Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn (Hg.): Lenin150 Make Lenin great again?

Sachliteratur

Ein Buch zum 150. Geburtstag des russischen Revolutionärs aktualisiert Lenin für linkes Denken und Handeln von heute.

W.I.Lenin, N.I.Bucharin und G.J. Sinowjew während einer Diskussion auf dem 2. Kongress der Komintern in Moskau am 19. Juli 1920.
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W.I.Lenin, N.I.Bucharin und G.J. Sinowjew während einer Diskussion auf dem 2. Kongress der Komintern in Moskau am 19. Juli 1920. Foto: Unbekannter Autor (PD)

30. Dezember 2022
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In einem Adventskalender für „wagemutige Frauen“ wird Rosa Luxemburgs als „Bürgerrechtlerin“ bezeichnet. In Trier gehört Karl Marx mittlerweile zum offiziellen Stadtbild und sein Geburtshaus sogar der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung. Beide würden sich angesichts dieser Vereinnahmung und des „Softwashings“, also des Zähmens und Einpassens ihres revolutionären Denkens und Handelns, im Grabe umdrehen.

Wladimir Iljitsch Lenin ist das (bislang – und vielleicht auch glücklicherweise) nicht passiert. Noch heute ist er Schreckgespenst und Buhmann für viele BürgerInnen. Sie denken mit Furcht an eine der ersten erfolgreichen Revolutionen, die die Produktions- und Eigentumsverhältnisse im Sinne der arbeitenden Menschen vom Kopf auf die Füsse gestellt hat. Dies ermöglicht es heute, sich Lenin aus einer revolutionären und kritischen Perspektive zuzuwenden, ohne ihn erst vom Schutt des „Softwashings“ befreien zu müssen.

Hommage aus den Kämpfen von heute

Das von Hjalmar Joffre-Eichhorn, Patrick Anderson und Johann Salazar herausgegebene Buch „Lenin 150 (Samizdat)“ sammelt Stimmen aus der ganzen Welt, die dem Politiker und Theoretiker nicht einfach nur gedenken, sondern versuchen, ihn mit Themen zu verknüpfen, die die weltweite Linke heute beschäftigt. Angesichts der weiteren Entwicklung des ersten sozialistischen Versuches nach Lenins viel zu frühem Tod im Januar 1924 ist klar, dass dies eine kritische Auseinandersetzung erfordert. Dafür steht schon der Zusatz „Samizdat“ im Titel des Buches. Es ist der russische Begriff für Selbstverlag und bezeichnet zugleich die Verbreitung alternativer, nicht systemkonformer Literatur zu Zeiten der UdSSR.

27 AutorInnen, die in den intellektuellen und politischen Kämpfen des 21. Jahrhunderts aktiv sind (neben Trotzki, der 1940 durch einen Agenten Stalins ermordet wurde und ebenfalls Raum im Buch erhält) haben sich die Zeit genommen, exklusiv für diesen Sammelband ihre Gedanken zu Lenin auf Papier zu bringen: Unter ihnen Tora Lane, die an der Södertörn-Universität zu russischem Modernismus forscht, Vashna Jagarnath, die im Vorstand der südafrikanischen Metallarbeitergewerkschaft NUMSA arbeitet, und Mohira Suyarkulova, eine queere Kommunistin aus Bischkek in Kirgisistan. Bewusst wurden hier die einem deutschsprachigen Publikum nicht so bekannten Namen genannt, doch natürlich dürfen auch Personen wie Alain Badiou, Michael Brie, Jodi Dean und Slavoj Zizek nicht fehlen. Dass die Beschäftigung mit Lenin nicht nur eine eurozentristische sein muss und sein bis heute anhaltender Einfluss sich über die ganze Welt erstreckt, belegen weitere Beiträge aus Lateinamerika, Afrika und Asien.

Das Buch ist dabei kein trockener Theorieschinken, sondern mit zahlreichen Aufnahmen von Lenin-Monumenten bebildert, die bis heute in Kirgisistan das öffentliche Bild prägen. Eine Reise in das zentralasiatische Land brachte die Herausgeber überhaupt erst auf die Idee, einen solchen Band zum 150. Geburtstag Lenins in Angriff zu nehmen. Auch Gedichte lockern den Lesefluss auf, so zum ersten Mal übersetzte Arbeiten des kirgisischen revolutionären Dichters Joomart Bokonbaev (1910-1944) oder Bertolt Brechts „An die Nachgeborenen“, dass sich in einer englischen Übersetzung noch einmal ganz anders liest.

Auch wenn es im Sammelband Beiträge gibt, die Lenin etwas zu sehr romantisieren (etwa der von Wang Hui aus Peking), überwiegt die kritisch-solidarische Beschäftigung mit dem russischen Revolutionär. Unter den AutorInnen ist etwa Thomas Rudhof-Seibert vom Institut Solidarische Moderne, der sich den elf Thesen von Lenin in Zeiten von Corona nähert und fragt „Was tun?“. Er warnt vor der Falle eines reinen Ökonomismus, der die arbeitenden Menschen in den Fängen der „dictatorship of the bourgeoisie“ (S. 180) halten würde. Es käme, so der Autor, auf radikale politische Veränderungen an: Aufgabe von AktivistInnen sei es, spontane ökonomische Forderungen in radikal politische zu verwandeln. Es gehe – in Bezugnahme auf Lenin – um die Politisierung der proletarischen Existenz. Angesichts des Strukturkonservatismus einiger grosser Gewerkschaften in Deutschland in Bezug auf die Klimakatastrophe ist das also ein Beitrag, der Beachtung finden sollte.

Make Lenin Lenin again?

Georgy Mamedov, kommunistischer LGBT-Aktivist aus Bischkek, beschäftigt sich aus leninistischer Perspektive mit heutiger Identitätspolitik. Lenin analysiert in seiner Schrift „Zur Frage der Nationalitäten oder der ‚Autonomisierung'“ aus dem Jahr 1922 den Widerspruch „zwischen der Solidarität der Arbeiterklasse und den historisch gewachsenen Spaltungen innerhalb der multiethnischen und multikulturellen Bevölkerung des ehemaligen russischen Imperiums“ (S. 115, Übersetzung KS). Darin schlägt Lenin drei Prinzipien des Umgangs vor, die auch für die heutige Debatte fruchtbar gemacht werden könnten: proletarischer Internationalismus, die Nicht-Assimilierung und die Ungleichheit des Unterdrückers. Auch in queeren Kämpfen ginge es, so Mamedov, darum, sich der heteronormativen Gleichmacherei queerer Körper entgegenzustellen – so wie damals die Assimilierung der verschiedenen Völker der Sowjetunion in die dominante russische Identität verhindert werden musste. Bei der Unterscheidung zwischen unterdrückenden und unterdrückten Nationen gehe es um eine Politik der „affirmative action“ gegenüber nationalen Minderheiten (die von Lenin befürwortet, aber dann in den frühen 1930er Jahren von einer Kampagne grossrussischen Chauvinismus' abgelöst wurde).

Bezogen auf identitätspolitische Kämpfe heute, geht es, so der Autor, um eine „eine Politik der Wiedergutmachung und der Umverteilung materieller Ressourcen, die unser Verständnis von Identitätspolitik radikal von einem rein repräsentativen zu einem polit-ökonomischen verschiebt“ (S. 121, Übersetzung KS). Sollte dieser Politikansatz Wirkung entfalten, ist, angesichts von „Cancel Culture“-Debatten von rechts, gesichert, dass Lenin nicht vereinnahmt werden kann und Bürgerschreck bleibt – diesmal im Gewand revolutionärer Identitätspolitik.

Am Ende seines Beitrages fragt Mamedov, ob es an der Zeit wäre „to ‚make Lenin great again'?“ Die wichtigste Konsequenz, die revolutionäre MarxistInnen heutzutage jedoch aus Lenin ziehen müssten, sei, dass keine noch so radikale und kompromisslose Theorie der Vergangenheit eine einfache Blaupause für das Handeln unter den gegenwärtigen Umständen bietet. Konkrete Widersprüche benötigen konkrete Lösungen, die nur mit dialektischer Nüchternheit – wie Lenin es gezeigt hat – erarbeitet werden könnten. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Kerem Schamberger
kritisch-lesen.de

Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn (Hg.): Lenin150 (Samizdat). 2nd expanded edition. 2. Auflage. Daraja Press, Wakefield 2021. 344 Seiten, ca. SFr 18.00. ISBN 978-3-00-066212-6

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