Harald Welzer: Die smarte Diktatur Machttechnologien und unser Selbstverständnis

Sachliteratur

Heute schon nach einem neuen „disruptiven Bett“ oder einer App für den Wasserhahn Ausschau gehalten oder sich vom smarten Gerät am Arm dazu überzeugen lassen, vier Runden um den Block zu laufen?

„Smarte Diktatur“: Machttechnologien und unser Selbstverständnis.
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„Smarte Diktatur“: Machttechnologien und unser Selbstverständnis. Foto: Gareth Halfacree (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

10. Mai 2016
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Ob ja oder nein: Es kann nicht schaden, sich Gedanken zu machen über die Digitalkultur, das Effizienzdenken und die Freiheit, die man sich selbst zumuten kann.

Das hat der Sozialwissenschaftler Harald Welzer getan. Anlässlich des Erscheinens seinen neuen Buchs „Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit“ (S. Fischer) hat er in einem Gespräch mit Richard David Precht in Berlin seine Thesen diskutiert und im „Spiegel“ ein Essay veröffentlicht:Die digitale Diktatur. Und wie man sie bekämpft. (Paywall, Print Nr. 17, S. 128f.) Es ist eigentlich kein Essay, mehr eine Mischung aus Polemik und praktischer Lebenshilfe:

«Alles, was unseren zivilisatorischen Standard geschaffen hat und sichert, […] hat mit Algorithmen nichts zu tun. Also glauben Sie den ganzen Quatsch nicht. Bitte. Und glauben Sie auch den ganzen anderen Käse nicht, den die Verkäufer der smarten Welt Ihnen andrehen wollen: dass Sie ohne GPS nicht überleben könnten und ohne Netflix keine Filme sehen könnten und ohne App sich nicht die Schuhe zubinden könnten. (Hervorhebung vom Autor)»

Wenn man nun annehmen könnte, Welzer sei eine Art Digitalfeind mit Wut im Bauch, überzeugt sein Buch zwar nicht gänzlich vom Gegenteil. Es liefert aber anregende, manchmal anekdotenhafte Einsichten in unsere Digitalkultur, die Sicht auf demokratische Grundwerte unter digitalen Bedingungen, die Radikalisierung des Kapitalismus und den praktischen Konsumismus.

Seine im „Spiegel“ und im neuen Buch dargebotenen Regeln für „Systemstörungen“ und wie man sich dem Datenwust entzieht, stehen am Schluss seiner Ausführungen und sollen politisieren. Denn Welzer geht es explizit um die Politisierung des Themas, die er als Intention für sein Engagement nennt. Wer Welzers frühere Bücher gelesen hat oder ihn kennt, den wird das nicht überraschen.

Seine Ideen zum Widerstand können allerdings nicht durchweg überzeugen, etwa wenn Welzer dem weitverbreiteten Irrglauben anhängt, man müsse nur die „Menge der Daten exponentiell erhöhen“, dann würden die Geheimdienste schon daran ersticken. Dennoch regen seine Ideen zum Nachdenken an, auch wegen der aktuellen EU-Pläne, nach denen Filterung und Überwachung direkt auf den kommerziellen Plattformen durchgeführt und damit privatisiert werden sollen, und wegen der strukturellen Veränderungen im Journalismus.

Precht bemängelte im Gespräch zu Recht, dass ein paar Ideen zum Widerstand noch keine politische Agenda seien. Dem entgegnet Welzer: Das Gemeinwesen sei zwar „in Erosion begriffen“, die sei aber nicht zwangsläufig, denn eine Re-Politisierung sei möglich und jede Gesellschaft veränderbar. Es sei ja nicht so, dass wir irgendwie bedroht würden, wir gezwungen würden, mit unseren Daten hausieren zu gehen. Dass wir sie einfach freiwillig weggeben, findet Welzer „erbärmlich“:

«Man sollte sich seine Freiheit nicht abkaufen lassen.»

Welzer schreibt darüber, wie wir uns nicht nur die Freiheit, sondern auch die Autonomie abkaufen lassen, um als „dusselige Kleinkinder“ zu enden. Und er benennt auch die Zusammenhänge zu den geheimdienstlichen Schattenwelten:

«Natürlich ergibt die Kombination der Überwachungs- und Ausforschungsbedürfnisse von Geheimdiensten mit der uferlosen Datensammelwut von Unternehmen aus kommerziellen Gründen die unheilvollste Allianz, die man sich überhaupt vorstellen kann: Beides zusammen macht die einzelne Bürgerin und den einzelnen Bürger vollkommen wehrlos gegenüber den allfälligen Zugriffsmöglichkeiten auf ihr Inneres von Aussen. (S. 35)»

Die Freiheit, eine andere Zukunft anzustreben

Dagegen müsse man politische Argumente und vor allem andere Zukunftsentwürfe finden und konkrete Vorstellungen dieser alternativen Zukunft entwickeln. Schliesslich biete die Digitalisierung genug Potential für positive Utopien, und die Freiheit, eine andere Zukunft anzustreben, haben wir auch. Oder?

«Aber das Problem ist: Diese Freiheit, die Handlungsspielräume eröffnet und zugleich für ihre Verteidigung braucht, ist heute radikal gefährdet – durch ökologischen Stress, durch räuberische Formationen, durch autokratische Regierungsformen, durch Überwachung und durch Hyperkonsum. Das heisst: Es geht schon nicht mehr um die Frage, wie wir, das sind Sie und ich, unsere Freiheit verteidigen und sichern können, sondern wie wir sie zurückerobern können. (S. 111ff.)»

Was dieser „Hyperkonsum“ ist und was die Verbindung zur Überwachung herstellt, erklärt Welzer so:

«Gesellschaften unseren Typs sind Hyperkonsumgesellschaften – ihre Bewohnerinnen und Bewohner sind unablässig damit beschäftigt, sich Produkte und Dienstleistungen zur Bewältigung ihres Alltags, zur Gestaltung ihrer Freizeit, zur Ermöglichung von Tauschgeschäften, zur Realisierung von Kommunikation zu kaufen. Wenn die Konsumakte und die damit verbundenen Informationssuchen online stattfinden, fallen exakt jene Daten an, die sowohl wirtschaftlich wie geheimdienstlich zur Durchleuchtung und Überwachung verwendet werden. Das bedeutet nicht nur, dass der aufwendige Schnüffelapparat der früheren Geheimdienstarbeit ersatzlos gestrichen werden kann, es bedeutet vor allem, dass die Überwachung deswegen lebenspraktisch nicht auffällt, weil sie mit positiv empfundenen Handlungen einhergeht, die der Überwachte selbst initiiert und vollzieht. (S. 133.)»

Das „Quantifizieren der Humanität“

Welzer beschreibt die dabei laufende „Umformatierung des Sozialen“ und die Änderung der Wertigkeit von Informationsaustausch, die zu einer vollständigen Veränderung beim Verhalten im öffentlichen Raum geführt haben und zugleich nicht nur den digitalen Raum monetarisiert, sondern auch viele private Bereiche ökonomisiert haben. Precht nannte das im Gespräch mit Welzer das „Quantifizieren der Humanität“, das moralisch bedenklich sei.

«Wir alle sind permanent sichtbar, also kontrollierbar, sehen aber nicht die, die uns sehen. Und noch etwas: Wir alle sind sichtbar, aber nicht füreinander. Diese Machttechnologie verändert unser Selbstverständnis: Wir verfügen über weniger Wissen über uns selbst als andere, die wir nicht einmal kennen. (S. 56)»

Da ist es wohl kein Zufall, dass Welzers Essay im „Spiegel“ mit der Machtfrage endet:

«Macht hat immer zwei Seiten: Man kann sie nur ausüben, wenn die Beherrschten zustimmen. Und hier ist dann Ende mit der smarten Diktatur.»

Constanze Kurz
netzpolitik.org

Harald Welzer: Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit. Fischer Verlag 2016. 320 Seiten. 25 SFr., ISBN 978-3100024916

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-SA 3.0) Lizenz.