Jan-Hendrik Schulz: Unbeugsam hinter Gittern. Die Hungerstreiks der RAF nach dem Deutschen Herbst. Vernichtungshaft

Sachliteratur

Die letzten drei Hungerstreiks der RAF deckten zerstörerische Haftpraktiken auf und führten zu einer grossen gesellschaftlichen Solidarität.

Blick aus dem Hauptgebäude JVA Fuhlsbüttel. Hier starb der RAF-Gefangene Sigurd Debus im April 1981 an den Folgen der Zwangsernährung.
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Blick aus dem Hauptgebäude JVA Fuhlsbüttel. Hier starb der RAF-Gefangene Sigurd Debus im April 1981 an den Folgen der Zwangsernährung. Foto: GeoTrinity (CC BY-SA 3.0 cropped)

5. Juli 2021
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Die Rote-Armee-Fraktion (RAF) ist nun offiziell historisch. Primärquellen wie Haftunterlagen, archivierte Briefe oder Aufrufe sind der geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung zugänglich − Verfassungsschutz ausgenommen.

Jan-Hendrik Schulz widmet sich in seinem 2019 erschienenen Buch den kollektiv geführten RAF-Hungerstreiks (HS) nach dem Deutschen Herbst von 1977 bis 1989. Er fragt, wie es den RAF-Gefangenen gelang, mit ihren HS-Kampagnen erhebliche gesellschaftliche Unterstützung zu generieren. Zudem stellte er diese dem Misserfolg der französischen Genoss*innen der Action Directe gegenüber. Mit den HS forderten die Inhaftierten die Auflösung der Hochsicherheitstrakte, ein Ende der Einzelisolation, Zusammenlegung in Gruppen und die Entlassung der haftuntauglichen Günter Sonnenberg und Bernd Rössner.

Schulz skizziert nuanciert die unterschiedlichen und teils konträren Standpunkte und Interessen der Hauptakteur*innen: der Gefangenen der RAF, deren Angehörigen, der in der Illegalität Befindlichen, der linksradikalen Antiimperialistischen Front, den autonomen Militanten und der linksliberalen Sympathisant*innen. Auch auf staatlicher Ebene variierten die Haltungen zwischen Ministerpräsidenten und Justizministern, und spaltete die Grünen um Bürobesetzungen und Antje Vollmers Dialoginitiative. Schulz schildert kenntnisreich die internen Diskussionen, die Rolle des Umfelds und der direkt Involvierten ausserhalb der Gefängnisse sowie die unterschiedlichen Strategien der HS in den '80er Jahren.

Hungerstreiks von 1981, 1984/85 und 1989

Mitte April 1981 starb Sigurd Debus infolge der an ihm praktizierten Zwangsernährung. Daraufhin wurde dieser HS abgebrochen, an dem sich 25 von 33 politischen Gefangenen beteiligt hatten. Die Bundesregierung brach die dünne Vertrauensbasis und liess sich nicht einmal auf die Minimalforderungen ein, „sämtliche Inhaftierten aus der Isolation zu holen und die Mehrheit derjenigen, die das wollte, in Gruppen zu inhaftieren“ (S. 224). Zudem signalisierte der Tod von Debus, so Schulz, dass der Staat weiterhin bereit war, über Leichen zu gehen. Bereits 1974 wurde der Tod von Holger Meins in Kauf genommen, der – bis aufs Skelett abgemagert – an der Zwangsernährung im Gefängnis starb.

Im Jahr 1981 zerbricht der behandelnde Arzt und Medizinaldirektor der JVA Berlin-Moabit, Dr. Volker Leschhorn, an der „persönlichen Demütigung“ und staatlichen Intervention in seine Arbeit, die ihm bei seiner Betreuung der Inhaftierten widerfuhr. Die hungerstreikende Gabriele Rollnik von der Bewegung 2. Juni bezeichnet ihren Arzt „als den zweiten Toten aus dem '81er Hungerstreik“ (S. 177). Die Todesumstände von Debus sorgten für spontane militante Demonstrationen und beeinflussten auch die Entscheidung zur Rückkehr der Stadtguerilla mit bewaffnetem Kampf im Untergrund.

Während des HS 1984/85 kam anstelle der Folter durch Zwangsernährung die Koma-Lösung zur Anwendung. Auf die Forderung nach Zusammenlegung wurde nicht eingegangen, „da mit ‚Terroristen' nicht verhandelt werden könne“ (S. 62). Stattdessen liess man Knut Folkerts, nach mehr als 50 Tagen Nahrungsverweigerung und nahe dem Hungertod, ins Koma fallen, um ihn dann − im Zustand totaler Widerstandsunfähigkeit − medizinisch zu behandeln und bei fortgesetztem HS wieder auf den komatösen Zustand zu warten. 1985 schwebten Christian Klar, Knut Folkerts und in Berlin inhaftierte Frauen aus der Bewegung 2. Juni und der RAF in unmittelbarer Lebensgefahr. Die staatliche Seite verbat sich minimale Zugeständnisse gegenüber den Inhaftierten angesichts der „extrem gewalttätigen Aktionen“ draussen (S. 371). Den Streik der Gefangenen wertet Schulz als Mittel zum Zweck der im Untergrund Befindlichen, eine eigenständige Politik zu verfolgen, „die eine über den HS hinausgehende, militante Eigendynamik in Gang setzen sollte“ (S. 370).

Im Jahr 1989 änderten die Gefangenen die Strategie für den letzten kollektiven HS. Das Gefangenenprojekt war nicht länger an die Militanz im abstrakten internationalen Kampf gegen Faschismus und Imperialismus gekoppelt. Sie konzentrierten sich pragmatisch und im Lokalen auf die „Verbesserung der Kommunikations- und Lebensbedingungen im Gefängnis“ (S. 588) und erklärten das Ende des bewaffneten Kampfes. Dieser HS entfaltete eine bemerkenswerte Mobilisierungskraft.

An der bundesweiten Solidaritätsdemonstration in Bonn am 29. April 1989 nahmen knapp 10.000 Menschen teil, auch weil die staatliche Kriminalisierung der linken Protest- und Widerstandsbewegung ausuferte. 70 soziale Gefangene schlossen sich solidarisch den HS der politischen Gefangenen an. Als beachtlich wertet Schulz die Fähigkeit der RAF-Gefangenen, trotz der „beschränkten Kommunikationsmöglichkeiten einen gesellschaftlichen Mobilisierungs- und Verhandlungsprozess“ in Gang zu setzen und „eine stabile Verhandlungsposition mit staatlichen Stellen erreicht zu haben“ (S. 559). Die realistische Zusammenlegung scheiterte letztendlich an der − unbeugsamen − Blockadehaltung der CDU-geführten Bundesländer gegenüber dem Kompromissvorschlag, womit „letztendlich eine historische Chance zur Lösung des Terrorismusproblems in der Bundesrepublik verpasst“ (S. 560) wurde.

Vernichtungshaft

Jan-Hendrik Schulz hat das komplexe Thema der RAF-HS unter penibler Auswertung der zugänglichen Quellen mit Fokus auf die letzten drei grossen HS sachlich, fundiert und unbefangen aufgearbeitet. Es ist der Beginn der Auseinandersetzung mit einem Aspekt der Geschichte der Bundesrepublik, der bisher kaum thematisiert wurde: Darf ein demokratischer Rechtsstaat Inhaftierte foltern?

Dem Buch mangelt es nur an Benennung der repressiven Haftbedingungen − Dauereinzelisolation, Schläge, Schlafentzug, Schallschutzzellen, Rollkommando, Bunkerzelle mit fixierender Foltervorrichtung − oder zumindest ein Verweis auf Literatur dazu. So erweckt Schulz den Eindruck, die Skandalisierung der Vernichtungshaft und Isolationsfolter sei nur zur politischen Mobilisierung genutzt worden. Zur schädigenden Unterbringung vor dem Deutschen Herbst benennt Schulz beispielsweise Fachgutachten, die auf die „negativen Auswirkungen der Einzel- und Kleingruppenisolation auf die Psyche der Inhaftierten“ hinwiesen und die medizinische Kenntnis der zerstörerischen Isolationshaft bezeugten. Schulz macht deutlich, dass staatlicherseits die Auffassung herrschte, dass die Hochsicherheitstrakte unmenschlich, aber notwendig seien. Ulrike Meinhofs „Selbstmord“ im Mai 1976 stand am Ende von vier Jahren Isolationshaft.

Trotz dieser Kenntnisse wird weiterhin intensiv in zerstörende Haftpraktiken investiert. In den vergangenen Jahrzehnten überlebten durchschnittlich 180 Menschen pro Jahr die Haftbedingungen in deutschen Gefängnissen nicht, die meisten in Isolation. Der Entzug von Kommunikation und Gemeinschaft − wie von den RAF-Gefangenen beanstandet und laut UN-Mindestgrundsätzen zur Behandlung von Gefangenen (den Nelson-Mandela-Gefängnis-Regeln) Mindestrechte − ist unmenschlich. Eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Gefängnis-Frage sowie mit der Verantwortung für Todesfälle und Langzeitschäden, die Inhaftierung verursachen, steht aus.

Sonja John
kritisch-lesen.de

Jan-Hendrik Schulz: Unbeugsam hinter Gittern. Die Hungerstreiks der RAF nach dem Deutschen Herbst. Campus Verlag, Frankfurt 2019. 590 Seiten. ca. 64.00 SFr. ISBN 978-3-593-50681-4

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