gefeiert, weil er deren eingewöhnte Versagerhaltung bestätigt und bedient. Sich auf Mark Fisher zu beziehen, passt dazu wie die Faust auf's Auge. Und wer die Gesamtscheisse so affirmiert, kann dabei schliesslich nur dabei herauskommen, an den starken Staat zu appellieren. Die Linkspartei oder BSW sollen seine besseren Verwalter darstellen und auf das kleinbürgerliche Ressentiment eingehen.
Doch eigentlich wollte ich Kindlers Buch auch noch inhaltlich kritisieren. Sein wesentliches Defizit besteht im völlig verkürzten Politikverständnis, aus welchem ein kauziger Voluntarismus folgt, der dann wieder an den systemischen Gegebenheiten vorprogrammiert scheitern und daher an den starken Staat appellieren muss. Der Autor meint alles repolitisieren zu müssen: Armut, Glück, Klimakrise, Demokratie, Linkssein und schliesslich auch noch das gute Leben. Und darunter versteht er im Wesentlichen wiederum: Der Staat soll sich um diese Probleme kümmern. Denn es sei „der“ Neoliberalismus, welcher diese Themenfelder alle individualisieren und somit die gesellschaftliche Verantwortung von Menschen füreinander auflöse.
Das ist zwar völlig richtig – Kindler versteht nur nicht, dass es kein Zurück zu den vermeintlich heilen siebziger und achtziger Jahren vor seiner Geburt gibt – dorthin, wo Migrant*innen eben noch Migrant*innen waren, anstatt dass diese teilweise sozial aufsteigen, während neue Migrant*innen dazu kommen und die sozialen Probleme insgesamt weiter bestehen. Kindler findet auch diesen ganzen Gender-Gaga unsinnig. Der hätte zwar irgendwas mit Emanzipation zu tun – letztendlich würden wir doch aber alle nur das Eine wollen: In die Hände spucken und alles „repolitisieren“. Was genau mit diesem Zauberwort gemeint sein soll, bleibt für den Komiker aber offenbar selbst völlig klar, was nicht überrascht, schliesslich bleibt er auf theoretischer Ebene ja auch sonst bloss oberflächlich.
Eine Vision, wie wir eine andere Gesellschaftsform erkämpfen und aufbauen können, ergibt sich aus dem konservativ-sozialdemokratischen Rumgejammer jedenfalls nicht. Dass soll sie ja auch nicht, denn sonst müsste man sich mit bereits bestehenden gesellschaftlichen Alternativen und Lebensweisen auseinandersetzen. Und man müsste sich mit anderen Strukturen der politischen Organisation von Gemeinwesen, abseits der von Kindler affirmierten linken Regierungspolitik, beschäftigen. All dies aber wäre weit anstrengender, als sich in linkem Selbsthass zu weiden.
Vor solchen Linken, die Kindler repräsentiert und die er adressiert, kann man zurecht nur das Weite suchen. Es gibt nichts unlustvolleres, als sich mit ihnen gemein zu machen. Und an der Klassengesellschaft ändert diese Identitäts-bezogene Selbstbespassung ebenso wenig. Pöbeleien gegen Christian Lindner hin oder her.
Insofern hoffe ich inständig: Gebt dem armen Jungen Klassenkampf, damit er nicht mehr auf Selflove scheissen muss!
Jean-Philipp Kindler: Scheiss auf Selflove, gib mir Klassenkampf Wissenschaftliche Rowohlt Verlag 2023. 160 Seiten. ca. SFr. 15.00. ISBN: 978-3-499-01299-0.